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Familiengeheimnis: Historischer Roman
Familiengeheimnis: Historischer Roman
Familiengeheimnis: Historischer Roman
eBook323 Seiten4 Stunden

Familiengeheimnis: Historischer Roman

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Über dieses E-Book

Sebastian Herrion, Lord Hertwood, recherchiert verdeckt im ländlichen Kent, um einem Freund zu helfen. Dabei entdeckt er Melinda de Lys, die Tochter des geizigen und bösartigen Viscount Lynet, und beschließt, sie aus ihrer prekären Situation zu retten. Die spontan geschlossene Ehe scheint aber mit den Recherchen für seinen Freund Mr. Lambeth zu kollidieren, während Sebastian feststellen muss, dass er sich in seine Ehefrau tatsächlich zu verlieben beginnt. Melinda aber misstraut ihrem geheimnisvollen Ehemann bald, obwohl sie sich ebenfalls verliebt hat, Sebastians Schwester Cecilia beginnt ebenfalls, sich gegen ihn zu wenden, und Melinda, die sich zunehmend weniger eingeschüchtert zeigt, wird von seltsamen Fremden (?) nicht nur einmal bedroht, bis sich schließlich alles zum Guten wendet und sogar Melinda und Cecilia endlich erfahren, worum es eigentlich gegangen ist.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum24. Juli 2018
ISBN9783746745572
Familiengeheimnis: Historischer Roman

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    Buchvorschau

    Familiengeheimnis - Catherine St.John

    cover.jpg

    Imprint

    Familiengeheimnis. Historischer Roman

    Catherine St.John

    published by: epubli GmbH, Berlin

    www.epubli.de

    Copyright: © 2017 R. John 85540 Haar

    Cover: Edmund Blair Leighton, Lady in a Garden

    ISBN 978-3-746745-57-2

    Kapitel 1

    „Muss das sein?, brummte Lord Lynet angesichts der Schüsseln auf der Dinnertafel. „Wir haben nicht einmal wichtigen Besuch, und trotzdem eine solche Verschwendung?

    „Immerhin sind wir zu viert, da sind vier kleine Gänge, von denen ohnehin niemand satt wird, doch wohl nicht zuviel", widersprach die Dame des Hauses.

    Ihr Mann warf ihr einen missvergnügten Blick zu und sagte nichts mehr; stattdessen zog er die Schüssel mit dem Rinderragout näher zu sich heran und tat sich großzügig auf. Allzu großzügig, fand seine Gemahlin, die aufgrund ihrer vornehmeren Abkunft, wie sie immer noch meinte, auch ein feineres Benehmen gewohnt war. Sie kommentierte sein Verhalten aber auch nicht weiter, sondern ergriff Schüssel und Vorlegelöffel und tat zuerst ihrer Jüngsten, Jane, auf, die ohnehin für ihre fünfzehn Jahre allzu klein und schmal war. Den kläglichen Rest teilte sie zwischen Melly, ihrer älteren Tochter, und sich selbst auf und nahm sich etwas Gemüse dazu.

    Jane aß mit gutem Appetit, Melly rührte unlustig auf ihrem Teller herum. Seine Lordschaft verzehrte seine Portion hastig und griff schon vor dem letzten Bissen nach der nächsten Schüssel.

    Walters, der mittlerweile fast achtzigjährige Butler, übernahm das Abräumen, obwohl es eigentlich unter seiner Würde war. Aber was sollte er machen? Sollte Ihre Ladyschaft etwa selbst die schmutzigen Teller in die Küche tragen? Oder die beiden jungen Damen? Seine Lordschaft war entweder sehr schlecht dran oder ausgesprochen geizig, denn sonst hätte er doch nicht beide Lakaien entlassen, dazu die Gärtner und fast alle Stallburschen! Nicht, dass in den Ställen noch viel zu tun gewesen wäre… Die Köchin, der Stallmeister und er selbst waren mittlerweile die einzigen Bediensteten auf Schloss Lynet. Im Gesindezimmer diskutierte man also mittlerweile nur noch zu dritt, ob der gnädige Herr bankrott oder geizig war. Er trug die geleerten Schüsseln zur Anrichte und deckte frische Teller auf. Mylady sicherte schließlich ihren Mädchen ein wenig vom Dessert, bevor ihr Gemahl sich über den Löwenanteil hermachte.

