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Der Fluch der Welt
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eBook339 Seiten4 Stunden

Der Fluch der Welt

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Über dieses E-Book

"So nahte der Tag, an dem sich zum dritten mal der Ausmarsch der deutschen Regimenter zum blutigsten aller Kriege jährte. Ganz Europa ruft nach Frieden. Und ein Schwarm von Abenteurern und ehrsüchtigen Cliquen, aufgepeitscht durch die wilde Spekulation des Kapitals, hetzt mit Hilfe einer verkommenen, bestochenen, korrumpierten Presse Millionen von Menschen immer von neuem in Tod, Not und Verderben. Das Gespenst der europäischen Hungersnot sitzt lauernd vor der Pforte des kommenden Jahres. Die Stimme der Vernunft ist tot." Mit diesem pessimistischen Fazit über den "Fluch der Welt" endet, noch im Kriegsjahr 1917 erschienen, der letzte von Heymanns fünf "modernen Kulturromanen" über die Zeit des Ersten Weltkriegs. "Der Fluch der Welt" bildet nach "Gesegnete Waffen", "Der Zug nach dem Morgenlande" und "Das Lied der Sphinxe" die vierte und abschließende Fortsetzung des Romans "Das flammende Land", und der Leser begegnet hier zahlreichen Figuren wieder, die ihm aus den vorangegangenen Bänden vertraut sind.-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum5. Mai 2016
ISBN9788711503614
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    Buchvorschau

    Der Fluch der Welt - Robert Heymann

    Northcliffe

    Vorwort.

    Der Weltkrieg hat eine Ausdehnung angenommen, die niemand vor drei Jahren geahnt hat. Der Donner der Kanonen erfüllt noch immer die Welt und übertönt die Rufe der Völker nach Frieden. Deutschland bot die Hand zur Versöhnung, die Machthaber der feindlichen Nationen wiesen sie mit Hohn zurück. Erstaunt wirft jeder Deutsche die Frage auf: Geht es um so hohe wirtschaftliche Werte für England, dass für zwei germanische Nationen die Erde nicht mehr Raum hat? Ist das Schlagwort Elsass-Lothringen für Frankreich eine moralische Lebensfrage, dass Hekatomben seiner besten Söhne für ein Stück Land den heimischen Boden düngen müssen, denselben Boden, den das eherne Gesetz des Krieges in eine Wüstenei verwandelt hat? Und kann sich Russland nicht losreissen von seinem englischen Manichäer? Soll der Kriegstaumel Italiens nur die Stunde hinausschieben, in der die Revolutionsglocken dem Schwiegersohn Nikitas das Schicksal Nikolaus II. verkünden? Schreckt keine Nation das Schicksal Serbiens, Belgiens, Rumäniens? Ist das ehedem freie Amerika ein willenloses Werkzeug in der Hand eines Trusts von Milliardären geworden, die ihre europäischen Aussenstände durch die Aufopferung aller Freiheiten einer Nation sichern wollen?

    Hat ein Wahn die Welt ergriffen? Kreist epidemisch der Vernichtungewille im Blut der Völker? Haben wir Luftschiffe erfunden und die höchsten Probleme der Technik gelöst, um unsere Kultur zu vergewaltigen und Europa dem Hunger zu überliefern? Was ist es, das die Menschheit in Banden hält? Der Hass.

    Ein Hass, wie ihn die Weltgeschichte ähnlich nie verzeichnen konnte, in deren Büchern sich die Tragödien des Neides, des Ehrgeizes und der Verblendung aneinanderreihen. Der Hass ist als Fluch der Welt über die Menschheit gekommen.

    Lord Northcliffe sagte in einer Rede in London: Die Deutschen sind der Fluch der Welt. Er begründete die billig gewordene Phrase durch einen Schwall jener aus Hass geborenen Entstellungen und schöpfte aus einem unergründlichen und scheinbar unerschöpflichen Brunnen, der der wirkliche Fluch der Welt ist und seine Quellen in allen Erdteilen brodeln lässt: die Presse.

    Diesem Problem ist ein Teil meines neuen Romanes gewidmet.

