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Ein Weib-ein Narr-ein Mörder
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eBook263 Seiten3 Stunden

Ein Weib-ein Narr-ein Mörder

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Über dieses E-Book

"Angst steigt auf. Angst lässt den Heizer schlottern. Blitzschnell den Dampfregulator schließen, den Hebel der Schnellbremse herumwerfen! Die Vakuumbremse knirscht. Die Passagiere werden wie Gepäckstücke durcheinandergeworfen. Dann Stille – unheimliche, totenhafte Sille – wie lange? Niemand weiß – dann ein Pfeifen, Sausen, Heulen, als seien alle Dämonen der Hölle entwichen." Doch das verheerende Eisenbahnunglück lässt sich nicht mehr vermeiden. Wer hat die Weiche falsch gestellt? Aber das Unglück ist erst der Anfang. Es folgt eine atemlose Kette der Ereignisse, die zu Verbrechen, Verschleppung, Raub und Mord führt. Und plötzlich ist der Zahlmeister Henri Cassagnac spurlos verschwunden. In der Mitte der Handlung stehen der Journalist Peytral, der Detektiv Durand, die betörenden Frauenfiguren Roxanne Zairis, Zaza und Moina und vor allem der geheimnisvolle Dr. Berton, der eine Art Doppelleben zu führen scheint ... Der auf Tatsachen beruhende Roman über ein grausames Verbrechen zeigt Heymann als souveränen Autor von lebensnahen Kriminalgeschichten.-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum14. Apr. 2016
ISBN9788711503720
Ein Weib-ein Narr-ein Mörder

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    Buchvorschau

    Ein Weib-ein Narr-ein Mörder - Robert Heymann

    Heymann.

    1.

    Einige Stunden hinter Paris hatte der Expreßzug einen unfreiwilligen Aufenthalt. Irgendein Signal — oder lag ein Gegenstand auf den Schienen?

    Niemand erfuhr es, obgleich die Passagiere in die größte Aufregung gerieten, als die Bremsen plötzlich scharf anzogen, die Wagen aneinanderstießen und der Zug mit ohrenbetäubendem Zischen und Schleifen zum Stehen gebracht wurde. Auch die Dame und die beiden Herren im Abteil Erster Klasse sahen sich erschrocken an. Es dämmerte schon, ein goldgesättigter Winterabend rieselte über die weißen Felder vor den Fenstern. Die Gegend war ohne weiteren Reiz, aber die verschneiten Bäume, die Äcker und Wiesen schwammen in einem warmen Rot, das die sinkende Sonne ausströmte. Eine zärtliche Stimmung lag über den Dingen, aber diese Stimmung war jetzt unterbrochen durch lautes Fragen und Rufen. Die Beamten sprangen auf den tief gelegenen Feldweg hinab, um nach der Ursache des Haltens zu sehen, die Passagiere rissen die Fenster und Türen auf. Niemand sah so den grauen Menschen, grau von Schmutz und Ungewaschenheit, der auf der entgegengesetzten Seite hochkletterte und sich in einen Wagen schwang. Er stand einige Sekunden atemlos und lauschend hinter den Rücken der aus den Fenstern sehenden Passagiere. Dann riß er eine kleine Tür auf, die zu dem Raum führte, der der Bedienungsfrau des Zuges als Aufenthalt diente. Zum Glück war sie nicht da, sie befand sich, ebenso aufgeregt wie alle Mitreisenden, in einem entfernten Wagen.

    Als der Wagen Erster Klasse, wie es schien, ins Schleudern geriet, war die Dame leichenblaß geworden. Die beiden Herren warfen sich einen Blick zu, in dem sich offener Schrecken spiegelte. Dann aber, als der Expreßzug zum Stehen kam und offensichtlich keine Gefahr vorhanden war, zeigte die Dame ein völlig kopfloses Benehmen. Sie sprang auf und stürzte wie gepeitscht aus dem Abteil. Dr. Berton, der ihr gegenübersaß, hatte das Fenster heruntergerissen und sich mit einem Blick überzeugt, daß kein Unglück geschehen war. Er rief der Reisegefährtin lachend nach, sie möchte sich beruhigen, aber er fand kein Gehör. Die Dame überzeugte sich auch keineswegs, ob wirklich ein Grund zur Beunruhigung vorlag. Sie eilte in überstürzter Hast durch die einzelnen Wagen. Vor jedem Abteil machte sie sekundenlang Halt und warf einen schnellen und verwirrten Blick in das Innere. Enttäuscht lief sie dann weiter.