    Insgeheim wunderte Walters sich – der Viscount aß für drei, aber man sah nichts davon. Sicher ritt er täglich über den Besitz (und das musste recht deprimierend sein, dieser Verfall allenthalben), aber das hielt einen Gentleman in mittleren Jahren doch nicht so gut in Form? Vielleicht litt er an einer Krankheit, die ihn auszehrte?

    Dann waren Ihre Ladyschaft und die beiden Töchter aber arm dran, überlegte Walters nicht zum ersten Mal, während er mit jahrzehntelanger Routine abräumte und fragte: „Wäre das dann alles, Mylady?"

    Der Viscount bellte: „Den Brandy, Walters!"

    „Sehr wohl, Euer Lordschaft." Walters verneigte sich und brachte das Gewünschte, während seine Gedanken weiterliefen. Der Besitz war bis auf einen sehr bescheidenen Rest an den Titel gebunden und würde damit wohl an die Krone fallen, wenn der Viscount das Zeitliche segnete, nachdem der junge Mr. Benedict schon vor Jahrzehnten verschwunden war. Da blieb in solch vornehmen Familien eigentlich nur eins – man musste die beiden Mädchen gut verheiraten, damit sie nicht dem Elend preisgegeben würden.

    Mylady hob die Tafel auf und verließ, gefolgt von Miss de Lys und Miss Jane, das Speisezimmer. Walters schloss behutsam die Tür hinter ihnen und wandte sich wieder seinem Herrn zu. „Wünschen Sie noch etwas, Mylord?"

    Lord Lynet winkte ab und verließ ebenfalls das Speisezimmer, das Brandyglas noch in der Hand.

    Walters wandte sich dem halb abgeräumten Dinnertisch zu und sorgte mit routinierten Handgriffen für Ordnung, unterhalten von leisen Klavierklängen aus dem Salon.

    Aha, Miss de Lys versuchte sich wieder einmal an dieser verteufelten Haydn-Sonate und in wenigen Minuten würde sie an der Stelle scheitern, an der sie immer scheiterte…

    Als er die Dessertteller, die Gläser und die übrigen Reste nach draußen in Richtung Küchenquartier trug, zuckte er tatsächlich kurz zusammen, weil sich Miss de Lys an der üblichen Stelle vergriffen hatte; dann lächelte er mitleidig: Ein nettes Mädchen, aber leider weder besonders hübsch noch lebhaft. Es würde schwer halten, für sie eine annehmbare Partie zu finden, zumal in diesem abgelegenen Winkel von Kent, in dem von der Nähe zur Hauptstadt aber schon gar nichts zu spüren war.

    Vielleicht waren die beiden Mädchen aber auch nur so still und – rundheraus gesagt – langweilig, weil Seine Lordschaft sie so häufig kritisierte, und das in sehr liebloser Weise?

    Walters seufzte über diesen Gedanken und stellte das Tablett ab. Mrs. Riley lächelte ihm trübsinnig zu. „Nicht das, was wir früher gewöhnt waren, nicht wahr? So wenige Gänge, so kleine Portionen, keinerlei Überreste…"

    „Ich bezweifle, dass Ihre Ladyschaft und die jungen Damen auch nur annähernd satt geworden sind."

    „Und Seine Lordschaft hat es sich gut gehen lassen, möchte ich wetten!, schnaubte die Köchin. „Wo lässt er all das Essen bloß? Wenn ich so viel verdrücken würde, passte ich durch keine Tür mehr! Zur Bestätigung klopfte sie sich auf den deutlich gerundeten Bauch unter der gestärkten weißen Schürze.

    Walters brummte zustimmend und beschloss, die Damen im Salon nach ihren Wünschen zu fragen.

    Dort saß Lady Lynet auf einem Sofa, neben sich den Flickkorb, und griff bei Walters Eintritt hastig nach ihrem Stickrahmen. Auch Jane gab vor, sich mit einem Taschentuch zu beschäftigen, während Miss de Lys vor dem Pianoforte saß und deprimiert auf die Tasten starrte.

    „Melly, versuch´s bitte noch einmal! Du weißt doch, dein Vater…"

    „Ja, Mama. Sie begann wieder zu spielen und vergriff sich dieses Mal schon vor der üblichen Stelle. Ärgerlich ließ sie die Hände flach auf die Tasten fallen und erzeugte eine beeindruckende Dissonanz. „Ich kann nicht! Ich werde dieses entsetzliche Stück niemals fehlerfrei spielen können.

