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Der Zug nach dem Morgenlande
Der Zug nach dem Morgenlande
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eBook337 Seiten4 Stunden

Der Zug nach dem Morgenlande

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Über dieses E-Book

Deutschland im Ersten Weltkrieg. Die Baronin von Salm stattet der Frau Geheimrat Scholz einen Besuch ab. Ein bitteres Leid plagt die Baronin: Seit Kriegsausbruch hat sie nichts mehr von ihrem Sohn gehört, den sie irgendwo in Sibirien verschollen glaubt. Doch tatsächlich sitzt Maximilian von Salm auf einem polnischen Gut gefangen und ist dort nur noch am Leben, weil der Pole Boris von Kareszynski sich für ihn eingesetzt hat. Zwischen beiden entwickelt sich eine ambivalente Freundschaft, die jedoch ein brutales Ende nimmt, als Boris bei Eintreffen der Deutschen ermordet wird. Schweren Herzens folgt Maximilian seiner soldatischen Pflicht, die ihn weiter nach Osten ruft ... Heymanns packender Kriegsroman lässt ein umfassendes Panorama des Ersten Weltkriegs entstehen, dessen Stationen über Deutschland und Polen bis nach Russland, Konstantinopel und Bagdad führen. – "Der Zug nach dem Morgenlande" bildet nach "Gesegnete Waffen" die zweite Fortsetzung des Romans "Das flammende Land". Als vierter und fünfter Band folgen "Das Lied der Sphinxe" und "Der Fluch der Welt".-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum14. Apr. 2016
ISBN9788711503553
Der Zug nach dem Morgenlande

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    Buchvorschau

    Der Zug nach dem Morgenlande - Robert Heymann

    www.egmont.com

    Frau Geheimrat Scholz hielt die schmale Visitenkarte unschlüssig in der schlanken, von blassblauen Adern durchzogenen Hand.

    Ihr mildes Antlitz mit den feinen Falten war vom Schimmer der Frühlingssonne überflutet, die den Garten vor dem Hause durchspann.

    In ihren gütigen Augen mit dem ergreifenden Ausdruck heiss erkämpften Ergebens in das dunkle Schicksal dieser Zeit glitt ein leises Lächeln aus tiefem Grunde an die Oberfläche.

    „Freifrau Ite von Salm."

    Ja, ja, nickte die alte Dame vor sich hin.

    Die klugen Augen blickten das wartende Dienstmädchen einige Sekunden nachdenklich an.

    „Sagen Sie der Frau Baronin, ich würde mich sehr freuen, sie bei mir zu sehen. Und meinen Söhnen wird es eine besondere Ehre sein ..."

    Das Mädchen ging. Die Frau Geheimrat setzte sich in den alten Lehnsessel, in dem schon ihr seliger Gatte so manche Stunde seines arbeitsreichen Lebens versonnen hatte, und wartete auf die Teestunde. Ihr Blick glitt durch die offene Türe in das Nebenzimmer, wo alles schon bereit gesetzt war. Den Tisch bedeckte ein blütenweisses Tuch. Zwei schlanke Vasen trugen Rosen und Veilchen. Und eine lange Reihe von Tassen rahmte sich um das Teegebäck.

    So schön ist es nicht wie in vergangenen Zeiten, dachte die Frau Geheimrat. Was hatte sie manchmal für kleine Leckerbissen von ihrem Hof- und Leibbäcker an der Ecke erhalten! Aber die Zeit forderte Sparsamkeit. Und wenn sie bedachte, dass die Welt an allen Ecken und Enden in Flammen stand, dann empfand Frau Scholz den tiefen Frieden ihrer Vorstadtvilla als ein Geschenk ihres gütigen Schöpfers, für das sie ihm gar nicht genug danken konnte.

