Freischwimmen
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Über dieses E-Book
und die Welt kann ein grausamer Ort sein. Caleb Azumah Nelson erzählt auf schmerzlich schöne Weise die große Liebesgeschichte zweier junger Menschen und erkundet zugleich Fragen von Identität, Diskriminierung und Unterdrückung. Wie (über)lebt man in einer Welt, in der man nicht gesehen wird, in einer Gesellschaft, die einem ein Label aufdrückt? Was heißt es, jedes Mal Angst haben zu müssen, sobald man seine Wohnung verlässt, was, verletzlich zu sein, wenn nur Stärke zu zählen scheint? Und wie fühlt es sich an, in der Liebe Geborgenheit zu finden – und wieder zu verlieren? Caleb Azumah Nelson hat einen der aufre- gendsten und aufrichtigsten, einen der wichtigsten Debütromane des Jahres geschrieben.
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Buchvorschau
Freischwimmen - Caleb Azumah Nelson
Für Es
Ihr Weg führte so unausweichlich aufeinander zu, dass er allerhand Abzweigungen auf der Strecke begünstigte.
Zadie Smith
Prolog
Beim Friseur war es seltsam still. Nur das dumpfe Summen der Rasierer auf der weichen Kopfhaut. Das war, bevor der Friseur merkte, wie du sie im Spiegel beobachtet hast, während er ihr die Haare schnitt und dann ihren Blick sah. Er drehte sich zu dir um. Seine hübschen wurzelartigen Dreadlocks tanzten vor Aufregung, als er sagte:
»Zwischen euch ist etwas. Ich weiß nicht, was es ist, aber irgendwas ist da. Manche nennen es Beziehung, manche nennen es Freundschaft, manche nennen es Liebe, aber zwischen euch beiden, da ist irgendwas.«
Ihr saht euch mit diesem staunenden Blick an, über den du immer wieder erschrickst, seit ihr euch kennt. Ihr beide, wie verhedderte Kopfhörerkabel, gefangen in diesem Etwas. Ein glücklicher Zufall. Ein chaotisches Wunder.
Eure Blicke trennten sich kurz, dein Atem ging schneller, wie wenn ein Ferngespräch unterbrochen wird und plötzlich an Gewicht gewinnt. Du solltest bald lernen, dass die Liebe dir Sorgen macht, aber sie hat dich auch schön gemacht. Die Liebe hat dich Schwarz gemacht, das heißt, in ihrer Gegenwart warst du es am stärksten. Das war kein Grund zur Besorgnis, im Gegenteil! Ihr konntet ihr selbst sein.
Später, als ihr durch die Dunkelheit lieft, warst du überwältigt. Du meintest, sie soll dich nicht ansehen, denn wenn eure Blicke sich begegnen, müsstest du ehrlich sein. Erinnerst du dich an Baldwins Worte? Ich will nur ein ehrlicher Mensch sein und ein guter Schriftsteller. Hmm. Ehrlicher Mensch. Du bist ehrlich, hier und jetzt.
Du bist hier, um darüber zu sprechen, was es bedeutet, deine beste Freundin zu lieben. Frage: Wenn flexen bedeutet, möglichst viel mit möglichst wenig Worten zu sagen, gibt es dann ein größeres Flexen als die Liebe? Du kannst dich nirgends verstecken, kannst nirgendwohin. Ein direkter Blick.
Ein Blick, der keine Worte braucht; dies ist eine ehrliche Begegnung.
Du wolltest von Scham sprechen und ihrem Verhältnis zum Begehren. Man sollte sich nicht schämen, offen zu sagen: Ich will das. Man sollte sich nicht schämen, nicht zu wissen, was man will.
Du wolltest sie fragen, ob sie sich erinnert, wie dringlich dieser Kuss war. Im Dunkeln in ihr Bettzeug gewickelt. Kein einziges Wort. Eine ehrliche Begegnung. Du hast nichts als ihren vertrauten Körper gesehen. Du hast ihrem sanften, verhaltenen Atem gelauscht und wusstest, was du wolltest.