    Wenn einmal die kritische Geschichte dieses Völkerringens geschrieben werden wird, und der Geschichtsschreiber vielleicht ratlos vor den pathologischen Erscheinungen stehen wird, dann müssen alle Archive dieses Übermass gifttriefender Geistesprodukte zum Verständnis der Psychose ausleihen, unter deren Druck sich die Völker beugten. Dann wird man klar erkennen, dass nicht Aberwitz die Menschheit des Verstandes beraubte, sondern der wohlorganisierte verbrecherische Betrug des Geistes. Scheint es gleich Wahnsinn, dass die Flut bedruckten Papieres die neue Sintflut hervorrief und tausenden menschlicher Wohnstätten das Schicksal von Sodom und Gomorrha bereitete: dieser Wahnsinn hatte Methode und diese Methode richtete sich gegen Deutschland. Die Presse Frankreichs, Englands, Italiens und Russlands hat ihre ethische Mission verleugnet und einen ungeheuerlichen Lügenfeldzug mit schrecklichsten Verirrungen des Hasses inszeniert. Wir Deutsche lächelten 1914 über diese papierenen Regimenter, welche England über den Erdkreis marschieren liess. Aber diese schwarzen Legionen des Wortes, des entarteten Gedankens und der schmachvollen Lüge haben mehr Siege errungen, als die deutschen Waffen.

    Diese Brandstifter Europas wurden der Fluch der Welt. Sie entzündeten die übelsten Instinkte der Massen, sie verdunkelten das Licht des Geistes, sie legten Zündschnure an alle Leidenschaften ehrgeiziger Politiker und machten aus der Verleumdung heilige Wahrheiten. Und so von teuflischer Narrheit befangen sind die Völker, dass sie den erschreckenden Witz der Geschichte, die Ironie solch ausposaunter Gemeinplätze nicht mehr begreifen. England bekämpft den Militarismus und führt die allgemeine Wehrpflicht ein, reisst das kühle Amerika mit sich und überzeugt die Nachkommen Washingtons von der Notwendigkeit, die preussische Autokratie durch den amerikanischen Imperialismus niederzuringen. England rächt den „Neutralitätsbruch" in Belgien und jagt einen neutralen König gegen den Willen seines Volkes in die Verbannung, um ein militärisches Abenteuer auf dem Balkan sicher zu stellen. England proklamiert das Selbstbestimmungsrecht der Völker und lässt in Indien und Aegypten die Prediger dieser Theorie durch britische Kugeln zu Märtyrern werden. Frankreich will Elsass-Lothringen auf Grund historischer Rechte anektieren und weiss sehr gut, dass das deutsche Reich einmal halb Belgien, halb Italien und überhaupt halb Europa umfasste. Amerika zieht für die demokratische Freiheit ins Feld und verbietet seinen Sozialisten, einer Friedenskonferenz beizuwohnen. Es würde zu weit führen, die dem Fluch der Lächerlichkeit verfallenen pathetischen Grundsätze der Ehrgeizigen aufzuzählen, die ihren von kapitalistischen Machtworten diktierten Kriegshandlungen das Mäntelchen ethischer Ziele umhängen. Ihre Unternehmungen sind von so absurden Voraussetzungen geleitet, dass nur ein durch Branntwein berauschtes oder nicht mehr normales Volk Gefolgschaft leisten kann.

    Und doch folgen sie alle dem Schlachtruf, denn dieser Branntwein, dieser Fluch der Welt, hat sie alle des Verstandes beraubt: das Pathos der Lüge, des Hasses, der Verleumdung, der Rechtsverdrehung, das die erlesensten Geister der romanischen und anglikanischen Rasse auf ihre Fahnen geschrieben haben.

    Die Zeitungen haben sich verkauft, gedemütigt, haben ihre edlen Ziele verleugnet, ihre hohe Berufung verneint, sind zu nichtswürdigen Parteigängern der politischen Brandstifter geworden. Sie haben dem Krieg seine Erhabenheit, der Begeisterung ihre edle Geste, der Menschheit ihre Kultur und den Völkern ihre primitivsten Rechte entwertet. Sie, die einst an der Spitze der Zivilisation marschierten, sind zu Marodeuren geworden, die den Leichenraub betreiben. Dieser Zustand ist der Fluch der Welt!