    Unwillkürlich hob sich ihr Auge zu dem Bilde des ernsten Mannes mit dem dunklen Vollbart. Zu einer Zeit, wo man noch nichts von „Star" preisen wusste hatte ein jetzt längst berühmter Maler den Geheimrat in Öl gemalt. Da war es der Frau Geheimrätin stille Zuflucht, ihr geheimes Glück, hier unter dem Bilde zu sitzen und im Geiste Zwiesprache zu halten mit dem, dessen reiches Leben sie so viele Jahre in Freud und Leid geteilt hatte. Dann sagte sie wohl manchmal zu dem stummen Manne: Siehst du, wie recht ich getan hatte, wenn ich den ungebärdigen Hans nicht immer so rauh anfasste, wie du es manchmal in deutscher Strenge wünschtest. Und wie stolz darfst du nun auf deine Jungens sein! Ach, hättest du ihre Frauen noch sehen dürfen! Hätte ich nur dies noch als letzte Gnade von dem Allmächtigen erbitten dürfen —

    Nur dies: Dass du den Franz noch einmal hättest in die Arme schliessen dürfen, der damals gegen deinen Willen vom Gymnasium zur Realschule überging, um Ingenieur zu werden. Instinktiv fühlte der Junge die neue Zeit voraus, die Zeit des höchsten Triumphes der Technik. Du wolltest, er sollte gleich dir Beamter werden. Sollte die Tradition unseres Hauses fortpflanzen. Was für Kämpfe musste ich damals durchhalten, lieber Alter, als ich dem Jungen den Rücken deckte! Unsere Vorfahren sind ja alle im Lande geblieben und in Amt und Würden gestorben. Unser Franz aber wollte ins Weite! Seine Augen leuchteten, wenn von fernen Ländern die Rede war, und wie oft redete er sich in Hitze, der Junge, wenn er seine fabelhaften Zukunftspläne entwickelte, die in jugendlicher Grenzlosigkeit irgendwo in den Kordillieren in einem phantastischen Brückenbauprojekt gipfelten. Dann schütteltest du wohl den Kopf, Alter, und sagtest: „In dem Jungen steckt Zigeunerblut. Weiss Gott, wo er das her hat. Das ist kein rechter Deutscher!"

    Hättest du geahnt, dass dieses Zigeunerblut so echt deutsches Blut war. Dass dieses Deutschland seine Fahnen in die fernsten Erdteile entsenden würde. Die Geschichte hat ja oft genug bewiesen, lieber Mann, dass der Zug ins Weite ein deutscher ist. Nun steht der Junge seit vielen Monaten als Reserveoffizier im Felde, ist Hauptmann und eilt von Westen nach Osten und von Ost nach West in wilden, abenteuerlichen Fahrten, immer zur Seite der Pflicht. Hat sich seine Frau Sonja aus dem schlachtenumtosten Polen geholt, die treueste Gattin und liebreizendste Mutter. Ach, hättest du den Freundeskreis noch gesehen, der jetzt meine alten Tage verschönt. Die Männer im feldgrauen Kleid, die von den Karpathen gegen die Russen vorgebrochen sind wie eine heilige Schar der Zukunft. Hättest du Else, die Tapfere, noch umarmen dürfen! Ach, du Treuer, wie hätten deine Augen geleuchtet über diesem deutschen Blut! Wie hat Else sich eingesetzt im Zeichen des Roten Kreuzes für alle. Wie hat sie gelitten um den Einen, der schliesslich ihr Gatte wurde und Vater ihres Kindes ist, das sie unter dem Herzen trägt. Dein Hans! — — —

    Hier umflorten sich die grauen Augen der alten Geheimrätin. Verstohlen rückte die Hand an dem Spitzenhäubchen.