Es ist seltsam, die beste Freundin zu begehren; zwei Paar Hände, die Grenzen überschreiten und um Verzeihung statt um Erlaubnis bitten. Ein »Ist das okay?« kurz danach.
Manchmal weinst du im Dunkeln.
1
Am Abend, als ihr euch kennengelernt habt, ein Abend, den ihr beide als zu kurz dafür bezeichnet, nimmst du deinen Freund Samuel zur Seite. Ihr seid mit ein paar Leuten im Keller eines Pubs im Südosten von London. Eine Geburtstagsfeier. Die meisten kurz vor betrunken, oder angeheitert, je nachdem, wie man will.
»Was ist los?«
»Ich mach so was normalerweise nicht.«
»Normalerweise heißt, du hast es schon getan.«
»Nein, großes Ehrenwort«, sagst du. »Aber du musst mich deiner Freundin vorstellen.«
Du würdest gern sagen, dass in dem Moment der ältere Herr, der Platten auflegte, von einem schnellen Stück, so was wie »Move On Up« von Curtis Mayfield, zu einem anderen schnellen überging. Du würdest gern sagen, dass gerade »Fight the Power« von den Isley Brothers lief, als du einen Wunsch aussprachst, den du nicht ganz verstanden hast, dem du aber nachgehen musstest. Du würdest gern sagen, dass hinter dir die Tanzfläche bebte und sich die jungen Leute wie in den Achtzigern bewegten, als diese Art, sich zu bewegen, eine der wenigen Freiheiten war, die denen, die vor euch kamen, gewährt wurden. Und da du dich daran erinnerst, steht es dir frei. Aber du hast versprochen, ehrlich zu sein. In Wirklichkeit hat dich diese Frau derart aus dem Konzept gebracht, dass du ihr die Hand gereicht hast, statt sie gleich zu umarmen, und dann mit den Armen ins Rudern gekommen bist.
»Hi«, sagst du.
»Hallo.«
Sie lächelt ein bisschen. Du weißt nicht, was du sagen sollst. Du willst die Lücke füllen, aber es kommt nichts. Ihr steht so da, seht euch an, ohne dass das Schweigen sich peinlich anfühlt. Du stellst dir vor, dass ihr Blick deinen widerspiegelt, einen neugierigen Blick.
»Ihr seid beide Künstler«, sagt Samuel, dankenswerterweise. »Sie ist eine sehr gute Tänzerin.«
Die Frau schüttelt den Kopf. »Und du?«, fragt sie. »Was machst du?«
»Er ist Fotograf.«
»Fotograf?«, wiederholt die Frau.
»Ich mache Fotos, manchmal.«
»Klingt, als wärst du Fotograf.«
»Manchmal, manchmal.«
»Kokett.« Schüchtern, denkst du. Du überspringst das Gespräch und siehst zu, wie sie dir folgt. Ein roter Lichtstrahl fällt auf ihr Gesicht, du erkennst etwas darin, Güte vielleicht, ihre Augen sehen deine Hände sprechen. Ihr Tonfall kommt dir vertraut vor, definitiv Südlondon. Definitiv ein Ort, an dem du dich eher zu Hause fühlen würdest. Was bedeutet, dass es Dinge gibt, die ihr beide in eurem Innersten wisst und aussprecht, die hier aber ungesagt bleiben.
»Willst du was trinken? Kann ich dir was zu trinken holen?« Du drehst dich um und siehst Samuel zum ersten Mal seit Beginn des Gesprächs. Er hat sich zurückgezogen, ist leicht in sich zusammengesackt, er lächelt, aber sein Körper verrät, dass er sich ausgeschlossen fühlt. Du hast Gewissensbisse und willst ihn wieder mit einbeziehen.
»Wollt ihr was trinken?«
Ihr Gesicht öffnet sich, amüsiert, zugewandt, gleichzeitig spürst du eine Hand auf deinem Ellbogen. Du wirst weggezogen; du wirst gebraucht. Die Tanzfläche hat sich etwas geleert. Es gibt Kuchen und Kerzen und ein versuchtes mehrstimmiges »Happy Birthday«. Du lässt die Kamera von der Schulter nach vorn gleiten und richtest sie auf das Geburtstagskind, Nina, während sie sich etwas wünscht, mit der einzigen Kerze auf dem Kuchen als kleinem Sonnenschein. Als die Menge sich zerstreut, fühlst du dich in alle möglichen Richtungen gezogen. Als einziger Fotograf ist es deine Pflicht, zu dokumentieren.