    Robert Heymann.

    Verschiedene Wege.

    Hauptmann Franz Scholz kehrte eben aus Polen zurück, als seine geliebte Mutter zu kränkeln anfing. Ihr zweiter Sohn Hans, der Lehroffizier im Blindenheim war, befand sich bei ihr und begrüsste herzlich den heimgekehrten Bruder.

    Seit langer Zeit waren die Mitglieder der Familie Scholz wieder versammelt, freilich nicht vollzählig, denn Sonja und ihr Töchterlein fehlten.

    Die schöne Gattin des Hauptmanns war in ihre Heimat zurückgekehrt. Die deutsche Regierung hatte sie in das neue Königreich Polen berufen, wo man sie wegen ihrer Kenntnisse der polnischen Volksseele brauchte.

    Die Zeit war da, wo Deutschland „bis zum letzten Hauch von Ross und Mann" sich einsetzen musste. Wo auch die Frauen auf den Plan traten und Seite an Seite mit den Männern um Zukunft und Existenz rangen. Frau Sonja nahm Dienst im deutschen Gouvernement, wo sie in einer eigenen Abteilung die Judenfrage zu behandeln hatte.

    Sie fand trotzdem noch Zeit, ihren Mutterpflichten zu genügen. Ihre Kleine besuchte die deutsche Schule in Warschau.

    Mit Entschlossenheit und Energie hatte der neue Gouverneur von Beseler Ordnung geschaffen. Polen sollte ein Königreich werden, selbständige Verfassung erhalten, ein eigenes Heer stellen.

    Aber mit dieser deutschen Proklamation waren noch nicht alle Fragen gelöst, die dieses von endlosen Parteikämpfen und politischen Wirren zerrissene Land erfüllten, und hinter der scheinbaren Ruhe verbarg sich manch düsteres Problem, manche unheilverheissende Drohung.

    Franz Scholz setzte sich neben den Lehnstuhl der Mutter und nahm ihre Hand. So viel hatte diese deutsche Mutter in den bisherigen zwei Kriegsjahren erduldet, so viel Opfer gebracht, so oft mit schmerzendem Herzen auf Nachrichten von ihren Lieben gewartet, dass ihre Kraft nicht mehr die alte war.

    Englands Hungerkrieg war nicht ohne Folgen geblieben. In deutschen Landen herrschte zwar nicht, wie angelsächsische Politik sich das erträumte, die Hungersnot. Keine der Hoffnungen der Allianz des heiligen Egoismus hatte sich verwirklicht. Keine Revolution war entstanden, kein Abfall der Südstaaten von Preussen, keine Massenerkrankungen, kein grosses Sterben, keine Seuche, keine Pest.

    Aber eine eiserne Disziplin verlangte strengste Rationierung der vorhandenen Lebensmittel. In den Städten mussten sich Alle ohne Unterschied Entbehrungen auferlegen. Es verhungerte niemand, aber keiner hatte mehr Überfluss. Und mancher Kranke, mancher Greis begann unter dem Hungerkrieg zu leiden. Das konnte nicht ausbleiben

    England vermochte die deutsche Front nicht zu durchbrechen. Aber der Hunger schlug Deutschland Wunden, die es so aufrecht trug, wie nur ein Volk von solcher Selbstdisziplin und diesem Opfermut hierzu imstande war.

    „Ich werde nicht lange bei der Mutter bleiben können, sagte Hans Scholz, der Unterrichtsoffizier, der Held so vieler Erlebnisse, der jetzt seine Dienste dem Vaterlande im Innern weihen musste. „Ich habe Befehl erhalten, mich zu den Austauschinvaliden in die Schweiz zu begeben, um mit dem Elementarunterricht jener Erblindeten zu beginnen, für die keine Hoffnung mehr besteht. Deutsche und Österreicher werde ich in eigenen Kursen wieder das Vertrauen auf sich selbst, die Zuversicht in die eigene Kraft beizubringen haben.