    Ihre Mutter seufzte. „Mein liebes Kind, dein Vater möchte, dass du dich in allen weiblichen Künsten versiert zeigst!"

    „Ich kann nicht spielen! Da sticke ich ja noch lieber", murrte Melinda mit überraschender Aufsässigkeit.

    „Du kannst dich ja wenigstens in der Aquarellmalerei versuchen, Melly, tröstete die kleine Jane ihre große Schwester, „erinnerst du dich an das Geschmiere, das ich gestern angestellt habe?

    Melinda musste kichern. „Sehr eindrucksvoll! Es sah aus wie eine Art Gemüseeintopf."

    „Und dabei sollte es die Landschaft hinter dem Schloss vorstellen", jammerte Jane in komischer Verzweiflung.

    Die Tür wurde aufgerissen und sofort beschäftigten sich alle drei Damen angelegentlich mit feinsten Stickereien; den Flickkorb hatte Mylady mit langjährigem Geschick zwischen zwei Sofakissen geschoben.

    „Keine Musik, Melinda?"

    Melinda erhob sich schicksalsergeben wieder, aber ihr Vater lächelte breit und winkte ab. „Du kannst morgen weiter üben. Ich habe eine Einladung erhalten!"

    Drei Augenpaare gestatteten sich ein vorsichtiges Aufleuchten – vielleicht musste er ja nach London und sie hätten mehrere Tage lang ein ruhiges Leben?

    „Es gibt einen Ball, bei den Nortons, in der Nähe von Lynham. Stephen Norton scheint sich verlobt zu haben… Er brummte unzufrieden. „Alle Welt verlobt sich, nur meine Tochter ist sich, scheint´s, zu gut dazu?

    Melinda ließ den Kopf hängen.

    „Jedenfalls werden wir zu dritt dort erscheinen und du wirst dir Mühe geben, mein Kind, hast du verstanden?"

    „Ja, Papa, murmelte Melinda, wobei sie konzentriert das Parkett zu ihren Füßen betrachtete. Er griff ihr unters Kinn und zwang sie so, ihn anzusehen: „Etwas mehr Eifer, meine Gute, sonst wird es dir leidtun!

    „J-ja, Papa."

    Lady Lynet, die sich die Szene mit zunehmendem Missfallen betrachtet hatte, räusperte sich. „Wann findet diese Veranstaltung denn statt? Und wie vornehm ist der Rahmen?"

    Ihr Gemahl betrachtete sie stirnrunzelnd. „Sehr vornehm. Seht also zu, dass ihr irgendein Ballkleid angemessen umarbeitet – ich will mich vor den Nortons und ihren Gästen nicht für euch schämen müssen. Vielleicht kommen sogar der Herzog und seine Familie!"

    „Wir werden uns bemühen", versprach Ihre Ladyschaft mit ärgerlicher Gelassenheit.

    „Der Herzog, sagte ich, betonte der Viscount. „Und Ashford ist nicht verheiratet. Ein reicher Junggeselle in den Dreißigern – etwas Besseres könnte dir nicht passieren, also verhalte dich entsprechend!

    Die Viscountess seufzte leise. Wie sollte das denn gehen? Melinda war ein so liebes Mädchen, aber etwas ängstlich und scheu - und wenn man ehrlich war, zwar durchaus nett anzusehen, aber wirklich keine Beauté. Einen Herzog, von dem alle Welt wusste, dass er kein zweites Mal heiraten wollte (er war nämlich kein Junggeselle, sondern Witwer!) konnte sie niemals für sich interessieren.

    Sie sandte ihrem Gemahl einen vorwurfsvollen Blick, aber der hob daraufhin die Augenbrauen und sagte: „Überlass das nur mir!"

    Melinda warf ihrem Vater einen scheuen, aber durchaus misstrauischen Seitenblick zu. Jane wirkte einfach nur ratlos.

    „Nächsten Samstag findet dieser Ball bei den Nortons statt. Bis dahin habt ihr beide euch ja wohl angemessen herausgeputzt. Und du – er warf einen Blick auf seine jüngere Tochter – „bleibst zu Hause.

