54. Das Wunder Der Liebe
Von Barbara Cartland
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54. Das Wunder Der Liebe - Barbara Cartland
1. ~ 1802
Graf Rochester warf seinem Diener die Zügel zu und stieg aus der eleganten offenen Kutsche.
Die Tür von Lord Langstones Stadthaus in der Park Lane wurde geöffnet, ein Diener in blauer Livree trat ehrerbietig zur Seite.
Graf Rochester kannte die Farben der Langstones - dieses stumpfe Blau mit verhaltenem Gelb - nur zu gut, trat er doch in jedem Pferderennen gegen Lord Langstone an und trug, wie in allen Sportarten, an denen er sich beteiligte, den Sieg davon.
Die Blicke der Diener in der Marmorhalle waren voll Bewunderung.
Nichts schätzen die Engländer höher ein als einen Sportsmann, und in Rennkreisen galt Graf Rochester unbestritten als der ,König des Sports’, während er sich auch anderweitig hervortat, worüber allerdings nur im Flüsterton gesprochen wurde.
„Ist Lady Langstone da?" fragte er den Butler, der auf ihn zugeeilt kam.
„Ja, Mylord, antwortete dieser. „Ich werde Seine Lordschaft anmelden.
„Tun Sie das", sagte Graf Rochester und folgte dem Butler über die geschwungene Treppe in den langgestreckten Salon, der schon so viele vornehme Gäste beherbergt hatte.
Der Raum, der über die ganze Vorderfront des Hauses lief, war wie geschaffen für Einladungen und Empfänge. Sonnenschein fiel durch die Fenster und spielte in den Kristallüstern, große Blumengestecke erfüllten die Luft mit süßem Duft.
Erst als der Butler die Tür hinter ihm schloß und der Graf schon mitten im Raum stand, merkte er, daß er nicht allein war.
In der entgegengesetzten Ecke stand eine junge Frau und steckte gerade Blumen in eine Vase.
Auch sie merkte jetzt erst, daß jemand hereingekommen war. Sie drehte sich um und sah ihn mit großen und zu seinem Erstaunen sehr erschreckten Augen an.
Der Graf war daran gewöhnt, daß ihn Frauen aller Altersstufen mit den verschiedensten Blicken bedachten, aber daß man ihm mit Angst begegnete, das war er nicht gewöhnt.
Seine Anwesenheit schien dem jungen Mädchen äußerst peinlich zu sein. Hastig raffte es die Blumen zusammen, die es noch nicht in die Vase gesteckt hatte, und wollte den Salon verlassen.
Als das junge Mädchen näherkam, sah der Graf, daß es von einer seltenen Lieblichkeit war.
Der Graf schätzte es auf siebzehn, allerhöchstens achtzehn Jahre. Es trug ein schlichtes, etwas altmodisches Kleid, das in der Taille mit einem blauen Samtband zusammengehalten war.
„Ich sollte mich vielleicht vorstellen", sagte der Graf, als das Mädchen ein paar Schritte vor ihm stehenblieb.
„Ich - ich weiß, wer Sie sind, Mylord, stammelte das Mädchen. „Ich sollte nicht hier sein. Ich habe mich wohl in der Zeit vertan.
„Kaum, entgegnete der Graf. „Ich bin zu früh dran.
Er war in einem solchen Tempo durch den Park gefahren, daß er zwanzig Minuten früher als mit Lady Langstone verabredet angekommen war.
„Ich - ich muß jetzt gehen."
Der Graf trat dem Mädchen in den Weg.
„Ehe Sie gehen, sagte er, „müssen Sie mir verraten, wer Sie sind. Sie wissen schließlich auch, wer ich bin.
Das Mädchen sah zu ihm auf, und sein Blick wurde noch ängstlicher.
„Ich bin Ophelia Langstone, Mylord", antwortete es.
„Etwa Lord Langstones Tochter?" fragte der Graf.
„Ja, Mylord."
„Aber dann doch aus erster Ehe, oder?"
„Ja, Mylord."
„Ich nehme an, daß Ihre Stiefmutter Sie diesen Winter in die Gesellschaft einführen wird, oder gehen Sie noch in die Schule?"
Ophelia Langstone zögerte.
„Nein, Mylord, erwiderte sie schließlich. „Meine Stiefmutter wird mich nicht in die Gesellschaft einführen.
Der Graf zog die Augenbrauen in die Höhe. Er kannte Lady Langstone. Die Idee, dieses auffallend hübsche, liebliche Mädchen in die Gesellschaft einführen zu sollen, mußte ihr gräßlich sein.
Ophelia Langstone warf einen Blick auf die Tür, dann sah sie wieder den Grafen an.
Dieser wartete ab. Ophelias Schönheit beeindruckte ihn. Sie schien nicht in die Gegenwart zu passen, sondern aus der Vergangenheit herüber gerettet worden zu sein. Sie hatte nichts mit der grellen, aufdringlichen Schönheit zu tun, die von einer Herzogin von Devonshire oder einer Mrs. Fitzherbert kreiert worden war.