    Die erste Erregung der Passagiere hatte sich in befreites Lachen und laute Scherze aufgelöst. Aber diese elegante und fremdländische junge Dame schien noch erregter zu werden. Sie suchte jemand. Sonst hätte sie nicht Türen geöffnet, die in Räume führten, die kein Interesse für sie haben konnten. Mit einem seltsamen Instinkt blickte sie auch in den engen Raum der Bediensteten des Zuges, ohne das Schild zu beachten, das die Aufschrift trug: „Eintritt untersagt".

    Sie sah sich dem geheimnisvollen grauen Manne gegenüber. Sie blieb wie erstarrt an der Tür stehen und kämpfte gegen eine Ohnmacht. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Unfähig, ein Wort hervorzubringen, überließ sie ihre Hände willenlos diesem Strolch, den die Landstraße ausgespien hatte. Auf den Knien liegend, bedeckte er ihre schmalen, hellen Mädchenhände mit leidenschaftlichen Küssen, unzusammenhängende Worte stammelnd.

    „Du bist also gekommen!" bringt sie endlich hervor.

    „Du hast mich gefunden!" flüstert der Landstreicher in überströmender Freude.

    „Charles!" — die Dame.

    „Roxane!" — der Mann.

    Welcher Gegensatz zwischen beiden! Die Dame willenlos, kraftlos an der Tür lehnend, der Mensch zu ihren Füßen. Sie, aufschluchzend in einer endlich gelösten, nicht mehr zu ertragenden Spannung, er, lachend, ohne es zu wissen, daß er lachte, dem Augenblick hingegeben, beide ohne Bewußtsein ihrer Lage, losgerissen von allen Befürchtungen und Gefahren, zwei Menschen, die sich über die Ewigkeit hinweg gefunden haben.

    „Oh du! Du! Roxane! Meine Geliebte! Meine Tapfere, Treue! Wie soll ich dir danken!"

    „Sprich nicht! Sprich nicht! Mein armer, armer Junge!"

    Ihre Hand streicht wie ein heller Schatten über sein dunkles Haar.

    „Nun wird alles gut —"

    „Sei vorsichtig, Charles! Zum zweiten Male könnte ich es nicht ertragen!"

    „Du liebst mich noch? Roxane! Roxane! Du liebst mich noch!"

    Er schließt die Arme um ihre Knie. Sie fühlt sein Haupt, sein Gesicht, die Wärme seines Atems dringt in ihre Glieder.

    „Nach so viel Jahren!" stammelt sie.

    „Liebste!"

    „Wie warst du unglücklich!"

    „Ich? Niemals! Deine Briefe machten mich reich!"

    „Charles! Beschäme mich nicht. Ich habe mich gesehnt nach dir — wie habe ich mich gesehnt!"

    „Du Herrlichste! Ich wäre mit einem Lächeln des Glücks gestorben, wenn es für dich hätte sein dürfen!"

    „Gestorben! schluchzt die Frau auf. „Schweig! Nie darfst du das sagen! Tausend Nächte habe ich um dich gezagt und gebebt, gebetet und gehofft und gezweifelt. Und nun habe ich dich, nun bist du bei mir, mein Geliebter! Ich sehe dein Gesicht, deine Augen, deine Hände, o mein Gott, laß es keinen Traum sein!