    „Ja, Papa."

    Er stieß einen Knurrlaut aus und eilte in sein Arbeitszimmer, wo er missmutig die Papiere auf dem Schreibtisch beiseiteschob. Sein Blick fiel aber doch auf das oberste Blatt, eine Rechnung über fast dreißig Guineas für neue Stiefel. Die Stiefel hatte er gebraucht, wie sollte er sonst über die Felder reiten? Oder tagsüber irgendwo angemessen auftreten? Sollte er sich mit dem Plunder auf dem Dachboden ausstaffieren und sich in die alten seidenen Kniehosen mit passenden Strümpfen und ebenso alten Schnallenschuhen werfen, damit ihn alle Welt für ein Relikt aus der Zeit vor der Revolution hielt? Er machte sich doch nicht vor der ganzen Nachbarschaft lächerlich!

    Der Besitz warf einfach nicht genügend ab; sein Vater hatte ihm da eine hübsche Last hinterlassen.

    Natürlich hatte es damals so ausgesehen, als gäbe es einen einfachen Weg, aus der Misere heraus. Den üblichen Weg, nämlich die Suche nach einer reichen Erbin. Zunächst schien dies durchaus von Erfolg gekrönt zu sein: Die junge Lady Margaret Sophia Portney, die jüngste Tochter des Herzogs von Dunmore, sollte eines Tages einen hübschen Anteil am Dunmoreschen Vermögen erben. Ihre Mitgift hatte Lynet noch eine Zeitlang über Wasser gehalten, aber dann hatte dieser verflixte Dunmore tatsächlich noch einmal geheiratet – und das junge Ding, das er sich ausgesucht hatte, hatte ihn auch umgehend mit einem Erben und einem Reservesohn erfreut. Daraufhin hatte der alte Mistkerl natürlich sein Testament geändert; Margaret und ihre Schwestern hatten nun nur noch ein besseres Taschengeld zu erwarten.

    Nun, das hätte er natürlich auch getan, wenn er einen beträchtlichen Besitz zu vererben hätte und wenn Margaret ihre Pflicht gekannt und ihm auch zwei Söhne geschenkt hätte. Die beiden Mädchen waren ja völlig nutzlos!

    Wenn sie wenigstens hübsch wären, ärgerte er sich, während er sich einen Brandy einschenkte! Oder munter und geistreich.

    Oder zumindest so klug, dass sie einen annehmbaren Kandidaten vor den Altar locken konnten.

    Das langweilige Kind Jane war ohnehin noch zu nichts zu gebrauchen. Ein erbärmliches Geschöpf, so klein und mager… und Melinda, die längst verheiratet sein sollte, immerhin war sie schon neunzehn, war kaum besser: etwas größer als Jane, aber ebenfalls dünn, schüchtern und langweilig. Wer sollte sich schon für sie interessieren, vor allem, wenn man in Betracht zog, dass sie so gut wie nichts mitbekommen würde…

    Wenn er nur einen Sohn hätte!

    Er seufzte und schenkte sich nach.

    Für einen Sohn würde es sich lohnen, Lynet wieder zur Blüte zu bringen. Neue Methoden in der Landwirtschaft, sorgfältige Investitionen in den Finanzmarkt, nutzbringende geschäftliche Beziehungen von der Sorte, die einem Viscount nicht allzu schlecht zu Gesicht stand…

    Aber für die Krone?

    Es war ja erfreulich, dass Benedict damals verschwunden war, aber damals hatte er noch auf einen eigenen Sohn oder vielleicht sogar zwei gehofft. Da es keinen Erben gab, fiel der Besitz eben an die Krone zurück – und sollte er sparen, damit der Prinzregent noch mehr Geld verschwenden konnte?

    Margaret und die Mädchen mussten nach seinem Tod eben sehen, wo sie blieben! Margarets Wittum war so gering, dass sie kaum alleine davon leben konnte. Eigentlich war für sie nur diese Bruchbude an der Grundstücksgrenze, das ehemalige Dower House, vorgesehen – und monatlich eine bescheidene Lebensmittellieferung.

