63. Geküβt von einem Fremden
Von Barbara Cartland
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Buchvorschau
63. Geküβt von einem Fremden - Barbara Cartland
1 ~ 1871
»Leider ist Ihre Mutter nicht bei bester Gesundheit, Miss Brantforde«, sagte Sir William Jenner.
Damit hatte Davina gerechnet. Schweigend wartete sie, bis der Arzt der Königin weitersprach. Dabei sah sie ihn an.
»Kein Wunder, nachdem sie sich so überanstrengt hat! Und dazu kam noch die Angst um Ihren Vater.«
»Wenn wir doch bloß von ihm hören würden . . . Seit zwei Monaten haben wir keinen Brief bekommen.«
Sir William nickte.
»Das bedrückt Sie natürlich sehr. Jedenfalls müssen wir erst einmal dafür sorgen, daß Ihre Mutter wieder etwas optimistischer in die Welt blickt, und sie von ihren Sorgen ablenken.«
Davina hielt das für unmöglich, aber sie sprach es nicht aus.
»Ich habe mit ihrer Zofe geredet«, fuhr er fort. »Anscheinend ist sie eine sehr tüchtige Frau. Sie hat versichert, sie würde darauf achten, daß sich Ihre Mutter ungestört ausruhen kann, nur wenige Besucher empfängt und die Medizin nimmt, die ich ihr im Lauf dieses Tages schicken werde.«
»Sie waren sehr freundlich«, sagte Davina. »Mamas Zustand beunruhigt mich wirklich sehr.«
»Sehen Sie zu, daß Sie anständige, nahrhafte Mahlzeiten zu sich nimmt«, trug Sir William ihr auf, dann ging er zur Tür.
Davina folgte ihm. In der Halle lagen sein Zylinder, die Glacéhandschuhe und der Spazierstock bereit. Sanft tätschelte er die Schulter des jungen Mädchens.
»Kopf hoch, meine Liebe! Sobald Ihr Vater zurückkommt, wird sich bestimmt alles ändern.«
»Das bezweifle ich nicht. Vielen Dank für Ihren Besuch.«
Davina öffnete die Tür, und Sir William verließ das kleine Haus am Islington Square, um in seinen eleganten Zweispänner zu steigen. Ein Lakai schloß die Tür. Als der Fahrer das Gespann in Bewegung setzte, lüftete der Arzt den Hut.
Seufzend blickte Davina der Kutsche nach, bis sie aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Dann kehrte sie ins Haus zurück und schloß die Tür. Sie wußte, daß sie Sir William Jenner für diesen Besuch ein hohes Honorar bezahlen mußte. Aber in ihrer Sorge um die Mutter wollte sie keine Unkosten scheuen.
Er hatte ihr allerdings nichts mitteilen können, was sie noch nicht gewußt hätte. Lady Brantforde fehlte nichts weiter, als daß sie ihren Mann schmerzlich vermißte. Wenn er im Dienste des Außenministeriums geheime und gefährliche Missionen erfüllte, erhielt sie keine Nachricht von ihm. Und ihre Mutter befürchtete dann immer gleich das Schlimmste.
Was soll ich nur tun, fragte Davina sich. Dann erinnerte sie sich an ein anderes, sehr dringliches Problem: an die finanziellen Schwierigkeiten.
Sir Terence hatte als Diplomat gearbeitet, bevor er bei seiner Hochzeit in den Ruhestand getreten war. Aufgrund seiner umfassenden Fremdsprachenkenntnisse verließen sich die Beamten des Außenministeriums in heiklen Situationen immer noch auf seinen Beistand. Davinas Vater sprach nie über seine Missionen. Er reiste einfach in irgendein fernes Land, und sie wußte nicht, was er dort eigentlich machte.
Immerhin hatte sie herausgefunden, daß er vor vier Monaten zum Grafen Granville, dem Außenminister, gerufen worden war. Eine Woche später verschwand er.
Davina war jetzt achtzehn, und die Eltern hatten ihr eine Saison in London versprochen. In Abwesenheit des Vaters war es ihr und ihrer Mutter überlassen worden, das kleine Landhaus zu schließen. Zu Beginn des Jahres hatte Sir Terence ein preiswertes, recht hübsches Gebäude am Islington Square gemietet und Pläne für seine geliebte Tochter geschmiedet.
