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DIE SCHMUTZIGE STADT: Ein historischer Kriminal-Roman
DIE SCHMUTZIGE STADT: Ein historischer Kriminal-Roman
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eBook240 Seiten3 Stunden

DIE SCHMUTZIGE STADT: Ein historischer Kriminal-Roman

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Über dieses E-Book

»London Bridge bricht morgen ein, morgen ein...« Sollte der alte Kinderreim zum Schicksalslied werden? Für die Brücke gewiss nicht; man würde sie von der Last der morschen Häuser und Hütte befreien, wo nur Gespenster, Bettlervolk und Ratten hausten.

Eine späte Kutsche passierte die Wache am Tor. Der brave Kerl aber überhörte im Rauschen des Wassers den Entsetzensschrei, mit dem das letzte Leben auf der Brücke erlosch...

John Dickson Carr liebt es, gelegentlich zu zeigen, dass auch in früheren Zeiten Kriminalfälle an der Tagesordnung waren. Hier hat das London des 18. Jahrhunderts den Historiker aus Leidenschaft zu einer Geschichte inspiriert, die in ihrer Wildheit und Kraft von unwiderstehlichem Reiz ist.

John Dickson Carr (* 30. November 1906 in Uniontown, Pennsylvania; † 27. Februar 1977 in Greenville, South Carolina) war ein amerikanischer Autor von Kriminalromanen. Er schrieb auch unter den Pseudonymen Carter Dickson, Carr Dickson und Roger Fairbairn.

Der Roman Die schmutzige Stadt erschien erstmals im Jahr 1962; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte 1964.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum20. März 2020
ISBN9783748732440
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    Buchvorschau

    DIE SCHMUTZIGE STADT - John Dickson Carr

    Das Buch

    »London Bridge bricht morgen ein, morgen ein...« Sollte der alte Kinderreim zum Schicksalslied werden? Für die Brücke gewiss nicht; man würde sie von der Last der morschen Häuser und Hütte befreien, wo nur Gespenster, Bettlervolk und Ratten hausten.

    Eine späte Kutsche passierte die Wache am Tor. Der brave Kerl aber überhörte im Rauschen des Wassers den Entsetzensschrei, mit dem das letzte Leben auf der Brücke erlosch...

    John Dickson Carr liebt es, gelegentlich zu zeigen, dass auch in früheren Zeiten Kriminalfälle an der Tagesordnung waren. Hier hat das London des 18. Jahrhunderts den Historiker aus Leidenschaft zu einer Geschichte inspiriert, die in ihrer Wildheit und Kraft von unwiderstehlichem Reiz ist.

    John Dickson Carr (* 30. November 1906 in Uniontown, Pennsylvania; † 27. Februar 1977 in Greenville, South Carolina) war ein amerikanischer Autor von Kriminalromanen. Er schrieb auch unter den Pseudonymen Carter Dickson, Carr Dickson und Roger Fairbairn.

    Der Roman Die schmutzige Stadt erschien erstmals im Jahr 1962; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte 1964.

    Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

    DIE SCHMUTZIGE STADT

    Erstes Kapitel

    Sie näherten sich der Stadt von der südlichen Seite des Flusses her. Die Luft roch nach Regen. Das Düster einer frühen Dämmerung hatte sich bereits zur Nacht gewandelt, als die Zweispänner-Postkutsche von Dover über die Pflastersteine der Borough High Street gegen die London Bridge holperte und rasselte. Wie üblich bei diesen zu teurem Preis gemieteten Gefährten, trieb der Kutscher seine Pferde zu rasender Eile an.

    Die beiden Insassen, eine vornehm gekleidete junge Dame und ein ebenso eleganter junger Kavalier, hielten sich möglichst weit voneinander entfernt; aber trotz aller Bemühungen gelang es ihnen nicht, sich ruhig auf ihren Sitzen zu verhalten. Hilflos hüpften sie auf und nieder, prallten auch gelegentlich hart gegeneinander, worauf sie sich hastig wieder in ihre Ecken zurückzogen. Seit neuestem waren die Kutschen zwar mit Sprungfedern versehen, aber trotzdem rüttelten sie wie eh und je. Die junge Dame griff nach dem Fensterriemen, um sich festzuhalten. Mit leiser, süßer Stimme stieß sie eine herzhafte Verwünschung aus. Sofort wurde der hochnäsige Herr an ihrer Seite zum affektierten Weltmann.