Die Musik geht wieder an. Die Leute stehen in kleinen Gruppen zusammen, halten inne, wenn du ihre freundlichen Gesichter im Halbdunkel ins Visier nimmst. Der ältere Herr, der Platten auflegt, macht im selben Tempo weiter. »Could Heaven Ever Be Like This« von Idris Muhammad passt gut.
Du trittst aus der Menge an die Bar und reckst deinen langen Hals in mehrere Richtungen. Und jetzt, als du dich noch mal nach der Frau umsiehst, an besagtem Abend, einem Abend, den ihr beide als zu kurz dafür bezeichnet, stellst du fest, dass sie weg ist.
2
Es sind Wintermonate. Ein warmer Winter – an dem Abend, als du sie kennengelernt hast, hattest du die Entfernung vom Bahnhof zum Pub falsch eingeschätzt, und nachdem du eine halbe Stunde gelaufen warst, nur im Hemd, kamst du mit Schweiß auf der Stirn an –, trotzdem: Es ist Winter. Die falsche Jahreszeit, um verknallt zu sein. Jemanden an einem Sommerabend kennenzulernen, ist, wie einer toten Flamme neues Leben einzuhauchen. Du läufst dann eher mit diesem Jemand draußen herum, allein schon um aus dem Loch rauszukommen, in dem du wohnst. Vielleicht wird dir eine Zigarette angeboten, und du nimmst einen Zug und kneifst die Augen zusammen, wenn das Nikotin dein Hirn kitzelt und du den Rauch in die zähe Hitze einer Londoner Nacht ausstößt. Vielleicht schaust du in den Himmel und stellst fest, dass das Blau in diesen Monaten keine richtige Tiefe hat. Im Winter bist du froh, die Asche wegzuschnippen und nach Hause zu gehen.
Du erwähnst die Frau deinem kleinen Bruder gegenüber, der auch auf der Party war, entwirfst für ihn ein Bild aus deinen Erinnerungen an den Abend, wie wenn man Melodiefetzen zu einem Song zusammenfügt.
»Moment … und ich hab sie nicht gesehen?«
»Sie war groß. Relativ groß.«
»Okay.«
»Ganz in Schwarz. Braids unter der Baskenmütze. Ziemlich cool.«
»Alles klar, ist mir nicht aufgefallen.«
»Die Bar sieht so aus.« Du formst mit den Armen ein L. »Ich steh hier«, sagst du und zeigst auf die Biegung des L.
»Warte mal.«
»Ja?« Du bist gereizt.
»Hilft es, wenn ich dir sage, dass ich an dem Abend komplett dicht war und mich an nichts erinnere, Punkt?«
»Du bist zu nichts zu gebrauchen.«
»Nein, ich bin nur betrunken. Oft. Und wie geht es weiter?«
»Was meinst du?«
Ihr sitzt im Wohnzimmer und nippt an eurem Tee. Die Nadel kratzt leise über das Plastik am Ende der Platte, ein meditativer Puls.
»Du triffst die Liebe deines Lebens …«
»Das hab ich nicht gesagt.«
»›Ich war auf einer Party und hab so eine, so eine Präsenz gespürt, und als ich rübersah, war da ein Mädchen, nein, eine Frau, die hat mir einfach den Atem geraubt.‹«
»Hau ab«, sagst du und lässt dich aufs Sofa fallen.
»Was, wenn du sie nie wiedersiehst?«
»Dann lege ich ein Zölibatsgelübde ab und verbringe den Rest meines Lebens in den Bergen. Und das nächste auch.«
»Dramatisch.«
»Was würdest du tun?«
Er zuckt mit den Schultern und steht auf, um die Platte umzudrehen.
»Da ist noch was«, sagst du.