    Er schenkte sich erneut nach und grinste versonnen vor sich hin. Sollte seine nutzlose Ehefrau Kerzen oder gar ein Kleidungsstück haben wollen, müsste sie eben ihren eigenen Schmuck verkaufen – die spärlichen Reste davon. Die de Lys-Steine würden dann eine Mätresse Prinnys schmücken…

    Und die Mädchen? Für eine Stelle als Hausmädchen würde es bei ihnen gerade noch reichen, wenn sie sich nicht mehr Mühe gaben, endlich einen brauchbaren Ehemann zu angeln…

    Kapitel 2

    Bis zum Norton-Ball hatten Lady Lynet und Melinda fleißig genäht und nicht nur die feinen Abendhemden des Hausherrn wieder in einen tadellosen Zustand versetzt, sondern auch ihre eigenen  - recht betagten – Abendtoiletten geschickt aufgebessert. Mylady hatte auf dem Dachboden an einem überflüssigen Vorhang eine schmale goldene Borte entdeckt, die noch recht frisch wirkte, kaum vergilbt und auch ohne mürbe Fäden, die unschön wegstanden. Damit hatte sie ihr schwarzes Samtkleid mit der hohen Taille und dem schon recht unmodern schmalen Rock in einen durchaus vorzeigbaren Zustand versetzt.

    Das blassrosa Musselinkleid, in dem Melinda mittlerweile seit fast eineinhalb Jahren in Gesellschaft ging, hatte ein neues Mieder aus dem Rock von Lady Lynets Brautkleid erhalten und wirkte jetzt nahezu neu und der aktuellen Mode entsprechend. Der Stoff hatte sogar noch für eine hübsche rosa Brokatrose gereicht, die Melly im Haar tragen sollte. Übertriebener Schmuck ziemte sich für ein junges Mädchen schließlich ohnehin nicht!

    Einigermaßen zufrieden mit sich warteten die beiden Damen an dem großen Tag in der Halle auf den Viscount, um mit ihm zum Anwesen der Nortons zu fahren.

    „Wieviele Kinder haben die Nortons insgesamt, Mama?"

    Lady Lynet überlegte. „Ich glaube, einen Sohn und zwei Töchter. Die ältere Tochter soll etwas altjüngferlich sein und dazu neigen, alles zu bekritteln, die jüngere ist recht munter und hat schon eine Saison in London verbracht… ach nein, es gab noch eine, die ist schon verheiratet, glaube ich. Und jetzt verlobt sich der Sohn… mit wem eigentlich? Da bin ich jetzt überfragt. Die Familie ist mit den de Torcys befreundet, glaube ich."

    „Wer sind die?"

    „Das ist der Familienname des Duke of Ashford. Sie wohnen auf Schloss Lynham."

    „Ach ja – gab es da letztes Jahr nicht etliche Aufregung? Einen Skandal?"

    „Psst! Da kommt dein Vater."

    Lord Lynet sah sehr imposant aus. Sogar seine Frau, die ihn wegen seiner offenen Verachtung für Frau und Töchter nicht ausstehen konnte, musste zugeben, dass er für seine fast fünfzig Jahre noch sehr attraktiv war und deutlich jünger wirkte. Wahrscheinlich hatte er eine Mätresse, für die er das Geld ausgab, dass er bei seiner Familie einsparte…

    „Na, endlich seid ihr fertig, begrüßte er sie. „Und du wirst heute gefälligst etwas mehr gesellschaftlichen Schliff zeigen!, fuhr er Melinda unvermittelt an.

    „J-ja, Papa", stotterte diese.

    „Und wehe, du stotterst!"

    „N-nein, Papa…" Melinda war sichtlich den Tränen nahe.

    Die Fahrt nach Beech House zu den Nortons dauerte nicht allzu lange und im Wagen herrschte bedrücktes Schweigen.

    Melindas Stimmung hob sich erst, als zumindest Lady Norton sie freundlich, geradezu herzlich begrüßte und sie zu Susan und Charlotte führte, die sich vor einem kostbaren gestickten Vorhang aufgestellt hatten, der den kleinen Ballsaal von der Nische mit dem Buffet trennte.

    Sir Joshua nahm sich zügig des Viscounts an und Lady Norton, die das Aufatmen der Viscountess durchaus bemerkt hatte, zog diese in ein kurzes Gespräch – bis die nächsten Gäste gemeldet wurden.

    Die Familie Wentworth traf ein – Eltern und fünf Töchter, nachdem wenigstens eine seit dem Frühsommer unter der Haube war und nun in Norfolk lebte.