    In diesem Augenblick erhält die Dame einen heftigen Stoß in den Rücken, der sie beiseite schleudert. Das Gesicht eines fremden, rotwangigen Weibes mit einer Haube auf dem dunklen Haar wird sichtbar. Ihre Augen sind weit aufgerissen, ihr Mund öffnet sich zu einem Schrei, aber schon ist dieser graue Mann hochgeschnellt, seine Hand preßt sich auf den Mund der Überraschten, er zieht sie in den Raum, während die Dame hinter ihr die Tür schließt. Die Frau, die auf Ordnung in dem Zug zu sehen hat, wähnt sich überfallen. Sie schaut in maßlosem Erstaunen auf die elegante, juwelengeschmückte Dame, ihre Augen rufen um Hilfe, doch noch immer hält der Landstreicher sie fest und verschließt ihr mit Gewalt den Mund. Die Dame beginnt zu sprechen. Sie steht Leib an Leib mit der Überfallenen, der Raum ist nicht für drei Menschen berechnet. Sie flüstert der Frau ins Ohr:

    „Es geschieht Ihnen nichts. Bei der menschlichen Barmherzigkeit, schreien Sie nicht! Ich habe diesen Mann seit Jahren nicht mehr gesehen. Unstet und flüchtig ist er, ja, Sie sehen es, Sie können ihn verraten, aber es wird Ihnen Jammer und Leid bringen, ich würde Sie verfluchen, Sie würden ein Verbrechen begehen, denn dieser Mann trägt unschuldig sein furchtbares Schicksal! Wollen Sie schweigen? Ja? Wollen Sie schweigen?"

    Aber die arme Frau, die kaum atmen kann unter den Händen dieses Mannes, der wahrlich nicht aussieht, als ob ihn ein unverdientes Schicksal getroffen hätte, diese arme Frau kann gar nicht so schnell denken, sie kann sich nicht in die Situation finden. Sie starrt die Dame noch mit demselben hilflosen Ausdruck an wie vorher, ohne sich durch eine Bewegung zu äußern. Die Dame aber reißt die kostbare Perlenkette von ihrem Halse, sie faßt in ihre Tasche, ihre Finger halten ein Bündel Banknoten. Sie hält das alles mit zitternder Hand der Frau vor das Gesicht: „Ich schenke es Ihnen! Geben Sie mir Ihre Adresse! Ich will für Sie sorgen! Ich bin reich! Haben Sie Kinder? Sie können sich für Ihre Kleinen wünschen, was Sie wollen! Oder für sich! Nehmen Sie! Nehmen Sie! Sie sollen noch viel mehr bekommen! Nur — schweigen Sie! Ich flehe Sie an: Schweigen Sie! Nur eine Minute noch schweigen Sie!"

    Die Frau fühlt die Juwelen und das Geld in ihre Hand gepreßt. Der Druck auf ihren Mund lockert sich. Sie schreit nicht. Sie ist noch nicht recht bei Besinnung. Ihre Art zu denken ist einfach und schwerfällig, sie ist phantasielos, sie kann nur Tatsachen denken, sie kann keine Möglichkeiten, Wahrscheinlichkeiten erfinden. Sie sieht das Geld, die Perlen — und schweigt schon aus Staunen, das sich rasch in Habgier verwandelt. Sie hat vier Kinder zu Hause — einen invaliden Mann, der im Kriege verschüttet wurde — Geld ist knapp, das Häuschen längst reparaturbedürftig! Wenn man noch das kleine Ackerland hinzupachten könnte, würde es auch noch für eine zweite Kuh reichen! Ihre Augen wägen die Zahl der zerknüllten Banknoten in ihrer Hand ab. Das scheint mehr zu sein, als sie sich träumen lassen konnte — und diese Perlen! — Natürlich sind sie echt. Solch eine Frau trägt nur echte Perlen! Ein Vermögen! Jeanette, sei klug, schweige! Was geht es dich an, was diese Dame und der Vagabund miteinander haben? Vielleicht ist er ein Verbrecher! Nun, ihr hat er nichts getan! Ein bißchen gedrückt hat er sie, das ist reichlich gutgemacht! —

    Der Zug hat sich inzwischen längst in Bewegung gesetzt. An dem kleinen, niederen Fenster zieht die Landschaft vorbei. Die hohen Bäume scheinen einen Wettlauf zu veranstalten. Die Telegraphenstangen wollen es mit ihnen aufnehmen. Aber die Dämmerung geht schon in ein silbernes Grau über, und am Himmel zittert noch einmal das fahle Rot auf, das die Sonne zurückgelassen hat. Nun erlischt auch der letzte Widerschein des Lichts, ockergelbe Schatten brechen über die Felder, die nun schwarz und wesenlos werden wie der leibhaftige Tod.