    »Bitte, verehrte Dame«, näselte er, »versuchen Sie die Ausbrüche Ihrer Freude etwas zu mäßigen.«

    »Freude! Ha!«

    »Ich habe für diesen Luxus schweres Geld bezahlt. Der Kutscher will sich dessen würdig erweisen, und wenn er seine Tiere dafür zuschanden jagt.«

    Die junge Dame war so zornig, dass sie beinahe weinte.

    »Ich wünschte, Sie würden zuschanden gejagt. Ich wünschte, dass Sie die Pocken bekämen. Himmel, ich kann gar nicht sagen, was ich Ihnen alles wünsche. Nicht zufrieden damit, mich zu entführen...«

    »Entführen, meine Dame? Ich bringe Sie nur heim zu Ihrem Onkel, weiter nichts. Haben Sie überhaupt eine Ahnung davon, in welcher Art von französischer Institution Sie einquartiert waren?«

    »Ich kann sehr gut selbst für mich sorgen, mein Herr, ich brauche Ihre Einmischung nicht. Diese plötzliche Angst um meine Tugend...«

    »Oh, Ihre Tugend interessiert mich nicht im geringsten, Madam.«

    Wütend hieb das junge Mädchen mit der Faust gegen das Fenster.

    »Nein, das ist mir nicht ganz klar«, rief sie ebenso empört wie unlogisch. »Sie gehören genau zu dieser Sorte von Männern. Mein Onkel hat Sie wohl reichlich für dieses Unternehmen bezahlt?«

    »Sicher. Weshalb hätte ich sonst wohl mein Leben riskiert? Und trotz all Ihrer Keckheit fühlten Sie sich sehr unbehaglich, Peg. Geben Sie es doch zu.«

    »Nein, das gebe ich nicht zu, denn es ist eine unerhörte Lüge. Bezahlt, bezahlt, bezahlt! Gibt es irgendetwas auf dieser Welt, das Sie für Geld nicht tun würden?«

    »Jawohl, Verehrteste. Entgegen den Gewohnheiten unserer Zeit und entgegen meinen eigenen Grundsätzen würde ich Peg Ralston für kein Geld der Welt lieben.«

    »Oh!«, schrie das Mädchen, das mit Peg angeredet wurde.

    Sie blickten einander an.

    Hier in Southwark, wo der Wind kräftig blies, konnte man bereits den Rauch der Stadt riechen, der sich wie eine greifbare schwarze Wolke am jenseitigen Ufer der Themse erhob. Und hier in Southwark, wo jeder anständige Bürger sich mit dem Einbrechen der Nacht zu Bett begab, hörte man kaum einen Laut außer dem Knirschen der eisenbereiften Räder auf den Pflastersteinen, als sich die Postkutsche der London Bridge näherte. Nur ein paar vereinzelte Tran-Laternen erhellten kümmerlich die Gegend. Eigentlich sollte bei jedem siebenten Haus eine solche angezündet sein, doch kein Mensch kümmerte sich um diese Vorschrift, und daher sahen die beiden Reisegefährten ihre Gesichter höchstens bei einem gelegentlichen Aufblinken der schaukelnden Lampen.

    Miss Mary Margaret Ralston, ein großes und sehr gut gewachsenes Mädchen, klammerte sich wieder an den Fensterriemen, während sie eine Bewegung machte, als ob sie sich erheben wollte. Die Tränen in ihren Augen deuteten auf tiefere Gefühle als bloße Wut; denn unter all ihrem Getue verbarg sich ein gütiges und argloses Herz, obwohl sie das nie zugegeben hätte und sich selbst für eine abgebrühte, ränkevolle Frau hielt.

    Miss Ralstons Augen waren von einem seltenen tiefen Schwarz, das sich glitzernd von der rosigen Haut ihres ausnehmend hübschen Gesichts abhob. Sie war eingehüllt in einen Reisemantel, dessen Kapuze zurückgeschlagen war und das schlichte Strohhütchen mit dem kirschroten Band sehen ließ. Weder Perücke noch Puder entstellte ihr weiches hellbraunes Haar; solcher Mode-Tand wurde im Jahre 1757 nur von den Herren der Schöpfung getragen. Doch ihr liebliches Gesicht war stark geschminkt, und ein kokettes Schönheitspflästerchen prangte auf ihrer linken Wange. Diese wenig mädchenhafte Gewohnheit, zusammen mit den offenherzig gezeigten körperlichen Vorzügen, machte auf jeden Mann Eindruck.

