Sommerfrische
Von Esther Kinsky
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Über dieses E-Book
Irgendwo am Rande der Welt und doch mitten in Europa träumen Menschen von der Liebe und der Freiheit. Esther Kinsky erzählt die betörende Geschichte eines drückend heißen Sommers und einer tragisch scheiternden Liebe, dort, wo sich im Rhythmus der Jahreszeiten alles ändert und doch gleich bleibt.
Üdülő, eine Feriensiedlung am Fluss, wird alljährlich zum Zufluchtsort vor der unerträglichen Hitze. Es ist der Ort der Sehnsucht, der Linderung verspricht und Träume von Liebe und Freiheit weckt. Für jeden hat Üdülö eine andere Bedeutung; als jedoch eine Frau aus der Fremde sich dort ihren Traum von einem anderen Leben erfüllen will, kommt Verwirrung in den Wellenschlag des Ewiggleichen. Der Refrain eines Volkslieds, »Eile nicht in die Fremde«, geht ihr nicht mehr aus dem Kopf - und doch überhört sie die Warnung.
Esther Kinsky führt mit »Sommerfrische«, ihrem virtuosen ersten Roman, den Leser auf eine Reise, die ihn verändert zurücklässt. Ihre zarte und reiche Sprache wird zum Auge und zur Haut des Lesers, der die drückende Hitze, die Trägheit des Dorfs zu sehen und zu fühlen glaubt. Das Fremde hat im ewiggleichen Rhythmus der Jahreszeiten keine Chance, es wird von der nächsten jahreszeitlichen Flut hinweggeschwemmt.
Esther Kinsky
Esther Kinsky, 1956 in Engelskirchen geboren, lebt in Berlin und in Battonya/Ungarn, nahe der Grenze zu Rumänien und Serbien. Sie ist Schriftstellerin und Übersetzerin aus dem Polnischen, Russischen und Englischen (u. a. Henry D. Thoreau, Lob der Wildnis). 2009 war sie für den Übersetzerpreis der Leipziger Buchmesse nominiert und erhielt den Paul-Celan-Preis. In dem Essayband Fremdsprechen (2013) reflektiert sie das Verhältnis von Texten und ihren Übersetzungen. Seit 2010 sind drei Gedichtbände erschienen: die ungerührte schrift des jahrs (2010), Aufbruch nach Patagonien (2012) und Naturschutzgebiet (2013). 2014 veröffentlichte sie den Roman Am Fluß, der ebenso wie ihr Roman Banatsko (2011) auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis stand, und 2015 mit dem deutsch-französischen Franz-Hessel-Preis ausgezeichnet wurde.Sie bekleidet im Wintersemester 2017/2018 die August-Wilhelm-von-Schlegel-Gastprofessur Poetik der Übersetzung an der Freien Universität Berlin 2015 wurde ihr der Kranichsteiner Literaturpreis zuerkannt. Aus der Preisbegründung: »Am Fluß ist ein Roman von packender Intensität. Mit behutsamer Präzision nimmt Esther Kinsky armselige Geschäfte, schäbige Reihenhäuser, Stadtbrachen und sumpfige Treidelpfade in den Blick, entwirft die Topographie eines Londoner Vororts und stößt auf Spuren der eigenen Vergangenheit. Durch ihre bildhafte Sprache gewinnt sie den Randbezirken der Wirklichkeit, die zu Abbildern eines seelischen Zustandes werden, poetische Facetten ab. Ihre mäandrierenden Erkundungen folgen den Ausläufern des River Lea und spülen Geschichten von seltsamer Schönheit an die Oberfläche.« 2020 wurde sie mit dem Deutschen Preis für Nature Writing ausgezeichnet.