»Tut mir leid, mein Schatz, aber die Pflicht steht an erster Stelle«, hatte er am Abend vor seiner Abreise erklärt. »An diesen Grundsatz habe ich mich stets gehalten.«
»Natürlich mußt du deinen Auftrag erfüllen, Papa«, erwiderte sie. »Aber komm bitte so schnell wie möglich zurück! Ohne dich wäre London nur halb so schön.«
»Ich werde keinen Tag länger als unbedingt nötig fort sein«, beteuerte Sir Terence. »Das verspreche ich dir.«
Jetzt, im Juli, war die Saison praktisch vorbei, und Davina hatte keinen einzigen Ball oder Empfang besucht.
Zuerst hatte ihre Mutter einfach nur gewartet und geglaubt, Sir Terence würde jeden Moment zurückkehren. Sie war unfähig gewesen, der Gesellschaft ohne die Begleitung ihres Mannes gegenüberzutreten. Nur er kannte die richtigen Leute und war immer in Verbindung mit Persönlichkeiten geblieben, die - falls er darum gebeten hätte - seine Frau und seine Tochter bereitwillig einladen würden. Während er verreist war, wußten die beiden nichts mit sich anzufangen.
Nun hatten sich zwei Monate in London dahingeschleppt, und Davina wünschte inbrünstig, sie hätten das ländliche Heim nie verlassen. Dort konnte sie wenigstens reiten, und im Kreis ihrer Nachbarn hatte sie sich stets wohl gefühlt.
Die Tage zogen sich endlos hin, seit ihre Mutter immer verzagter wurde und sich für nichts interessierte, was außerhalb des Hauses geschah. Sie wartete nur noch auf den Postboten, weil sie hoffte, endlich einen Brief von ihrem Mann zu erhalten.
»Was hält ihn nur davon ab, uns zu schreiben?« fragte sie in einem fort, doch darauf gab es keine Antwort.
Davina betrat den kleinen Salon, wo sie sich mit ihrer Mutter aufzuhalten pflegte, wenn diese nicht im Schlafzimmer ruhte. Automatisch wanderte ihr Blick zu dem Stapel von Rechnungen auf dem Schreibtisch am Fenster.
Sir William hatte betont, ihre Mutter müßte die bestmögliche Nahrung bekommen. Aber gutes Essen war teuer. Hühner und junge Enten, die auf dem Land nur wenig kosteten, erzielten in London astronomische Preise, ebenso frische Eier, Butter und dicke Sahne.
Als würden die Rechnungen Davina magnetisch anziehen, ging sie zum Tisch und starrte darauf. Sir Terence hatte ihnen bei seiner Abreise eine beträchtliche Summe für den Haushalt übergeben, aber angenommen, daß er in einem, spätestens in zwei Monaten zurückkehren würde. Er hatte beabsichtigt, mit seiner Tochter die Rennen in Ascot zu besuchen, die Anfang Juni stattfanden, und für den Mai war die Teilnahme an einem distinguierten Empfang geplant worden.
Was kann nur passiert sein? überlegte sie, und ihre angstvollen Gedanken ließen sie schaudern. Doch dann sagte sie sich energisch, daß sie den Kopf nicht hängen lassen durfte, wenn sie ihre Mutter aufmuntern wollte.
Trotzdem konnte sie die Geldsorgen nicht verdrängen. Der Haushalt war nur klein. Auf die Köchin Bessie, die schon seit zwölf Jahren für die Brantfordes arbeitete, konnten sie nicht verzichten, ebenso wenig auf Amy, die bald ihren fünfzigsten Geburtstag feiern würde. Sie war zwei Jahre später als Bessie zu ihnen gekommen. Außerdem gab es noch Lady Brantfordes Zofe, Davinas ehemaliges Kindermädchen. Nanny gehörte zur Familie, ein Leben ohne sie war undenkbar.
Wir könnten aufs Land zurückfahren, erwog Davina. Aber wenn Papa hierherkommt und uns nicht antrifft, wird er böse sein. Er hat uns ausdrücklich gesagt, wir sollen in London auf ihn warten.
Sie wandte sich von den Rechnungen ab und schlenderte zum anderen Ende des Raumes. Dort blieb sie vor einem Aquarell stehen. Sie vermutete, daß der Eigentümer des Hauses es gemalt oder von einem Freund zum Geschenk erhalten hatte.