    Lieber Alter! Wie hast du manchmal auf den wilden Jungen gescholten! Wie bitter konntest du damals werden, als er beinahe das concilium abeundi bekam, weil er einer Froschverbindung seine junge, überschäumende Sehnsucht nach dem grossen, starken Leben geweiht hatte! Wie musste ich manchmal mit meiner stillen Kraft vermittelnd eingreifen, dass kein Riss zwischen der gärenden Jugend und deiner konservativen Lebensanschauung eintrat. Und auch der wilde Hans machte trotz allem seine Examina und wurde ein guter Sohn. Und wurde ein stiller Mann. Und blieb ein Deutscher! Und zog mit den Ersten unter dem Rauschen deutscher Siegesfahnen in welsche Lande ein. Focht um dein und unser Vaterland, lieber Alter, mit deutschem Heldensinn, bis — ach, lieber Gott, nimmer will ich an die Stunde denken, da ihn sein junges, stolzes, lebenprangendes Weib über die Schwelle führte.

    Vom Schlachtfeld weg hierher.

    Blind!

    Lieber, lieber Alter, konnten deine Söhne mehr tun für das Land, das unser Vaterland ist? Sie sind doch deiner Frau Söhne geworden und sind mir nachgeraten, wenn du auch manchmal meintest, sie schlügen aus der Art.

    Die neue Zeit schuf neue Menschen. Grössere Helden aber hatte keine Epoche der Vergangenheit.

    Leise wischte sich die alte Rätin mit dem Taschentuch über die Augen. Ja, ja, Alter, du gibst mir Recht. Viel Leid hat der Krieg in dieses unser stilles Haus getragen. Aber es ist Leid in Ehren.

    Die Gedanken der Rätin wandten sich wieder dem Einen zu: Dem Blinden.

    Da unterbrach ein rasches Trippeln im Korridor ihr Sinnen. Ein dunkler Lockenkopf erschien zwischen der Türspalte:

    „dzién dobzy! Guten Morgen. Grossmutti — träumst du wieder?"

    Die Züge der Rätin wurden glatt und hell. Die Sonne schien in ihre Augen, dass sie sie geblendet einige Sekunden schliessen musste.

    Franz und Sonjas Kind!

    Ihr ureigenstes Blut — und doch polnische Rasse! Das kleine Ding, das da hereinwirbelte und mit kätzchenartiger Geschmeidigkeit sein Köpfchen liebkosend im Schosse der Grossmutter barg, war ganz und gar ein Kind der Mutter. Die grossen, mandelförmigen Augen waren schwarz und tief, die Lippen stolz und verlangend zugleich aufgeworfen, die Brauen hochmütig gewölbt.

    Die Hand der Rätin strich über den schwarzen Scheitel.

    „Du musst noch im Garten spielen, Kleines."

    „Kommt Mama nicht bald?"

    „Sie kann nicht mehr lange ausbleiben."

    „Und Papa?"

    „Papa? Bete für ihn, mein Kleines. Dein Papa marschiert zwischen den deutschen Sturmkolonnen gegen Warschau. Bete für ihn, so oft du allein bist und dem lieben Gott dich nahe fühlst."

    Die grossen Augen des Kindes hoben sich zu der alten Frau empor. Es lag die frühe Reife des fremden Volkes in dem suchenden Blick.

    „Grossmutter, ich bete für Papa, so viel ich kann. Und ich weiss auch, dass Papa wiederkommt. Bald, Grossmutter."

    „Dann weisst du mehr als ich, mein Kind. Wer sagt dir das?"

    „Gott."

    „Kind, Kind, das darf man nicht sagen. Gott spricht nicht durch die Seele eines kleinen Mädchens."

    Da war es, als streife ein Hauch des ewig Rätselhaften und ewig Unendlichen durch das stille Zimmer, als das kleine polnische Mädchen seine Augen gross aufschlug, Augen, in denen die Geheimnisse der Unschuld wie Sterne in einem See zitterten:

    „Warum nicht, Grossmutter? Ich habe immer den lieben Gott bei mir. Warum soll er mir nicht sagen, wann Papa kommt?"

    Die Rätin schlug die Augen nieder und schwieg. Das Kind kuschelte sich zu ihren Füssen hin. Da meldete das Mädchen die Frau Baronin von Salm, und scheu flüchtete die Kleine.