    „Und da sei Gott vor, dass du deine heilige Pflicht meinetwegen vernachlässigst," unterbrach ihn die Rätin, die in dem Lehnstuhl lag und ihre Augen mit einem milden Leuchten auf diesen Sohn heftete, dessen Leid einst das ihre gewesen, dem sie geholfen hatte, kraftvoll ein bittres Schicksal zu tragen, das ihn um des Vaterlandes willen betroffen hatte. Freilich, die Frau an ihrer Seite war ihm mit unendlicher Demut zur Seite gestanden und hatte vielleicht noch mehr getan als sie selbst ...

    Diese Frau ... hochaufgerichtet stand sie neben der Mutter, ein Bild der Schönheit und edler Entsagung. Else, die Gattin von Hans Scholz. Sie beugte sich zu der Rätin nieder. „Mutter, ich werde, wenn du dich schwach fühlst, vielleicht doch beim Roten Kreuz vorstellig werden, dass eine andere Dame an meiner statt die Reise nach Russland unternimmt."

    Aber die alte Dame schüttelte energisch den Kopf. „Nein, Else, auch dieses Opfer nähme ich nicht an. Es brächte mir vielleicht kein Glück. Wie dürfte ich mein eigenes Schicksal, meine Wünsche und Hoffnungen jetzt vor das von hunderttausend Unglücklichen stellen? Nein, um Gottes willen, Else, führe den Gedanken nicht aus, ich bitte dich darum. Du wirst als Rote-Kreuz-Schwester nach Russland reisen und den Gefangenen, die dort schmachten, des Vaterlandes Gruss und Trost bringen. Ach, du Tapfere, wieviel Dank ist dir und ungezählten deines Geschlechtes Deutschland schuldig!"

    Else lächelte.

    „Wir wollen uns nichts darauf zu Gute tun, Mutter, wir deutschen Frauen. Wir wollen nur unsere Pflicht tun bis zum letzten Atemzuge, dem Schwure getreu, den wir denen da draussen gegeben, die vor Verdun und Arras bluten, weil der Trotz und die Raserei der Gegner uns den Frieden verweigert. Sag, Mutter, könnte man denn je das Buch von diesem deutschen Dulden und diesen Opfern schreiben? Könnte man all die Braven finden, die mit ihren rationierten Lebensmitteln sich unsagbare Opfer auferlegen, die mit allen Nerven mitarbeiten, den Aushungerungsplan Englands zu Schanden zu machen?"

    Alle schwiegen und blickten auf die Rätin, die leise nickte. Und alle hatten den gleichen Gedanken: Wenn man die kräftige Kost hätte, die die Kranke brauchte, all die wichtigen Nahrungsmittel, die wohl ein Gesunder entbehren kann, deren Verlust aber ein schwacher Körper nicht erträgt, dann würde die Rätin neu aufblühen — — — aber so!

    Da sass sie, still ergeben, in dem edlen Antlitz verhängnisvolle Schatten, die sich nicht mehr bannen liessen, eine Kämpferin wie ungezählte, von denen keine Kriegsgeschichte künden wird, eine Heldin, die im Dulden und Entsagen leistete, was die andern in unermüdlicher Ausdauer und unbezwinglicher Tapferkeit vollbrachten. —

    Ein junges Mädchen trat ein und gab den Gedanken eine andere Richtung. Sie trug ein schwarzes, einfaches Kleid, das blonde Haar war zu einem Knoten gesteckt, dessen Fülle in den Nacken geglitten war Ihre Augen umspannten das Zimmer mit einer warmen Zärtlichkeit. Die Herzen der Menschen schlugen ihr entgegen, denn ihre Lieblichkeit und Anmut nahm alle gefangen.

    „Violet, sagte die Rätin. „Schon zurück vom Markt?

    Violet grüsste die Offiziere und lächelte Else zu.

    „Ach liebste Mutter, ich habe mir alle Mühe gegeben, Milch zu erhalten, aber die Zufuhr nach Berlin stockt. Doch habe ich, setzte sie mit stolzem Augenaufschlag hinzu, „heute etwas mehr Butter erhalten, dazu Margarine. Schweinefleisch wird seltener, und das Gemüse ist wieder gestiegen. Aber etwas Obst konnte ich in genügender Menge erhalten, und bedeutend billiger, weil die Regierung gegen die Preistreiberei mit Höchstpreisen eingeschritten ist.