    Das Schweigen der Frau ist Zustimmung. Die fremde Dame umfaßt noch einmal mit dem zärtlichsten Blick diesen mit Schmutz bedeckten Menschen, als müßte sie sich sein Bild für alle Zeiten einprägen. Sein Gesicht ist verschwollen von der Kälte, der durchlöcherte, fadenscheinige Mantel ist über der bloßen Brust geöffnet. Wahrlich, dieser Landstreicher ist ein lebendiges Bild des Jammers und des Elends, und niemand könnte einen größeren Gegensatz ausdenken als diese Dame im kostbaren Pelz, umschwebt von dem köstlichen Hauch des Luxus und des Reichtums, und diesen Ausgestoßenen, den das Leben aufgegeben hat.

    Wortlos überreicht sie ihm ihre Handtasche. Die Frau neben ihr kann wohl sehen, daß noch viel Geld darinnen ist. Sie bemerkt es nicht ohne Neid, aber ihre Neugier ist noch größer. Sie steht da wie eine Zuschauerin im Theater, die zu spät gekommen ist und sich nun in den Vorgängen auf der Bühne nicht zurechtfindet.

    „Nach so langer Zeit — es ist schwer, die Fassung zu behalten — stammelt die Dame. „Ich unterbreche die Fahrt in Lyon — ich bin —

    Da schrillt eine Klingel. Gleich darauf hört man Stimmen, und eine Hand drückt kräftig und schnell die Klinke der Tür herab. Aber sie kann sie nicht öffnen, denn Jeanette hat sich blitzschnell mit breitem Rücken vorgeschoben und ruft:

    „Ich komme!"

    Ein Mann brummt etwas von Weibern und Unordnung, dann verklingt die Stimme. Jeanette schlüpft aus dem Raum, aufatmend, wieder in Freiheit zu sein, und eilt dem Manne nach, der sich zögernd entfernt.

    „Wir dürfen keinen Augenblick mehr verlieren", sagt Charles.

    „Leb wohl, Roxane! Leb wohl! Leb wohl!"

    Die Dame blickt ihn noch einmal in fast mütterlicher Entrücktheit an und hebt mühsam die Hand zum Abschied. Dann tritt sie hinaus und verschwindet im Laufgang des Wagens. Die Bedienungsfrau, die bald darauf von der anderen Seite zurückkommt, findet ihren kleinen Raum leer. Der Zug ist in rasender Fahrt, sie ahnt nicht, daß der graue Mann am Trittbrett des Wagens angeklammert hängt, in einer Stellung, die ihm jeden Augenblick einen schrecklichen Tod bringen kann, während die beißende Kälte ihn bis auf die Knochen erschauern läßt und kleine Steine, die die Schnelligkeit des dahinrasenden Zuges aufpeitscht, sein Gesicht zerreißen.

    *


    Inzwischen waren die beiden Herren in dem Abteil Erster Klasse in größter Unruhe.

    Dr. Berton, Arzt aus Marseille, rieb sich die Augen und sah verwundert in das Gesicht des neben ihm sitzenden Reisenden.

    „Ich glaube, ich habe geschlafen — aber, zum Kuckuck, ich bin doch aufgestanden, um nach der Dame zu sehen!"

    „Sie sind gleich wieder umgekehrt und waren froh, Ihren Platz noch zu erreichen, ehe Sie umfielen!"

    „Was soll das heißen?"

    „Daß Sie in der Tat geschlafen haben, eine ziemlich lange Zeit, will ich meinen, und mir erging es nicht anders. Und das, obgleich ich munter wie ein Fisch die Fahrt angetreten habe!"

    Dr. Berton schiebt die Unterlippe vor.

    „Wie erklären Sie sich das?"

    „Sehr einfach! Wir sind betäubt worden, mein Herr!"

    „Betäubt?"

    „Ja. Durch ein Opiat! — Ich habe mich Ihnen übrigens noch nicht vorgestellt. Mein Name ist Durand — ich bin Beamter der Pariser Sûreté!"