    Es folgte die Herzoginwitwe von Ashford mit zwei Söhnen und ihrer Schwiegertochter, was Charlotte Norton ein entrüstetes Schnauben entlockte.

    Melinda sah sich interessiert um und studierte die phantastischen Abendroben, mit denen ihre alt-neue rosa Kreation nicht mithalten konnte.

    Die zartgrüne Seidentoilette der jungen Lady Simon gefiel ihr am besten, aber natürlich durfte ein junges Mädchen keine Seide tragen…

    Auch die vielen Misses Wentworth traten sehr à la mode auf – ihr Vater war offenbar nicht so geizig wie Lord Lynet!

    Mittlerweile allerdings wunderte sie sich etwas über die Zusammenstellung der Gästeliste: Bis jetzt gab es acht unverheiratete junge Ladies und gerade einmal einen unverheirateten Herrn – und das war der Herzog, von dem jedermann wusste, dass er nicht mehr heiraten wollte: Hatten Lord Simon und seine Frau nicht bereits einen kleinen Sohn, der das Herzogtum eines Tages erben konnte?

    An weiteren Tanzpartnern gab es die Väter (die sich bestimmt bei der erstbesten Gelegenheit um den Kartentisch versammeln würden), Lord Simon und Mr. Norton, der aber doch wohl für seine Braut da sein wollte? Wo steckte diese Braut eigentlich?

    Sie wechselte einen Blick mit ihrer Mutter, die ebenso ratlos wirkte.

    Die Horburys, die kurz darauf eintrafen, hatten immerhin eine Tochter, nämlich die Braut Annabelle, und zwei Söhne zu bieten – aber damit wurde das Verhältnis zwischen den Damen und Herren auch nicht viel besser.

    Melindas Mut sank weiter: Wie sollte sie so mit einem Herrn flirten oder auch nur plaudern, wenn die raren Exemplare von viel anziehenderen Damen mit Beschlag belegt wurden? Wer achtete denn da schon auf sie?

    Der Herzog lächelte ihr quer durch den Raum aufmunternd zu und sie gestattete sich ein vorsichtiges Antwortlächeln, um gleich darauf nervös nach ihrem Vater Ausschau zu halten, der in ein Gespräch mit Sir Joshua vertieft schien und gerade eine winzige Prise Tabak zur Nase führte.

    Sie wusste nicht recht, ob sie sich freuen sollte, dass er diesen kurzen Austausch von Lächeln nicht bemerkt hatte, oder ob sie es bedauern sollte: So könnte er doch mit ihr zufrieden sein – oder käme er womöglich auf die Idee, sie solle versuchen, den Herzog für sich zu gewinnen? Ein völlig sinnloses Unterfangen, das konnte ihm jeder in der Umgebung erklären!

    Schüchtern sah sie sich um und bemerkte, dass Lady Simon, die mit Susan Norton zusammensaß, sie heranwinkte.

    „Setzen Sie sich doch zu uns, Miss de Lys!"

    „Oh bitte, sagen Sie doch Melinda zu mir. Miss de Lys klingt gar so förmlich."

    „Aber gerne, Mi- Melinda. Dann nennen Sie mich bitte Victoria und dies hier ist Susan."

    Melly lächelte verlegen. „Sie müssen mich für sehr dumm halten, aber ich fürchte mich immer etwas in Gesellschaft."

    „Hier sind Sie unter Freunden, Melinda, beruhigte Lady Simon – Victoria – sie. „Es geht hier nicht zu wie auf einem dieser Londoner Bälle, wo man höllisch aufpassen muss, keinen Fehler zu machen, um nicht zum Opfer bösen Klatsches zu werden. Hier kann nichts passieren, Sie können in aller Ruhe für Ihre Saison üben.

    „M-meine Saison?"

    „Oh, reagierte Lady Simon etwas betreten, „keine Saison?

    „Nein. Dafür haben wir kein – nun, das ist einfach zu teuer, fürchte ich." Sie begleitete ihr Geständnis mit einem scheuen Seitenblick, aber offensichtlich fesselte Sir Joshua immer noch die Aufmerksamkeit ihres Vaters.

    Lady Simon runzelte die Stirn. „Ihr Vater ist wohl recht streng?"