    Die Rätin griff nach ihrem Stock. Wenn sie aufstand, brauchte sie eine Stütze.

    Im Türrahmen blieb eine hohe Frauengestalt zögernd stehen. Nur einen Moment. Aber die Rätin fasste doch mit ihren Sinnen das Bild in sich auf: Die Vierzigjährige ging aufrecht, schlank und stolz. Ihr Scheitel war blond, die Augen hell und blau. Nur der Mund — ein junger Mund noch, trug schmerzliche Züge. Hier versteckte sich das herbe Leid, das diese trutzige Frau keinem zeigen wollte.

    Denn sie fürchtete sich vor dem Mitleid.

    „Sie werden sehr erstaunt sein, Frau Geheimrat, dass ich ..."

    Die Rätin liess sie nicht aussprechen.

    „Kommen Sie, Frau Baronin, und setzen Sie sich in meinen Lehnstuhl. So. Und lassen Sie sich wieder einmal in die Augen sehen. So wie damals ..."

    Nun sassen sich die beiden Frauen gegenüber. Und dachten beide an dasselbe.

    Dass sie seit zehn Jahren Nachbarn waren. Dass Freiherr Bodo von Salm auf Markenstein ein Menschenalter hindurch durch denselben Flur gegangen war wie der Geheimrat. Dass sie sich täglich steif gegrüsst hatten: Der Oberstleutnant, der schliesslich General geworden war, und der Rat. Der Erstere kurz verbindlich, der letztere beinahe devot.

    Und dass die junge Frau Baronin von Salm sich von einem schönen Tage an geweigert hatte, die Frau Rat Scholz noch zu kennen, weil die alte Dame sie nicht zuerst gegrüsst hatte. Sie, die Jüngere. Aber: Freifrau von Salm auf Markenstein, Exzellenz. Und wie sich das gespannte Verhältnis fortgepflanzt hatte, bis einmal der junge Salm, der dieselbe Schule besuchte wie Franz, etwas von Bürgerpack geäussert hatte.

    Die Rätin dachte in dem Augenblick nicht ohne Bitternis an jenen Sturm im Wasserglase. Franz hatte dem jungen Baron die Mappe an den Kopf geworfen. Der hatte wieder geschlagen. Franz hatte ihn schliesslich untergekriegt. Mit einem Loch im Kopf war der Junge von drüben heimgekommen. Es gab einen sehr offiziellen Besuch des Herrn Generals. Und Franz bekam von seinem Vater über den Sonntag Hausarrest. Nie hatte die Mutter den Jungen bis dahin über den Vater murren hören. Damals lehnte er sich auf ...

    Sie vermittelte.

    Aber die Familie der Salm und die Scholzens kannten sich nicht mehr. Der Tod ging erst nach vis-à-vis. Man holte den General zum letzten Appell.

    Die Augen seiner Witwe blieben tränenleer und blau. Ihr Junge ging ins Ausland.

    Dann holte man den Geheimrat ins letzte Amt.

    Und weiter gingen die Frauen aneinander vor über, die von Markenstein und die vom Bürgerpack.

    Der Krieg kam.

    Zwischen den beiden Frauen fiel kein Wort davon. Nur durch das Mädchen erfuhr die Rätin, dass der junge Salm nicht im Heer stünde. Kein Mensch wisse, was aus dem geworden sei.

    Und nur in den Zeitungen verfolgte die von Salm die Schicksale der beiden jungen Männer von vis-à-vis.

    „Sie denken an damals, ergriff die Generalin jetzt das Wort. „Ich bin gekommen, Frau Geheimrat, um — abzubitten.

    Schnell ergriff die alte Frau die Hand der noch so jungen schönen Gefährtin.

    „Nicht das, Exzellenz ..."

    „Nein, sagen Sie Frau von Salm zu mir, bitte."

    „Nun denn, Frau Baronin, das sind tote Zeiten. Davon wollen wir nicht sprechen. Plaudern wir von den neuen Zeiten, die so inhaltsreich geworden sind, dass man eigentlich auf die Vergangenheit gar nicht mehr zurückkommen kann."