    Else lachte.

    „Ärmste! Was du für Sorgen hast!"

    „Hätte ich sie nicht, wer müsste sie dann statt meiner haben?"

    „Ich, natürlich ich, Violet, entgegnete Else. „Närrchen, als ob ich dir nicht Dank wüsste! Doch lege ab! Wir wollen sehen, was für Leckerbissen wir heute zusammenstellen werden, um die Mutter zu überraschen und die anspruchsvolleren Herren zu befriedigen. Besonders mein Schwager Franz wird von der Front her hübsch verwöhnt sein ... Die beiden Frauen gingen hinaus. Die Rätin blickte dem Mädchen, das mit seinen siebzehn Jahren noch ein halbes Kind war, mit leuchtendem Auge nach.

    Violet von Königsmarck war mit der Rätin eng befreundet. Sie hatte bisher bei ihrer Schwester Fredrichsen gewohnt. Aber Elsie war ihrem Gatten vor kurzem nach Holland gefolgt, wohin den deutschen Grosskaufmann seine Geschäfte riefen. Violet hatte keine Lust gehabt, ihr Vaterland zu verlassen und hatte der Rätin ihre Unterstützung im Haushalt angeboten, bis Elsie und ihr Gatte zurückkehrten. Es liefen allerlei Gerüchte um von Rüstungen in Holland und Schweden. Die Zeitungen dieser Länder hetzten zum Kriege. Man wusste nicht recht, woran man war. Violet jedenfalls fühlte sich von der stillen Häuslichkeit der Rätin angezogen und hatte sich bald unentbehrlich gemacht.

    Es verminderte die Sorgen der Söhne, zu wissen, dass dieses Kind die Mutter betreute. Der Arzt kam und erkundigte sich nach dem Befinden der Rätin. Er fühlte den Puls, sprach einige scherzhafte Worte, wie das so seine Art war von des Gatten Zeiten her, der nun schon so lange von seinen Kämpfen ausruhte, und nahm Franz Scholz beim Arm.

    Hans folgte.

    Im Nebenzimmer sagte der Arzt zu den beiden Söhnen: „Die Schwäche macht mir Sorge. Es muss unbedingt etwas geschehen, wenn wir nicht unliebsame Überraschungen erleben wollen. Ich schlage vor, Frau Scholz geht mit einer Person, die sie pflegt, in die bayrischen Berge. Die Höhenluft wird ihr gut tun. Und die Ernährung ist bei unseren mit glücklicheren Gesilden gesegneten Bundesbrüdern, gar auf dem Lande, eine ungleich günstigere wie hier."

    Die Offiziere beschlossen, den Rat des Arztes zu befolgen. Nach dem Mittagessen brachte Franz die Sache zur Sprache. Die Rätin wehrte sich zwar gegen den Gedanken, ihre engere Heimat in dem stillen Vorort zu verlassen, aber Violet war für den Plan Feuer und Flamme. Sie kannte Bayern von früheren Reisen her. Sie wusste Frau Scholz so vieles Schönes zu erzählen, dass die alte Frau, die nun in Kürze wieder alle ihre Lieben hinausziehen lassen musste in eine gefahrvolle, unsichere Zukunft, zustimmte.

    Der Tag der Abreise kam heran.

    Franz, der Hauptmann, hatte seinen Burschen nachkommen lassen, der die letzten Vorbereitungen mit Umsicht und Sorgfältigkeit erledigte. Martin Knesebeck war das Muster eines Burschen. Franz wusste ihn nicht genug zu rühmen. Gemeinsame Gefahren im Felde hatten beide einander nahe gebracht und die sozialen Unterschiede hatten sich verwischt.

    Martin kämpfte lange an der russischen Front, der Hauptmann hatte ihn sogar, nachdem er verwundet ins Lazarett gekommen war, aus den Augen verloren. Doch in den Herbstkämpfen des zweiten Jahres fand er ihn wieder, und nun blieben die Beiden von neuem beisammen. Martin hatte sich das eiserne Kreuz verdient, auf der Brust des Hauptmanns hingen längst mehrere hohe Auszeichnungen.