Das kleine, ovale Gesicht mit der geraden Nase und den schön geschwungenen Lippen war ausgesprochen klassisch. Auch hatte Ophelias Blick etwas Vergeistigtes, was bei einem so jungen Mädchen höchst erstaunlich war.
Der Graf war ein Frauenkenner, hatte ein Auge für Pferde und einen untrüglichen Gaumen, wenn es um Speisen und Weine ging. So viel Anmut und Liebreiz glaubte er jedoch noch nie gesehen zu haben.
Ophelia warf wieder einen furchtsamen Blick zur Tür. Es machte den Eindruck, als habe sie Angst, es könne jemand hereinkommen.
„Darf ich Sie um einen Gefallen bitten, Mylord?" fragte sie leise.
„Natürlich, entgegnete der Graf erstaunt. „Worum handelt es sich denn?
„Erinnern Sie sich an Jem Bullet?"
Der Graf runzelte die Stirn. Der Name kam ihm bekannt vor.
„Jem Bullet?" wiederholte er.
„Er hat vor einigen Jahren als Jockey bei Ihnen gearbeitet, Mylord."
„Richtig! rief der Graf. „Jem Bullet. Ein guter Mann. Er hat etliche Rennen gewonnen.
„Könnten Sie dann nichts für ihn tun?"
Der Graf traute seinen Ohren nicht.
„Etwas für ihn tun? wiederholte er. „Soviel ich weiß, ist er doch gar nicht mehr bei mir angestellt.
„Er hatte einen Unfall."
„Stimmt, sagte der Graf. „Jetzt erinnere ich mich. Er hatte einen Unfall, und ich habe ihn in den Ruhestand versetzt.
„Ohne Rente."
„Das stimmt nicht! Der Ton des Grafen war scharf. „Miß Langstone, ich habe nie, und das ist die Wahrheit, einen Mann oder eine Frau, die mir gute Dienste geleistet haben, in den Ruhestand geschickt, ohne ihre Zukunft sicherzustellen.
„Bei Jem Bullet aber nicht", sagte Ophelia in leicht kritisierendem Ton.
Der Graf wollte protestieren, doch genau in dem Moment hörte man draußen Schritte, und Ophelia Langstone schrak zusammen.
„Bitte, flüsterte sie. „Bitte, sagen Sie meiner Stiefmutter nicht, daß ich mit Ihnen gesprochen habe.
Ophelia lief zur Tür.
Diese ging auf und zu ihrer großen Erleichterung stand lediglich der Butler auf der Schwelle.
Sie huschte an ihm vorbei und verschwand.
„Lady Langstone bitten Mylord in ihr Boudoir", sagte der Butler steif.
Der Graf hatte damit gerechnet und folgte dem Butler wortlos.
Von Ophelia war nichts mehr zu sehen. Nur noch die Stille des Hauses umgab den Grafen.
Jem Bullet, dachte er.
Jetzt erinnerte er sich wieder an den kleinen, gelenkigen Mann, der einen Sieg nach dem anderen für ihn geholt hatte.
Er erinnerte sich auch an den Unfall. Und daran, wie er enttäuscht gewesen war, als man ihm gesagt hatte, Jem Bullet werde wohl nie wieder reiten können.
Aber natürlich hatte er für seine Zukunft gesorgt. Das hatte er von eh und je für alle getan, die in seinem Dienst gestanden hatten.
Es war ihm ein Rätsel, wie Ophelia Langstone zu dieser Fehlinformation hatte kommen können. Außerdem fand er es merkwürdig, daß sie sich Gedanken um die Dienstboten anderer Leute machte.
Wenn er es sich genau überlegte, wußte er eigentlich herzlich wenig über die Langstones. Lediglich, daß ihm Lady Langstone seit geraumer Zeit schöne Augen machte.
Von gewissen Frauen, und Lady Langstone gehörte offensichtlich zu ihnen, mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht zu werden, war für den Grafen nichts Neues. Er empfand es jedoch als ausgesprochen erleichternd, daß die Mütter offensichtlich eine Begegnung zwischen ihm und ihren heiratsfähigen Töchtern zu verhindern suchten.
Er stand in dem Ruf, ein Lebemann erster Güte zu sein, und es hätte ihn gewundert, wenn nicht sogar gestört, hätte man ihn in der ,Höflichen Gesellschaft’ empfangen, wie er sie zu nennen pflegte.
Nur seine engsten Freunde, und davon gab es wenig, kannten ihn wirklich.
Daß er den Namen eines der größten Lebemänner der Geschichte angenommen und sich absichtlich dessen Charakter und Talente zu eigen gemacht hatte, war typisch.