    Das war auch ein Grund dafür, weshalb Mr. Garrick, ein nüchterner, aber äußerst geschäftstüchtiger Mensch, ihr die heißerflehte Gelegenheit versprochen hatte, am Drury Lane Theater aufzutreten. Doch als Sir Mortimer Ralston, der Onkel der unternehmungslustigen jungen Dame, von dieser Zusage hörte, erlitt er einen derartigen Wutanfall, dass man ihn zur Ader lassen musste. Ähnlich waren auch die Gefühle von Mr. Jeffrey Wynne, der jetzt in der Postkutsche neben Miss Margaret saß und finster vor sich hin brütete. Immerhin entstammte sein Zorn einem anderen - und höchst verständlichen - Grund.

    Zum Teufel mit ihr!, dachte Mr. Wynne.

    Und doch redete sein Herz eine ganz andere Sprache.

    »Peg...«, begann er in versöhnlichem Ton.

    »Pah! Halten Sie sich fern von mir!«

    »Wie es Ihnen beliebt, Madam.«

    »Als ob ich jemals in Gefahr gewesen wäre! Das Haus in Versailles, in das Sie wie ein gewöhnlicher Dieb einbrachen, ist nichts anderes als die Schule für das Privattheater des Königs von Frankreich.«

    »Ich bitte um Vergebung, Verehrteste. Es ist nichts anderes als die Schule für das Privatbordell des Königs von Frankreich. Madame de Pompadour unterhält es so durchtrieben und schlau wie irgendeine Kupplerin in Leicester Fields.«

    »Mr. Wynne, schämen Sie sich!«

    »Reine Wahrheit, Madam.«

    »Vielleicht wollen Sie auch behaupten, Sie hätten keine lächerliche Figur gespielt? Ich bin ebenso groß wie Sie, das können Sie nicht leugnen. Aber ich bin weitaus tapferer. Pah! Sich zu fürchten und davonzulaufen vor französischem Gesindel, von dem noch dazu die Hälfte Frauen waren!«

    »Ich werde jederzeit davonlaufen, wenn die Übermacht eins zu drei gegen mich steht. Aber mit vollstem Recht renne ich, wenn ich allein gegen zehn Gegner stehe. Peg, Peg! Gebrauchen Sie doch Ihren Verstand!«

    »Verstand!«, rief die romantisch veranlagte Miss Ralston empört. »Jetzt endlich verstehe ich, Mr. Jeffrey Wynne, weshalb Sie Ihren Abschied bei der Armee genommen haben. Oder wurden Sie vielleicht wegen Feigheit abgeschoben? Lieber Himmel, zu denken, dass ich mich in einen solchen Elenden verliebt habe! In einen Kerl, der Angst hat und davonläuft wie ein altes Weib!«

    Unhöflich streckte Mr. Wynne seinen Zeigefinger aus und schwenkte ihn vor Miss Ralstons Nase hin und her.

    »Das reicht, Peg«, erklärte er mit ungewohnt harter Stimme. »Ich habe nichts dagegen, wenn Sie sich wie ein Dummkopf benehmen, obwohl Sie Verstand genug besitzen, wenn Sie ihn zu benutzen belieben. Aber ich lasse mich nicht zu einem Trottel stempeln von Ihnen. Dazu sind Sie viel zu flatterhaft und zu begehrenswert.«

    »Oh, lassen Sie mich in Ruhe«, zischte Miss Ralston. »Ihre Perücke sitzt ganz schief, Sie sind unglaublich dumm, und ich hasse Sie!«

    »Peg...«

    Ein erneutes Schlingern der Postkutsche ließ sie fast aufeinander taumeln. Hastig zogen sich die beiden jungen Leute wieder in ihre Ecken zurück. Mr. Wynne verschränkte die Arme, Miss Ralston streckte ihr hübsches Naschen in die Höhe. Sie hatten sich gegenseitig sehr wehgetan, sie wussten es und fühlten schwere Gewissensbisse. Aber Jeffrey Wynne war nicht gewillt, auch nur ein Wort von dem Gesagten zurückzunehmen, und Peg hatte nicht gelernt, etwas zu widerrufen. Immerhin gelang es Jeffrey besser als dem Mädchen, Haltung zu bewahren: sein schmales, spöttisches Gesicht mit den grünen Augen drückte genau das aus, was er sagen wollte.

    Und dennoch verdarb er den Eindruck. Er tastete nach der verspotteten Perücke, einem weißen Haarbeutel mit schwarzem Band, und warf gleichzeitig seinen Dreispitz auf den Boden. Als er Miss Ralstons Blick auf sich gerichtet fühlte, zog er mit einem energischen Ruck das Fenster auf seiner Seite herunter und streckte den Kopf durch die Öffnung.