    Die blauen Augen der Baronin dankten mit einem Aufleuchten.

    „Ich bin über die Schicksale Ihrer Söhne immer auf dem Laufenden geblieben, Frau Rat. Sie dürfen Gott danken. Sie haben Heldensöhne."

    „Sie haben treu und tapfer ihre Pflicht getan, Frau Baronin. Ja, das darf ich frei gestehen. Und nun denken Sie nicht, ich sei neugierig. Ich habe Ihren Sohn von früher Jugend an gekannt. Wo ist er?"

    Die Augen der Generalin wurden seltsam gross. Das Blau in ihnen versteinerte sich förmlich. Hilflos gingen die Pupillen hin und her; die Lippen öffneten sich mit einem leisen Seufzer ...

    Erschrocken und voll innigen Mitleids sah die Rätin den verhaltenen Jammer.

    Ehe sie etwas sagen konnte, brach er mit elementarer Wucht aus der gepressten Brust der einsamen Frau. Sie neigte sich plötzlich vor, ihre Lippen bebten, ein heftiges Schluchzen erschütterte den ganzen Körper.

    Vergeblich versuchte sie, den so lange unterdrückten Schmerz auch jetzt zurückzuhalten. Unaufhaltsam schüttelte er die unglückliche Frau, und es dauerte lange Zeit, bis sie endlich die Worte hervorbrachte:

    „Seit Kriegsausbruch — kein Wort mehr — vermisst — verschollen — verloren — Sibirien — aber wohl schon lange tot —"

    Und nun sie ihr Herz erleichtert hatte, nun die Last von ihrer Brust gewichen war, strömten die Tränen aus ihren Augen, die ersten Tränen, die die Augen eines Zeugen schauen durften, und der ungeheuerliche Schmerz entlud sich in dem erschütternden Bekenntnis:

    „Seien Sie mir nicht böse — verachten Sie mich nicht — der Krieg — ich musste mich einmal an einer mitfühlenden Brust ausweinen — liebe, gute Frau Rätin — nur einmal — lassen Sie mich weinen."

    Die gütige alte Frau legte ihre Hand um die Schultern der Generalin.

    „Weinen Sie! Weinen Sie sich aus, liebe Baronin. Es wird besser werden. Und dann — dann will ich Ihnen zum Troste sagen — mag der Trost auch schwach sein —: Es sind hunderte wieder auferstanden, die das Gerücht schon begraben hatte. Behalten Sie nur recht fest den starken Glauben, dass Ihr Sohn noch lebt — dann werden Sie vielleicht doch —"

    Die Rätin brach im halben Satze ab.

    Im wilden Schmerze schüttelte die Andere das Haupt.

    „Er kommt nie wieder. Er kommt nie wieder. Ich will es ja glauben und ich hoffe Tag und Nacht und jede Stunde. Aber seit zehn Monaten habe ich kein Lebenszeichen mehr von ihm erhalten ... seit zehn Monaten ... und jeden Tag habe ich darauf gewartet, jeden Tag habe ich gehofft — und jede Nacht habe ich um meinen blonden Jungen gebetet ..."

    „Woher bekamen Sie die letzte Nachricht?"

    „Aus einem Gute bei Warschau. Dort war er zuletzt als Maschinenbauer. Doch auch die Verbindung mit dem alten Herrn von Karczynski ist unterbrochen. Und er hätte doch geschrieben, wenn er gekonnt hätte. Ach, mein Junge hätte geschrieben!"

    Was sollte die Rätin zum Troste darauf antworten? Es bestand ja wirklich, wenn sich die Dinge so verhielten, so gut wie keine Hoffnung mehr, dass die Baronin ihren Jungen wiedersehen würde. Der lag wohl längst in fremder Erde, er mit Hunderttausenden, die sich zum Opfer hatten darbringen müssen in diesem blutigsten aller Völkerkriege ...