»Was?«
Du schaust an die Decke. »Sie ist eigentlich mit Samuel zusammen. Er hat uns vorgestellt.«
»Hä?«
»Hab ich erst erfahren, nachdem wir uns unterhalten hatten. Ich glaube nicht, dass das schon länger geht.«
»Was Ernstes?«
»Ich schätze ja. Ich hab gesehen, wie sie sich in der Ecke der Bar geküsst haben.«
Freddie lacht und hebt die Hände.
»Okay, ich verurteile dich nicht, Mann. Alles nicht so einfach. Aber ja, vielleicht solltest du …« Er imitiert mit den Fingern eine Schere.
Wie befreit man sich vom Begehren? Es auszusprechen bedeutet, den Samen zu säen, im Wissen, dass er aufgehen wird, so oder so. Es bedeutet, etwas hinzunehmen, das den Verstand übersteigt.
Doch selbst wenn dieser Samen aufgeht, selbst wenn er lebt, atmet, gedeiht, gibt es keine Erwiderungsgarantie. Oder dass man den anderen je wiedersieht. Und hier kommt der Sommer ins Spiel. Selbst wenn ihr in einer nicht enden wollenden Nacht doch auseinandergeht, selbst wenn sich eure Wege trennen, selbst wenn du am Ende allein einschläfst und nur die Erinnerung an Nähe bleibt, wird es ein Sommerstrahl sein, der sich durch den Spalt in deinem Vorhang schiebt. Und morgen ein langer Tag und eine lange Nacht. Noch so ein Loch oder ein Barbecue mit wenig Essen und viel zu trinken. Noch eine Fremde, die dich im Dunkeln angrinst oder von der anderen Seite des Gartens zu dir rübersieht. Dich am Arm berührt, während ihr beide betrunken zu laut über einen schlechten Witz lacht. Und dann atemlos durch die Tür fallt, euch an Fleischfalten packt oder stumm nach der Toilette sucht in einer Wohnung, die nicht deine ist. Im Winter kommst du meistens gar nicht aus dem Haus.
Außerdem, um das Begehren zu überwinden, ist es manchmal besser, es aufgehen zu lassen. Es zu spüren, sich davon überrumpeln zu lassen, den Schmerz festzuhalten. Was ist besser, als zu glauben, man bewege sich auf die Liebe zu?
3
Du hast deine Großmutter verloren, in dem Sommer, als du sicher warst, du könntest nicht noch mehr verlieren. Du wusstest es, bevor du es wusstest. Es war nicht das ferne Donnergrollen wie ein hungriger Magen. Es war nicht der Himmel, so grau, dass du Angst hattest, es werde nie mehr Licht. Es war nicht die angespannte Stimme deiner Mutter, die dich bat, nicht das Haus zu verlassen, bevor sie da ist. Du wusstest es einfach.
Du kehrst zurück in die Erinnerung an eine andere Zeit. Du sitzt hinter dem Grundstück in Ghana, wo dich die Gluthitze so spät am Tag zum Schwitzen bringt. Während deine Großmutter auf einem wackligen Hocker sitzt und die Zutaten für das Essen klein schneidet, erzählst du ihr, du hättest jemanden in einer Bar kennengelernt, und dass du es wusstest, bevor du es wusstest. Sie wird lächeln und in sich hineinlachen und dich auffordern weiterzusprechen. Du wirst ihr erzählen, die Frau sei schlank gewesen, aber groß, habe ein gutes Auftreten, nicht so, als wolle sie einen einschüchtern oder abwimmeln, sondern so, dass es Sicherheit ausstrahlte. Sie hatte etwas Freundliches an sich und nichts dagegen, als du sie umarmt hast.
Was noch?, wird deine Großmutter fragen.
Hmm. Du erzählst ihr, dass ihr beide heruntergespielt habt, was ihr macht, was euch wichtig ist. Da wird deine Großmutter stutzen. Warum?, wird sie fragen. Du weißt es nicht. Vielleicht, weil ihr beide etwas verloren habt in dem Jahr, und obwohl ihr euch immer wieder gesagt habt, ihr könntet nicht mehr verlieren, ging es so weiter.
Also? Im Schatten ist kein Trost, wird deine Großmutter sagen.
Ich