    Martin war ein schmucker Berliner Junge. Seit einem gewissen Erlebnis freilich war er nachdenklicher und stiller geworden wie früher.

    Es war dem Hauptmann nicht unbekannt, dass zwischen dem Hause des Buchbindermeisters Ohnesorg und Martin Knesebeck sich zarte Fäden spannen. Aber er liess sich nichts merken, denn in ein paar Tagen schon musste Franz ins Feld, diesmal nach Westen und dann nahm er den Martin mit. Wer wusste, was später kam.

    Und der Tag brach an, an welchem Alle, die die Liebe einte, voneinander Abschied nahmen. Man richtete es so ein, dass niemand in Berlin zurückbleiben musste. An einem Tage gingen alle auseinander, folgte jeder seiner Pflicht und dem Rufe höherer Gewalten. Dr. Hans Scholz, reiste nach der Schweiz.

    Else, seine Gattin, begleitete ihn zur Bahn. Sie trug bereits das Abzeichen der Schwestern vom Roten Kreuz. Sie nahm von dem geliebten Gatten Abschied, als gelte es nur eine kurze Trennung von wenigen Tagen. Die Zeit hatte für sie eine neue Bedeutung und andere Wertung als früher. Wie oft waren sie schon beisammen gestanden neben dem fauchenden Zuge und hatten sich die Hände gereicht mit der bangen Frage:

    Werden wir uns wiedersehen?

    Ihre Augen sprachen, was die Lippen verschwiegen. Dr. Scholz küsste seiner Gattin die Hand. In solchen Augenblicken, wenn er sich niederbeugte, sah sie nicht, dass seine Augen keinen Glanz und keine Sehkraft mehr hatten. Dass sie leblose dunkle Höhlen waren.

    In solchen Augenblicken wich das Leid, das namenlose Leid, das sie still und heiter trug wie eine Heldin, für Sekunden aus ihrem Herzen.

    Nun reiste er in die Schweiz, allein, ohne ihre Pflege, seiner Pflicht zu genügen. Freilich, er hatte sich eine Sicherheit anerzogen, als habe er nie vorher das Augenlicht besessen, als sei er nicht einmal an ihrem Arme tastend und hilflos einhergegangen, nachdem die Granate ihn mit Blindheit geschlagen hatte.

    Der Zug setzte sich in Bewegung.

    „Hans, bleib gesund! Ich komme bald zurück!"

    „Else! Mein Weib!" sagte der blinde Offizier leise. Die heisse Zärtlichkeit einer unsterblichen Liebe schwang im Ton der Worte. Sie unterdrückte die heiss aufsteigenden Tränen.

    Dann hatte ihn der Zug entführt.

    Eine Stunde später fuhr Franz Scholz, der Hauptmann, mit seinem Burschen Martin Knesebeck nach Flandern.

    „Die Engländer sollen dort die Franzosen ablösen, sagte er Else. „Das ist die letzte Neuigkeit.

    Er war im Generalstab festgehalten worden und hatte deshalb seinem Bruder nicht zum letzten mal die Hand reichen können. Die Rätin war infolge ihres Leidens zu Hause festgehalten.

    „Wenn du nach Russland reisest, Schwägerin, nimm den Weg über Warschau und grüss mir meine Gattin Sonja! Sag ihr, dass mein Herz ..."

    Da pfiff der Zug, Else nickte. Sie kämpfte gegen den Wind. Darum sah Franz Scholz nicht, dass sie weinte. In diesem Augenblick weinte sie. All der Schmerz, den dieser Krieg willkürlich ausstreute, erschütterte sie.

    „Leb wohl, Franz!"

    Und als der Zug schon aus der Halle fuhr, rief sie noch nach: „Kehr gesund heim!"

    Er verstand sie nicht, nickte nur.

    Am Abend verabschiedete sie sich von der Rätin. Lange hielten sich die beiden Frauen umschlungen. Immer wieder küsste die alte Frau dieses liebe Gesicht, diese warmen jungen Lippen.