    Dabei änderte sich seine Stimmung mit einem Schlag. Er musste etwas gesehen oder gehört haben, das auch den beiden Männern auf dem Bock aufgefallen war. Der Postillion fluchte, und der Kutscher knallte mit seiner langen Peitsche.

    »Jeffrey«, rief Miss Ralston erregt, »was ist denn los?«

    Sie erhielt keine Antwort.

    Direkt vor ihnen, wo die Borough High Street sich zu einem Halbkreis mit kleinen Geschäftslokalen und zwei Wirtshäusern erweiterte, erhob sich ein klotziger Turm, dessen breites Tor den Eingang zur London Bridge bildete. Eigentlich mussten sie jetzt gleich unter diesem Tor durchdonnern und über die dicken Bohlen der Brücke rollen. Seit mehr als fünfhundert Jahren - seit der Zeit von König Johann ohne Land - überspannten die gleichen neunzehn Steinbogen die Themse, von hier bis zum Fish Street Hill der Innenstadt.

    Mit dem Alter war die Brücke unsicher und wackelig geworden, von der Stadtseite her oftmals ausgebrannt und mit hohen Kosten wieder instand gesetzt. Zu beiden Seiten war sie eingefasst von schmalen, schrullig gebauten Häusern, deren Dachstöcke sich beinahe berührten und mit dicken horizontalen Balken gestützt werden mussten, damit sie nicht plötzlich auf die nichtsahnenden Fußgänger und Vehikel stürzten, die ständig die Brücke bevölkerten. Ebbe und Flut wälzten sich in starkem Gefälle zwischen den engen Bogen hindurch, bei mittlerem Wasserstand nur sechs Fuß unterhalb der festen Planken, so dass es lebensgefährlich oder gar unmöglich war, im Fährboot unter den niedrigen Bogen durchzuschießen.

    Jetzt aber...

    »Jeffrey, mein Lieber, was gibt es denn? Ich sterbe vor Neugier, wenn Sie nicht sofort reden.«

    Mr. Wynne zog den Kopf aus dem Fenster zurück.

    »Peg«, sagte er, »ich habe etwas gehört... oder besser, nicht gehört, das ich nie im Leben erwartet hätte.«

    »Oh, was denn?«

    »Eine absolute Stille auf der London Bridge.«

    Das stimmte allerdings nicht ganz. Das Wasser rauschte immer noch zwischen den Bogen durch, genau wie vor fünfhundert Jahren. Doch Miss Ralston wusste, dass Jeffrey nicht das meinte. Er sprach von dem lärmenden Hin und Her, von der Gemeinschaft und Geschäftigkeit der Menschen, wie sie seit König Johanns Zeiten hier gelebt und gearbeitet hatten.

    Seine Stimme klang so verstört, dass Peg Ralston ihn von der Seite ansehen musste, während er fortfuhr: »Es scheint keine lebende Seele hier zu sein. Auch kein Licht, außer...«

    »Halt!«, schrie ihnen jemand entgegen. »Sofort anhalten!«

    »Brrr!«, ertönte es vom Kutschbock, es folgte das Knirschen der Bremsbacke, der Wagen schaukelte und rüttelte und kam endlich zum Stehen.

    Das Mädchen sprang auf, schob hastig das Fenster herunter und streckte den Kopf hinaus, wie es zur gleichen Zeit Mr. Wynne auf der anderen Seite tat.

    Unter dem Torbogen zur Brücke, eine Laterne schwingend, stand breitbeinig ein Soldat mit hoher Grenadiermütze. Seine Uniform kennzeichnete ihn für Jeffrey sofort als dem ersten Garderegiment zugehörig, das oftmals im nahe gelegenen Tower einquartiert war.

    Stumpf und gleichgültig kam der Bursche näher und wandte sich an Jeffrey.

    »Sir, wo kommen Sie her?«

    »Von Dover. Aber was geht das Sie an?«

    »Wohnen Sie auf der London Bridge?«

    »In diesem Rattenloch?! Weshalb halten Sie uns auf?«

    »Sir, jetzt ist Freitagnacht. Am Montag beginnt man damit, alle Häuser auf der Brücke niederzureißen.«

    »Niederreißen?« Verblüfft hielt Mr. Wynne inne.