    Es klingelte. Sonja kehrte zurück. Jubelnd hing das Kind an ihrem Arm. Sie hatte sich von all den Aufregungen erholt, die ihr im Verlaufe dieses Krieges beschieden waren. Wahrlich, viel lag hinter ihr. Vor dem Kriege von dem Gouverneur von Kielce verfolgt, teils mit unwürdigen Liebesanträgen, teils mit der Verhaftung wegen Teilnahme an grosspolnischer Verschwörung, hatte sie zusehen müssen, wie man ihr den Gatten gepeitscht, bis die einrückenden preussischen Bataillone sie und den Geliebten aus höchster Not erretteten.

    Die Sturmflut der Kämpfe hatten den Gatten als deutschen Reserveoffizier hierhin und dorthin geschleudert. Die Russen kamen wieder nach Kielce. Sie floh mit einer Proviantkolonne, verbarg sich in Lodz, wurde von den einrückenden Russen aufgestöbert und entkam mit knapper Not dem Pogrom.

    Nun lebte sie bei der gütigen Schwiegermutter, im Herzen des unbesiegbaren Reiches, sicher und gehegt, und doch in täglicher Seelennot um den fernen Mann, von dem nur spärliche Feldpostbriefe Kunde gaben.

    Seit zwei Wochen fehlte jede Nachricht von ihm. Ihr erstes Wort war, nachdem sie die fremde Dame kurz begrüsst hatte:

    „Mutter, hast du einen Brief von ihm?"

    „Nein, mein Kind. Franz hat noch nicht geschrieben. Aber der heutige Heeresbericht vom grossen Hauptquartier verkündet neues, unaufhaltsames Vorrücken in Galizien ..."

    Sonja hörte die letzten Worte kaum. Wer durfte sie schelten, dass Freude und Genugtuung über den Siegeszug der Deutschen und Österreicher, die von den Karpathen nach endlosen Winterkämpfen vorstürmten und die Russen vor sich hertrieben, verstummten in der ewig nagenden Sorge um den Einen, der doch ihre eigenste Heimat war?

    Die Baronin lenkte die junge Polin mit ein paar Trostesworten ab. Bald waren die Frauen in traulichem Gespräch. Frau Scholz ging ins Nebenzimmer, um nochmals nach dem Rechten zu sehen. Durch die halb offene Türe lauschte sie auf das Gespräch. Und ihre Gedanken wanderten zurück und wanderten voraus. Und wieder stand sie im Geiste vor dem Bildnis in dem Wohnzimmer.

    „Hättest du das gedacht, Alter? Hättest du dir jemals träumen lassen, dass die stolze Freifrau den Weg herüber zum Bürgerpack finden würde? Das hat der männermordende Krieg getan ..."


    Bald schrillte die Klingel immer häufiger. Die Gäste, die das Leben da draussen, das weitab von der Rätin Heim vorbeiflutete, in geklärtem Abglanz zu ihr trugen, mehrten sich. Man plauderte so gerne bei einer Tasse Tee.

    Die Türe ging auf, und eine hohe, schlanke Frau, der selbst die schlichte Tracht in ihrer geschmackvollen Gewähltheit, die sich fernab von den albernen Modeirrungen der Tauentzienstrasse im Berliner W.-viertel hielt, trat langsam ein.

    Der Baronin war es, als sähe sie auf eine Bühne, und irgend eine künstlerische Hand stellte ein ergreifendes Bild. Ja, sie konnte die Tränen nicht zurückhalten, als diese schöne Frau, die mit kommender Mutterwürde begnadet war, sorgsam einen aufrechten Mann ins Zimmer schob. Er trug feldgraue Uniform. War Hauptmann. Seine Schultern waren gerade und breit, der Kopf stand stolz auf einem starken Nacken. Seine Haare, über dem rechten Auge gescheitelt, waren weiss. Der frühe Schnee leuchtete seltsam zu der unverbrauchten Frische der Züge.