    „Sehr erfreut!" Dr. Berton nennt seinen Namen.

    „Man hat uns betäubt, mein Herr!"

    „Aber Herr Durand! Sie träumen! Die Dame ist für mich keine Fremde!"

    „Sie haben nicht weniger geträumt als ich, und ich wette, wenn ich die Zigaretten, die uns von der inzwischen verschwundenen Dame liebenswürdigerweise angeboten wurden, untersuchen lasse, so wird sich herausstellen, daß sie ein Betäubungsmittel enthalten."

    Unglücklicherweise aber hatten die beiden Herren in dem Augenblick, als sie das Fenster öffneten, um die Ursache der Fahrtunterbrechung festzustellen, die Reste jener Zigaretten ins Freie geworfen.

    Dr. Berton versucht, Herrn Durand seinen Verdacht auszureden. Er ereifert sich.

    „Sie haben doch unser Gespräch mit angehört, mein Herr! Ich habe Fräulein Roxane Zairis zufällig hier im Zug getroffen. Sie ist eine Freundin meiner Frau. Die beiden Damen wurden in der gleichen Pension am Genfer See erzogen!"

    „Wenn sie keine besseren Gegengründe, die meinen Verdacht entkräften sollen, haben, so werden Sie mich nicht überzeugen, Herr Dr. Berton. Ich bin Kriminalist, ich bin meiner Sache ganz sicher!"

    „Als ob sich Kriminalisten noch nie getäuscht hätten! erwidert Dr. Berton, diesmal fast heftig. „Nein, mein Herr, ich bin verpflichtet, gegen diesen völlig ungerechtfertigten Verdacht, den Sie ausgesprochen haben, im Namen der Dame zu protestieren!

    Durand lehnt sich zurück, betrachtet den Arzt interessiert. Er scheint, trotz des Widerstandes, den er bei Dr. Berton gefunden hat, bereit, sich überzeugen zu lassen — oder seine Miene, frei von jeder verbissenen Voreingenommenheit, ist nur eine Maske. Er lächelt ganz heiter, als messe er dem Zwischenfall gar keine Bedeutung bei und sei eher amüsiert über die Aufregung seines Reisegefährten. „Sehen Sie sich vor, fährt Dr. Berton fort, „diese Dame, Fräulein Roxane Zairis, würde Ihnen sicherlich beträchtliche Ungelegenheiten bereiten, wenn sie erführe, was Sie eben gesagt haben. Ihre Familie ist sehr angesehen, sie ist sehr reich, unabhängig, eine vollendete Dame — nein, mein Herr, verzeihen Sie mir, aber ich finde Ihre Idee einfach toll!

    Durand zuckt die Achseln und legt die Hände ineinander.

    „Ich lasse mich gern überzeugen! Sie kennen demnach die Dame näher?"

    „Ich kenne sie beinahe so gut, wie meine Frau sie kennt. Gewiß — meine Frau ist mit ihr befreundet — meine Bekanntschaft mit Fräulein Zairis ist weit jüngeren Datums. Aber wenn Sie mir die Frage, warum die Dame uns betäubt haben sollte, als Preisrätsel aufgeben würden, weiß der Himmel, ich würde es niemals lösen können!"

    Durand lacht.

    „Solche Preisrätsel lassen sich auch nicht einfach auf dem Papier auflösen, Herr Dr. Berton! Sie haben sicher Ihre Hochzeitsreise nach Griechenland gemacht?"

    „Erraten! Woher wissen Sie denn das, Herr Durand?"

    „Aus Ihrem Gespräch mit der Dame selbst!"

    „Ach so! Natürlich! Ja! Auf Bitten meiner Frau Moina, die für Fräulein Zairis eine tiefe Zuneigung empfindet — es ist eine wahre Pensionsfreundschaft, eine Mädchentreue, wie man sie selten findet — also auf Bitten meiner Gattin bereisten wir als junges Ehepaar Griechenland. Dort, in Athen haben wir natürlich Fräulein Zairis aufgesucht, oder besser, wir wurden von ihr erwartet! Eine sehr vornehme Familie! Der Vater lebte damals noch, ein angesehener Großkaufmann! Nein, Herr Durand, diese Dame hat uns kein Opiat verabreicht, eher bin ich es selbst gewesen!"