    »Mit Verlaub, Sir, ich rufe am besten meinen Offizier.«

    Doch das erwies sich als unnötig. Die Tür des Wachhauses öffnete sich, und im herausdringenden Licht erschien ein Offizier, dessen einzelne Achselklappe ihn als Hauptmann auswies. Es war ein stämmiger Mann mit rotunterlaufenen Trinkeraugen, aber ganz anständigen Manieren, obwohl er soeben vom Essen aufgestanden sein musste, denn er hielt noch ein halb abgenagtes Hammelrippchen in der einen und ein Glas Rotwein in der anderen Hand.

    Jeffrey Wynne wandte den Kopf nicht um, aber mit festem Griff packte er das Mädchen an der Schulter.

    »Peg«, flüsterte er, »ich kenne diesen Offizier. Er darf Sie auf keinen Fall sehen. Ziehen Sie den Mantel über den Kopf, und ducken Sie sich. Fragen Sie nicht erst lange, warum. Tun Sie, was ich Ihnen sagte.«

    Peg fragte nichts; sie stritt sich nie mit ihm herum, wenn ihm etwas wirklich wichtig schien. Aber als gute Schauspielerin übertrieb sie ihre Rolle, indem sie die Kapuze hochriss, das Strohhütchen zerknüllte und sich wie eine Tote rücklings in die Polster fallen ließ. Gleich darauf trat der junge Hauptmann in den Lichtkreis der Laterne und der Kutschenlampe. Nach ein paar Schritten blieb er überrascht stehen.

    »Jeff Wynne, bei allen Heiligen!«, rief er erfreut. »Das nenne ich aber eine angenehme Begegnung. Was gibt’s denn hier für eine Schererei?«

    »Ihr Diener, Tubby. Keine Schererei - ich wunderte mich bloß, weshalb die London Bridge bewacht ist. Soll der alte Kinderreim endlich wahr werden? Stürzt die Brücke wirklich ein?«

    »Meiner Seel’, beinahe!«, erklärte Hauptmann Tobias Beresford und rülpste behaglich. »Wenn die alten Häuser verschwinden, gibt es mehr Platz für alle die Karren und Kutschen, und das ist ganz gut so. Sie haben gar keine andere Wahl mehr.« Die Hand mit dem Hammelrippchen wies flussaufwärts. »Die Westminsterbrücke ist zu weit weg; von einer Blackfriarsbrücke wird immer nur geredet, aber noch ist sie nicht begonnen - und außerdem wäre sie noch weiter entfernt. Das gute alte Stück hier kann noch manches Jahr aushalten, wenn das Gewicht der Häuser nicht mehr darauf steht.« Plötzlich unterbrach sich der Hauptmann. »He, Jeff, und das wussten Sie nicht? Wo haben Sie sich denn die letzten Monate herumgetrieben?«

    »Ich war in Frankreich.«

    »Junge, das ist doch nicht möglich. Mit den Kerlen stehen wir ja im Krieg.«

    »Das weiß ich wohl, Tubby. Wann haben wir einmal nicht Krieg mit ihnen geführt? Trotzdem war ich dort.«

    »He? Wohl geheim?«

    »Ganz geheim, Tubby, und auf der Suche nach einer Persönlichkeit, die verteufelt schwer zu finden war.«

    »Aha.« Hauptmann Beresford schien sehr erleichtert. »Sie treiben wohl wieder Ihr altes Spiel, wie damals, als

    Sie für einen gewissen Herrn in der Bow Street arbeiteten? Na, viel Glück! Mir geht es nicht so gut.«

    »Aber die Leute, Tubby - die Menschen, die hier auf der Brücke wohnen? Was geschieht mit denen?«

    »Pah, was soll mit ihnen geschehen?« Hauptmann Beresford zuckte die Achseln. »Das ist einer der Gründe, warum wir hier sind. Sie haben einen vollen Monat Zeit gehabt, mit Sack und Pack abzuziehen. Die meisten haben es auch getan. Na, ich habe noch nie ein derartiges Gejammer und Gewinsel gehört. Hauptsächlich die Alten zeterten, sie seien arm und wüssten nicht, wohin ziehen. Wenn sich am Montag früh noch solche Leute in ihren Hütten verkrochen haben, müssen wir sie mit dem Bajonett hinausjagen.«

    »Tatsächlich?«

    »Auf mein Wort! Manche schleichen immer wieder her und versuchen sich in ihre Häuser zu stehlen; dann greinen sie uns vor, das sei ihr einziger Besitz und sie hätten das Recht, hier zu bleiben. Und wir haben das Vergnügen, sie fortzujagen - na, ich täte auch lieber was

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