    Melinda nickte zaghaft. „B-bitte, sagen Sie ihm nicht, dass ich… ich meine, dass wir nicht so viel Geld haben? Er wäre sehr, sehr böse…"

    „Dafür können Sie doch nichts!", erboste sich Susan. 

    „Ich glaube, er hat Angst vor der Zukunft. Wir haben doch keinen Bruder…"

    „Oh. Dann sollten Sie wohl gut heiraten?"

    Melinda nickte bedrückt. „Aber bisher hat sich niemand für mich interessiert. Nun, ich bin nicht hübsch und habe natürlich auch keine Mitgift, also darf ich mich wohl nicht wundern. Und meine kleine Schwester ist zwar hübscher, aber sie wird es auch nicht besser treffen, fürchte ich – aber Sie sagen nichts weiter?"

    Beide Damen versprachen es voller Mitgefühl. „Dann ist eine Veranstaltung wie diese hier – entschuldige, Susan – aber nicht gerade gut geeignet. Oder könntest du deinen künftigen Schwager anbieten?"

    „John? Vergiss es. Verzeihen Sie, Melinda, aber ich vermute, John hat ein Auge auf Sophia Wentworths jüngere Schwester Hester geworfen. Aber: psst! John hasst es, wenn ich über ihn klatsche. Ich möchte Stephen und Annabelle keinen Ärger machen."

    „Und der Captain kommt auch nicht in Frage?"

    Susan schüttelte betrübt den Kopf. „Er hat eine Braut oben in Yorkshire, wo er stationiert ist. Ich denke aber, dass er bald den Abschied nimmt. In Friedenszeiten, sagt er, ist die Armee eher langweilig. Ja, mehr Junggesellen haben wir hier gar nicht anzubieten. Die Party ist wohl eher ein Familien- und Nachbarschaftsfest."

    „Ich finde es trotzdem sehr schön hier", versicherte Melinda schüchtern.

    „Genießen Sie einfach den Abend", schlug Susan freundlich vor. Melinda versprach dies und erhob sich, um sich zu ihrer Mutter zu gesellen, die sich gerade mit der Herzoginwitwe unterhielt.

    Dort knickste sie ehrerbietig und lauschte dem harmlosen Geplauder der beiden Damen, bis munteres Klavierspiel erklang.

    „Ah!, freute sich die Herzoginwitwe, „Sophia Wentworth ist also die erste, die uns mit etwas Musik erfreut. Und höre ich recht – ein Walzer? Das wird die Jugend erfreuen!

    Lady Lynet stimmte etwas bedrückt zu und streifte ihre verlegene Tochter mit einem Seitenblick.

    Die ersten auf der Tanzfläche waren Lord Simon und seine Frau, dann folgten Stephen Norton und Miss Horbury. Melinda beobachtete die beiden Paare, die sich im Walzertakt drehten, miteinander plauderten und sich anlächelten. Es schien sich tatsächlich um Verbindungen aus Liebe zu handeln… wie romantisch! Wie in den wenigen Romanen, die sie immer wieder las, weil sie sich keine neuen leisten konnte und es in der näheren Umgebung auch keine Leihbibliothek gab.

    Captain Horbury führte schließlich Susan Norton aufs Parkett und John Horbury bat Hester Wentworth um den nächsten Tanz.

    Sophia Wentworth spielte drei Walzer und zwei Ländler, dann erhob sie sich und beorderte ihre Schwester ans Piano, um selbst tanzen zu können.

    Melinda stand immer noch am Rand und betrachtete sich die Tänzer fasziniert – diese Bewegungen! Die ineinander fließenden Farben! Vor allem die prächtige Uniform des Captains war ausgesprochen dekorativ… und die wunderbare Musik.

    „Miss de Lys? Würden Sie mir die Ehre des nächsten Tanzes erweisen?"

    Lord Simon verbeugte sich vor ihr und lächelte vertrauenerweckend.

    „Ja, antwortete Melinda leicht verblüfft, „sehr gerne!

    Das ließ sein Lächeln noch breiter werden. „Eine erfrischend ehrliche Antwort! Dann kommen Sie, Miss de Lys!"

    Er bot ihr den Arm und sie legte die Hand fast ängstlich auf den feinen schwarzen Stoff und folgte ihm auf die Tanzfläche.

    Die Schritte immerhin beherrschte sie, denn Mama hatte ihr

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