    „Sie überzeugen mich. Wird Fräulein Zairis Sie besuchen?"

    „Ja. Sie hat in Lyon zu tun, später wird sie nach Marseille kommen und meine Frau besuchen! Haben Sie nicht zugehört, als sie davon sprach? Sie will dann nach Algier, wie Sie vernommen haben dürften. Ich bitte Sie, mir zu sagen, welchen Grund diese so reiche und in Athen so angesehene Dame haben sollte, uns in eine sichtlich vorübergehende Betäubung zu versetzen!"

    Durand zuckt die Achseln. „Weiß ich es? Aber ich sagte Ihnen schon: Sie haben mich überzeugt! Wir Beamten sind immer im Beruf, wir werden natürlich einseitig! Ich habe geträumt und bilde mir ein, ich sei betäubt worden! Ha! Ha! Da können Sie wieder einmal sehen, Herr Dr. Berton, was der Beruf aus einem Menschen macht. Sind Sie Psychiater?"

    „Nein. Ich stehe der Psychiatrie ziemlich fern. Ich bin Chirurg!"

    „Ah! Ich hätte gewettet, Ihren Augen nach, Sie wären Psychiater! Aber warten Sie — warten Sie — ich habe ein Gedächtnis, das arbeitet wie eine Maschine — sind Sie nicht schon als gerichtlicher Sachverständiger aufgetreten?"

    „Ja. In zwei Prozessen."

    Durand hört schon nicht mehr hin, was Dr. Berton sagt. Er ist ganz mit seinen Gedanken beschäftigt. Ist es der rätselhaften Reisebekanntschaft vielleicht darauf angekommen, zu verhindern, daß einer der Herren ihr folgte? Aber dann — was bezweckte sie? Ganz unwahrscheinlich, daß er oder Dr. Berton hinter ihr herlaufen würden! — Aber warum kommt sie immer noch nicht? Hat sie das plötzliche Anhalten des Zuges auf freier Strecke vorausgeahnt? Warum diese Eile, aus dem Abteil zu kommen? Ohne jede Frage? Wo steckt sie jetzt?

    Durand erinnert sich, daß sie im Moment, als der Zug zu schleifen begann und er selbst ein Unglück befürchtete, ganz ruhig geblieben war. Sie hatte nur nach der Tür gesehen und sichtlich überlegt, wie sie schnell hinauskommen konnte.

    Unsinn! sagt sich dann wieder Durand. Das rede ich mir jetzt vor — natürlich! Ich kann die Fachsimpelei nicht lassen, und meine Kombinationen sind ganz unklar. Da überfliegt ihn eine Wolke von Duft. Eben kommt die Dame zurück. Sie ist scheinbar ganz gleichmütig.

    „Ich habe mich erkundigt, sagt sie mit einem liebenswürdigen Lächeln zu Berton. „Irgend jemand hat ein Signal gegeben —

    „Wieso? erwidert der Arzt, der den Zusammenhang dieser Bemerkung mit dem schon halb vergessenen Zwischenfall nicht recht versteht. „Wieso?

    Sie hat geweint, denkt Durand mit einem schnellen, scharfen Blick.

    Eine fremde Stimme sagt: „Woher wissen Sie, daß jemand ein Signal gegeben hat, meine Dame?"

    Es ist ein Fremder, der hinter Roxane Zairis in der offenen Tür stehen geblieben ist. Er zieht höflich die Mütze.

    Ein Dreißigjähriger, sonnengebräuntes Gesicht, oder Kleidung nach Provinz, vielleicht Offizier, kann auch ein Rentner sein, der viel im Freien lebt, eifriger Jäger, Sportsmann.

    „Zwei Reisende haben es sich erzählt", erwidert die Dame unbefangen, mit einer Haltung, die Distanz zeigt, während ihre Miene deutlich genug ihre Ablehnung gegen den Frager zum Ausdruck bringt.

    „Sehr interessant!" Der Herr wechselt einen erstaunten Blick mit dem einen

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