Es war kein besonders hübsches Bild, und plötzlich hörte sich Davina flüstern: »Das könnte ich besser.«
Und dann hatte sie eine Idee. Sie verstand nicht, warum sie nicht schon längst darauf gekommen war. Immerhin besaß sie zwei Talente - Malen und Nähen. Beim Gedanken an ihre künstlerischen Leistungen erinnerte sie sich an ihre Lehrerin. Wie dumm, daß sie während all der Monate in London keine Verbindung mit Lucy aufgenommen hatte . . . Das hatte sie stets vorgehabt. Doch sie hatte die Genesung ihrer Mutter abwarten wollen, ehe sie eine Droschke mieten und zu dem Modesalon nahe der Bond Street fahren wollte, der von Lucy Crofton geleitet wurde.
Ich werde Lucy sofort besuchen, entschied Davina und rannte die Treppe hinauf. Wie erwartet, machte Amy gerade im Schlafzimmer Ordnung.
»Setzen Sie Ihren Hut auf, Amy«, befahl Davina. »Wir gehen aus.«
»Dafür habe ich keine Zeit, Miss Davina. Und wo wollen Sie überhaupt hin?«
»Zu Miss Crofton. Sie erinnern sich doch an sie?«
»Natürlich!« knurrte Amy. »Eine große Dame ist das jetzt, nach allem, was man so hört. Viel zu vornehm, um Landleute von unserer Sorte zu empfangen.«
Sie sprach mit der Vertraulichkeit einer langjährigen Dienerin und bedachte nicht, daß Davina mittlerweile erwachsen war.
»Unsinn! Lucy wird sich freuen, mich wiederzusehen. Wenn du nicht mitkommst, gehe ich eben allein zu ihr.«
Davina wußte um die Wirksamkeit dieser Drohung. Ihre Mutter bestand darauf, daß sie in London niemals ohne Begleitung das Haus verließ.
Amy murmelte einen unverständlichen Protest vor sich hin und eilte aus dem Schlafzimmer, während Davina ihren Schrank öffnete. Sie nahm das schönste Kleid heraus, das sie sich genäht hatte und das eine hochelegante Tumüre aufwies. Dazu paßte ein attraktiver Hut mit Bändern, die sie unter dem Kinn verknotete.
Kritisch betrachtete sie sich im Spiegel. Sie war sehr schlank, weil sie sich in ihrer Heimat viel an der frischen Luft bewegt hatte. Auf den Pferden ihres Vaters war sie über die Felder galoppiert. Nach solchen Ausflügen hatte sie dem alten Reitknecht regelmäßig geholfen, die Tiere zu striegeln. Ihr herzförmiges Gesicht wurde von großen, taubengrauen Augen beherrscht. Diese Farbe war erstaunlich, denn zu dem blonden Haar und der hellen, durchscheinenden Haut hätten normalerweise blaue Augen gehört. Die schimmernden grauen Augen jedoch veranlaßten jeden, der Davina genauer musterte, zu der Erkenntnis, daß sie sich von anderen schönen Frauen unterschied. Sie besaß ein unwiderstehliches Lächeln, das von zwei Grübchen noch betont wurde.
Ihr Vater hatte einmal behauptet: »Du siehst aus wie eine Frühlingsfee, mein Liebling, und das ist das größte Kompliment, das ich dir machen kann.«
Davina verstand das nicht, aber Sir Terence dachte an die glückseligen Gefühle, die der Frühling seinem Herzen alljährlich bescherte. Er liebte das erste zarte Grün an den Bäumen, die Unschuld der Schneeglöckchen, die Reinheit der Primeln und den sanften, verführerischen Duft der Waldveilchen. In jedem Frühling fühlte er sich wieder jung und glaubte, die Welt wartete nur darauf, von ihm erobert zu werden.
Und weil er klug war, nahm er an, daß seine Tochter solche Gefühle irgendwann auch in einem anderen Mann wecken würde. Er selbst würde sie immer lieben, weil sie ihn inspirierte und ihm Erkenntnisse bescherte, die er zuvor nicht gekannt hatte.
Diese Sehnsucht hatte Davina von ihm geerbt. Für sie war die ganze Welt neu, aufregend und wundervoll. Doch zur Zeit hatte sie ein wenig Angst, weil sie auf den Beistand des Vaters verzichten mußte. Ihre Mutter war krank, und weil sie sich selbst überlassen blieb, wirkte London so groß und furchterregend auf sie.
Doch als Amy die Treppe herunterkam, waren Davinas Lebensgeister wieder erwacht, und sie konnte es kaum erwarten, ihr Vorhaben zu verwirklichen.
»Komm, Amy! Diesen weiten Weg können wir nicht zu Fuß bewältigen. Wir nehmen eine Droschke.«
»Stimmt was nicht