Sein eigentlicher Name war Gerald Wilmot gewesen. Als er mit einundzwanzig Jahren von König George III. in den Adelsstand erhoben und befragt worden war, welchen Namen und Titel er anzunehmen wünsche, hatte er nicht eine Sekunde gezögert.
„Graf Rochester, Majestät", hatte er geantwortet.
Der einzige Erbe des zweiten Grafen von Rochester war mit elf Jahren gestorben, und aus diesem Grunde waren Name und Titel ohne Nachfolge geblieben.
Und diese Nachfolge hatte nun Gerald Wilmot angetreten. Schon als Schüler hatte er die reichlich unzüchtigen Gedichte des französischen Lyrikers Villon mit dem größten Vergnügen gelesen, vielleicht vor allem deshalb, weil er aus einer Biographie gewußt hatte, daß der zweite Graf Rochester ein großer Verehrer dieses Mannes gewesen war und ihn gern zitiert hatte.
Sein Vater, John Wilmot, war ein durch und durch guter Mensch gewesen, während seine Mutter an nichts und niemandem ein gutes Haar gelassen und an allem herumgenörgelt hatte. Diese Tatsache war vielleicht mit ein Anlaß gewesen, warum Gerald Wilmot sich mit dem zweiten Grafen Rochester identifiziert hatte: Er hatte seine Mutter zu noch größerer Kritik herausfordern wollen, indem er ihr berechtigten Grund dazu gab.
Der zweite Graf Rochester war ein Mann gewesen, der als geistvoll, tapfer, menschlich, sorglos und ausschweifend beschrieben wurde.
Sein großer Bewunderer Gerald Wilmot wäre ein Jahrhundert später wohl kaum in seine Fußstapfen getreten, hätte seine Mutter ihn nicht pausenlos zurechtgewiesen und bei jedem harmlosen Bubenstreich ein Theater gemacht, als habe ihr Sohn das größte Verbrechen begangen. Sie hatte ihn durch ihr abwertendes Verhalten dazu getrieben, Eskapaden zu unternehmen, die er unter normalen Umständen nie unternommen hätte.
Wie der zweite Graf Rochester bezog auch Gerald Wilmot mit einundzwanzig Jahren einen Sitz im Oberhaus. Eine weitere Parallele war seine Vorliebe für die Marine.
Nachdem im März 1802 der Vertrag von Amiens unterzeichnet und die Marine stark vernachlässigt worden war - Tausende von Matrosen waren entlassen oder auf halben Sold gesetzt worden -, hatte Gerald Wilmot diese Politik auf das heftigste kritisiert.
Jedoch schon vorher hatte er sich durch große Tapferkeit und Eigeninitiative ausgezeichnet.
Er hatte während der französischen Revolution eine große Anzahl von Emigranten in Sicherheit gebracht und sie damit vor der Guillotine bewahrt.
Schon in Eton hatten ihn seine Schulkameraden den Draufgänger Wilmot genannt, und dieser Spitzname hatte ihn auch während seiner ganzen Studienzeit in Oxford begleitet.
Und jetzt nannte man ihn den Draufgänger Rochester, und das gefiel ihm.
Daß er in dem illustren Kreis verkehrte, der sich um den Prinzen von Wales gebildet hatte, verstand sich von selbst. Die Königin schob ihm sogar bis zu einem gewissen Grad die Schuld am ausschweifenden Leben des Prinzen zu.
Wenn der zweite Graf Rochester ein Teufel in Bezug auf Frauen gewesen war, so stand Gerald Graf Rochester seinem Vorbild in nichts nach.
Sein Erfolg bei Frauen war kein Wunder. Er war nicht nur groß und athletisch, er sah auch fabelhaft aus und hatte den Blick eines Draufgängers, das Lächeln eines Zynikers und die scharfe Zunge eines Mannes mit beißendem Humor.
In einem unterschieden sich die Grafen Rochester allerdings.
Von John Rochester, dem zweiten Grafen Rochester, existierten Gedichte, die so hingebungsvoll und zart waren, daß man nie hätte annehmen können, ihr Verfasser sei ein Verehrer des frechen, freizügigen Villon gewesen. Doch John Rochester hatte sich unsterblich in eine gewisse Elizabeth Barry verliebt gehabt und diese Dame so angebetet, daß aller Zynismus von ihm abgefallen war.
Gerald Graf Rochester war noch nie in seinem Leben wirklich verliebt gewesen. Auch nie hatte eine Frau ihn so fasziniert, daß er in ihren Bann geraten war. Für ihn waren sie Amüsement und weiter nichts. Wußte er doch, wie seine Mutter seinem Vater das Leben zur Hölle gemacht hatte!
Schon als Knabe hatte er sich geschworen, nie wegen einer Frau zu leiden. Und so sprang er mit einer Schnelligkeit und manchmal Rücksichtslosigkeit von Affäre zu Affäre, daß natürlich die ganze Gesellschaft darüber redete.
„Und noch etwas", pflegten Mütter zu ihren Töchtern