    Doch wie er den ersten Schritt ins Zimmer tat, da beherrschte eine kindliche Unbeholfenheit seine Erscheinung. Er streckte die rechte Hand aus und tastete zum Türrahmen. Die linke suchte ... und als sie jetzt den Arm der tapferen Frau erfasst hatte, glitt ein seliges Lächeln der Sicherheit über die Züge des Hauptmanns.

    Er war blind.

    Wo ehedem die sonnigen blauen Augen in die Welt gesehen, da lagen tiefe Schatten. Die Frau, die den Hauptmann seit einem Jahrzehnt schon kannte, die ihn als Knaben mit ihrem Jungen hatte spielen sehen, erblickte ihn jetzt so.

    Sie hätte aufschluchzen mögen. Denn in dem Augenblick war der blinde Hauptmann und der verschollene blonde Junge eines. Keine Schranke trennte sie. Die Vorstellung schweisste zwei Begriffe zu einem Lebendigen zusammen, das sich in dem blinden Hauptmann verkörperte ...

    Und ohne ein Wort, ohne Übergang eilte die Baronin auf Hauptmann Hans Scholz zu und küsste seine rechte Hand.

    Er fühlte weiche Frauenlippen und zog schnell die Hand zurück. Jähe Röte flog über die wettergebräunten Züge, und fragend wandten sich die dunklen Augenhöhlen zu der Frau an seiner Seite.

    Die Baronin umarmte die junge Gattin. Staunend lauschte der Hauptmann auf die Stimme der Generalin, die längst entschwundene Bilder in ihm weckte ...

    Else klärte ihn auf. Er konnte nicht genug fragen, setzte sich neben die Baronin und erörterte alle Möglichkeiten, die doch noch für ein Auftauchen des Verschollenen sprachen.

    „Wo haben Sie zuletzt gefochten?" fragte die Baronin schliesslich schüchtern.

    „Auf der Höhe von Notre Dame de Lorette ... eine Granate nahm fast meinen ganzen Zug, mit dem ich einen Patrouillengang unternommen. Mich kostete sie das Augenlicht ..."

    „Deutschlands Zukunft wird Sie entschädigen," stammelte die Generalin verwirrt.

    „Mein Unglück ist nicht so gross, wie Sie denken, lächelte der Hauptmann. „Sie meinen, ich sehe nicht? Ich sehe alles. Ich sehe durch die Augen meiner lieben Frau. Und seitdem weiss ich erst, dass meine Augen eigentlich immer recht kurzsichtig waren. So viel Schönheit sehe ich durch diese Frauenaugen ...

    „Ach, Hans, sei still," warf die junge Frau errötend dazwischen. Da stürmte Sonjas Kind herein, den Arm voll Blumen.

    „Mutti, Grossmutti, die hat mir eben ein Feldgrauer geschenkt. Er kommt gleich —" und wie sie jetzt den Hauptmann erblickte, der ihr jeden Abend vor dem Schlafengehen die schönsten Märchen erzählte, und den sie ganz besonders in ihr Herz geschlossen hat, da eilt sie auf diesen zu:

    „Onkel, lieber Onkel Hans — schau nur — die herrlichen Blumen!"

    Sie streut sie ihm in den Schoss. Auf seinen feldgrauen Beinen liegen sie nun in junger Farbenpracht: Rote und blaue und grüne Blätter.

    Ein Erschrecken geht durch alle Herzen. Sonja zieht die Kleine beiseite.

    „Kind! Weisst du denn nicht, dass Onkel Hans die Blumen nicht sehen kann? Du hast ihm weh getan!"

    In des blinden Hauptmanns Zügen ist das Lächeln erloschen. Seine Hand gleitet über die samtenen Blütenkelche. Und wie suchend erhebt er die toten Augen zu seiner Frau. Da ist schon das Kind an seiner Seite:

    „Onkel, hab ich dir wirklich weh getan? Nein — du bist ja so klug! Du hast schon so viele böse Hexen bezaubert und hast mit Riesen gekämpft und schöne Feen aus dem Morgenland haben dir Schätze in deinen Schoss gelegt. Du kannst gar nicht böse sein. Sieh her, Onkel Hans! Das ist eine rote Rose. Schau, wie sie sich halb öffnet, wie der Tau von ihren Blättern perlt. Küsse sie, Onkel Hans!"