    Immer wieder strich sie segnend über das Haar ihrer Schwiegertochter. „Else, bei allen Gefahren, in jeder Lage, in der du dich befindest, denk daran, dass Hans niemanden hat als dich! Hans, mein Sohn!"

    „Mutter!"

    Und dann war Schweigen.

    Mit dem Nachtzug reiste Else Scholz mit noch zwei Schwestern nach Thorn. Sie sollten die russischen Gefangenenlager besuchen und Bericht erstatten. Sie sollten den deutschen Gefangenen in Asien Liebesgaben überbringen und ihnen sagen: Verzweifelt nicht! Das Vaterland kämpft bis zum letzten Atemzuge und vergisst euch nicht!

    Frühling in Bayern.

    Wenn man vom Norden ins sonnenreiche Algäu kommt, ist’s wie der Eintritt in eine neue Welt voll ungeahnter Wunder, die der Süddeutsche, verwöhnt durch Firnensilhouetten, tiefblauen Hochlandhimmel und ein Übermass von starken Tannen und duftschweren Fichtenwäldern als selbstverständlich hinnimmt.

    Längst liegt die sandige Mark, die karge Mutter schmalbrüstiger Föhren, zurück. Im Nebel der Erinnerung fliegen Brandenburgs erdbraune Strassen, die sich nach langer Wanderung mühselig durch Frankens kleine, armselige Dörfer winden und nur von den herausgeputzten Städten ehrfürchtig halt machen, sie im weiten Umkreis umgehend, vorüber. Der D - Zug jagte durch violette Heide. Riesenteppiche, mit Purpur durchwebt, von Sonnengold gesäumt, bannten den Blick, bis des Thüringer Walds letzte Ausläufer vorübergehend die Erwartung auf das Hochland steigerten. Überall stand schon der geschäftige Frühling am Pfluge und schüttelte die Schollen. Bis Bitterfeld hatte man noch an den Grunewald gedacht. Armselige Sonntags-Illusion! Die Freiheit der Natur begann, als die letzten vorgeschobenen Vorstadthäuser Berlins im Morgennebel versanken. Die Wahrzeichen des engbegrenzten Besitzes und engherziger Besitzer verschwanden. Kein Stachelzaun, keine Riesenmauer schreckte die Sehnsucht mehr vor den ersten Frühlingsblüten zurück. Immer reicher war die Welt, je mehr sie sich dem Süden frohlockend entgegendehnte. Kleine, blitzblanke Häuschen, wie zierliches Kinderspielzeug, säumten fast kokett die Strassen, die immer sauberer sich weiteten. Wie Riesenbänder, die den fruchtschwellenden Strauss des Frühlings zusammenhielten. Man übersah mit Absicht die rauchenden Schlote der Industrie. Je weiter man nach Süden kommt, desto mehr schwindet ihr sicheres Auftreten. Es gibt Naturgesetze der Schönheit: Eine Baumwollindustrie auf Capri brächte selbst die goldenen Orangen zum Erröten.

    Ein dunstiger Himmel spannte sich über das Dachauer Moos; fahles Blau schimmerte durch grauweissen Wolkenflor. Die Stationen flogen immer schneller vorüber, diese Knoten wirrer Eisengarne, die den Erdball umspannen.

    Der Abend nahte ...