    Der feldgraue Hauptmann neigt den Kopf und küsst die rote Lebensblume. Seligkeit liegt in seinen Zügen. Und der liebliche Kindermund presst seine Lippen auf die Stelle, die der blinde Onkel geküsst hat.

    Der sagt leise zu der Generalin:

    „Glauben Sie, dass man mit eigenen Augen so schauen kann?"

    Ein Gast kommt. Die Stimme lässt den Hauptmann aufstehen:

    „Mutter, ich habe einen guten Freund geladen. Viktor Oberländer von den Fliegern. Seine Frau hat ihn hierherbegleitet."

    „Ich habe in deinem Tagebuch von ihm gelesen," erwidert die Rätin. Sofort erinnerte sie sich: Das ist jener Flieger, der die Gattin eines Artilleriehauptmanns geliebt hatte, und den der Hauptmann Hans Scholz vom Verderben rettete, indem er rechtzeitig die kleine Pflegerin Anny, die sich leise in das Herz des Fliegers geschlichen hatte, nach dem Argonnerwalde rief. Und eine Ehe wurde dadurch vor Verfall und Schande bewahrt.

    Frisch, jung, braun trat der Flieger ein.

    „Der hat mir die Blumen geschenkt!" jauchzte die Kleine. Der blinde Hauptmann und der schlanke, starke Oberleutnant fassen sich bei den Händen.

    „Sie sind vollkommen wiederhergestellt?" frägt Scholz.

    „Vollkommen. Meine kleine Frau hat’s geschafft!"

    Die kleine Frau hält sich schüchtern rückwärts. Aber Else, unter deren Leitung sie so lange Zeit in einem Feldlazarett im Westen die Verwundeten gepflegt hatte, zieht sie an den Händen zur Tafel.

    „Immer noch das gleiche grosse Kind! lacht die Hauptmannsfrau. „Nun lassen Sie sich mal ansehen, wie Sie aussehen als Frau Oberleutnant, kleine Anny!

    Sie haben sich ja auch so lange nicht gesehen. Und Anny, die von der Katastrophe von Notre Dame de Lorette natürlich durch Briefe erfahren hat, wirft einen schüchternen, fragenden Blick auf den Hauptmann. Und dann, ganz unvermittelt, schlingt sie die Arme um die Hauptmannsfrau!

    „Ach Else ... Frau Else ... sagen Sie du zu mir!"

    Die Frauen umarmen sich.

    „Ännchen, Kleines ... wir wollen Schwestern sein!" sagt Else und küsst die liebliche Frau auf die roten Lippen.

    Oberleutnant Oberländer frägt:

    „Nun sagen Sie mal, Herr Kamerad, erzählen Sie: Was machen Sie jetzt in Berlin mit Ihrer lieben schönen Gattin?"

    Der Hauptmann erwidert:

    „Das fragen mich so viele. Auch Sie denken nun Was kann der Hauptmann nun noch wett sein ohne Licht? St.! Lassen Sie mich ausreden. Ich habe gegen jedes Mitleid, das ich nicht ausstehen kann und gar nicht verdiene, zwei feine Trümpfe. Erstens lebe ich und geniesse ich alle Schönheiten der Welt durch meine Frau — und zweitens bin ich hier in Berlin vom Kriegsministerium angestellt — als Lehrer!"

    Er lacht vergnügt. Und lauscht mit allen Sinnen auf den überraschenden Eindruck dieser Verkündung.

    Die Überraschung bleibt nicht aus.

    „Als Lehrer? frägt der Oberleutnant. „Aber Herr Kamerad — er wirft einen fragenden Blick auf Frau Else.

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