    In München übernachteten Beide. Mit dem neuen Tage fuhren sie weiter. Ein Morgen brach an, hingehaucht von den Sendboten des Frühlings. Der Atem der Freude wehte durch die Wagenfenster. Der Erdgeruch keimender Lust schwellte jede Menschenbrust. Auf den Telegraphendrähten wiegten sich die Stare Ein blauer Mauersegler begleitete flüchtig den Zug. Buchloe flog vorüber, Kempten nahte, und mit der lieblichen Illerstadt stieg des Allgäus dämonische Gebirgswelt, die Lieblichkeit ihrer Täler trutzig bergend, aus dem Dunstkreis des frischen Morgens. Schon der Stoffelberg rechts ist respektabel; doch wie der mächtige Grünten sich hinter dem Rottachberge hob und die Oberstdorfer Gipfel immer näher traten, da stieg das Auge Violets in staunendem Schweigen zur Daumengruppe empor. Feierlich klar lag das Rubihorn, gekrönt von den Schneehauben der Krottenköpfe. Und nun trat majestätisch, im Hermelin von Eis und Schnee, das glitzernde Diadem blaugrüner Gletscher tragend, die Mädelegabel in den Gesichtskreis. Der Wilde Mann wollte dem Zug den Eintritt wehren, das Hohe Licht gab ihm die Weihe der Hochwelt. Das Zwölferhorn wies ins Ostrachtal, das lieblich sich öffnet. Immenstadt, das schamhaft sich ans Immenstädter Horn schmiegt, blieb links zurück. Der Grünten wandte sich nach allen Seiten und deckte sich schliesslich drohend durch zwei mächtige Hörner. Die schlängelnde Lokalbahn brachte die Reisenden mit Glockengeläute, das neugierige Kühe von dem Gleise schreckte, Oberstdorf entgegen. Fischen grüsste mit stolzem Kirchturm. Und nun breitete sich das romantische Geisalptal mit Nebelhorn und Entschenkopf — der Himmelschrofen schob den Fuss vor, Halt gebietend.

    In Oberstdorf stiegen Frau Scholz und Violet aus.

    Eingebettet in grüne Triften, überragt von eisgekrönten Firnen, lag blitzblank das schmucke Dorf. Vom Hochwald schwang sich ozongetränkte Luft ins Tal. Die Kirchenglocken läuteten zum Mittagsgebet.

    Die Bauern im Sonntagsstaat, der schon die Frische des Frühlings zeigte, sammelten sich am oberm Marktplatz. Die Frauen mit kräftig, manchmal fast herb geschnittenen Gesichtern, verloren sich, die Röcke über schneeige Linnen gebauscht, mit kurzen Schritten durch die Gassen. Die sehnige Kraftfigur des Bürgermeisters fiel auf. Die Potsdamer Wachtparade des alten Fritz hatte keine mächtigeren Gestalten. Der freundliche Marksekretär freute sich, dem kleinen Rathaus gegenüber mit dem Pferderelief den Rücken kehren zu können. Die grüne Uniform des Grenzjägeroffiziers leuchtete die Strasse herauf; der martialische Reiter strebte dem „Mohren" zu, wo mählig sich der Stammtisch belebte.

    Die Vorfrühlingssonne lag glitzernd auf den sauberen Dielen, und man hörte, wenn es für Sekunden still war, eine Schwarzdrosselpfeife. Eine heitere Gemütlichkeit lag über dem Dorf. Die Menschen tauten auf, die Strassen auch. Das letztere hatte seine schlimmen Seiten; doch die Sonne liess den Morast vergessen. Eine Schar froher Kinder begegnete den Frauen. Es waren „Stadtkinder," die bäuerische Herzlichkeit in Pflege nahm.

    Am Rande des Dörfchens, wo ein kleines Kapellchen, von dem Münchner Künstler Schraudolpf bereichert, die Strasse nach Wasach schmückt, klang das Glöckchen und jubilierend stieg eine Lerche zum sonnenklaren Firmament empor. Dort war der Rätin und Violets neue Heimat.

    Eine freundliche Bäuerin, blitzsauber, begrüsste sie. Der Mann war im Feld. Und an der geschnitzten Türe stand das flammende Manifest des Krieges.

    Der neue Erlass des bayrischen Ministeriums.

    Während die Rätin eintrat in die niedre Bauernstube, las Violet:

    Bauern, Bäuerinnen!

    Ihr müsst jetzt den Krieg gewinnen helfen; an Euch liegt es jetzt, dass der Vernichtungsplan unserer Feinde zuschanden werde!

    Die Feinde wollten uns vernichten durch ihre Übermacht an Menschen: Von allen Enden der Welt führten sie ihre Hilfsvölker gegen uns heran: vergebens — von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer, von Flandern bis zum Elsass steht die stählerne Mauer unserer Truppen.

    Sie wollten uns vernichten durch ihre Überzahl von Geschossen: Jahrelang haben die

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