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Am Fluß Bewertung: 4 von 5 Sternen4/5Fremdsprechen Bewertung: 4 von 5 Sternen4/5Banatsko Bewertung: 2 von 5 Sternen2/5
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Buchvorschau
Sommerfrische - Esther Kinsky
Insel
üdülő
An das Hitzejahr erinnern sich alle. Das Jahr, als der Fluss zu tief stand, um auch nur an den Uferbüschen zu lecken, als die Erde schon im April vor Hitze platzte und sprang, eine Scherbenerde, über die der Wind die grauen Schlangenhäute wehte, sogar Fußstapfen vom vergangenen Jahr hatten sich in der Erde bewahrt und bildeten jetzt Risse und Klüfte, die Zehenmulden spalteten sich von der Rille der Fußkante, die sie mit der Fersengrube verband, und kein Regen kam, um über diese Klüfte hinwegzuwaschen.
Man freute sich über das Ausbleiben der Flut, schon im April kamen die Kozakjungs, um das Gras vor und hinter ihrer Laube zu mähen, mit Autos und Motorrädern kamen sie wie jedes Jahr, einen Kasten Bier nach dem anderen luden sie aus, stellten ihre Radios auf, sie lachten, grölten fast schon am frühen Morgen, schlugen einander auf die Schultern, froh wie jeder, nicht mit dem zähen Ausräumen von Flussschlamm nach dem Hochwasser beginnen zu müssen. In diesem Winter war alles trocken geblieben, die Kozakjungs stellten die Radios laut und brachten ihr Häuschen in Ordnung, innen und außen, und wenn ihnen ein Lied gefiel, sangen sie mit. Sie sangen laut und gerne, im üdülő nannte man sie auch den Männerchor, weil sie alles übertönten. Die Kozakjungs waren eine große Familie, Väter und Söhne und Schwäger, zum Aufräumen ließen sie Frauen und Kinder daheim und waren Männer in der Wildnis des Frühlings am Fluss. Sie schufteten den ganzen Tag rings um ihr Häuschen auf Hochwasserstelzen, die Bäume rauschten noch laublos über ihren Köpfen, Unkraut wurde ausgerissen, Altgras geschnitten und gesenst, die schiefe Kinderschaukel gerichtet, die Betten ausgeklopft und die Stube ausgefegt, auf dass zum Sommer ihre weichen, breiten, weißen Frauen und ihre weinerlichen Kinder Einzug halten konnten, Die ganze Sippe, wie sie zu sagten pflegten, Das ist unser Sippenreich, erklärten sie mit ausholender Gebärde und Blick auf ihr Stelzenhaus und den sumpfigen Schattengarten dahinter. Im Frühling des Hitzejahrs stank es nicht so wie in den sonstigen Jahren, denn der Flussschlamm mitsamt seinem kriechenden Ungeziefer saß nicht in den Ritzen und Ecken, der Fluss hatte keine Toten oder Totenteile im Gestrüpp gelassen, gespreizte Grauslichkeiten, die der Mensch im Leben nicht vergisst. Der Wind wehte durch die engen Schlafkammern und die geputzte Stube, nur Staub war da, Fliegenleichen, vertrocknete Motten und Schmetterlinge mit einem lila Auge auf jedem Flügel und toten Körpern wie kleingeschrumpfte Ungeheuer.
Als die Kozakjungs aufgeräumt hatten, öffnete Lacibácsi seine Kneipe im üdülő, nur zur Probe, aber die Motorradfahrer, Kozakfreunde unter ihnen, fanden sich ein, wie auf ein fernes Signal, und ein paar Mädchen, und so wurde der üdülő für den Sommer eingefeiert, wie sie es nannten, Das ist ja schon ein Ritual, sagte Lacibácsi, denn das war jedes Jahr so, auch nach dem schlimmsten Hochwasser. Die Kozaks sangen, die Motorradfahrer ließen die Maschinen aufbrausen, die Mädchen grinsten über ihrer Gänsehaut und gingen mit den Kozaks heim, um das aufgeräumte Stelzenhäuschen anzusehen, und am nächsten Morgen standen sie müde und breitbeinig unwohl an der Theke der fast wieder geschlossenen Kneipe, tranken Kaffee, untersuchten ihre gebrochenen und gerissenen Fingernägel. Der ganze Männerchor, sagten sie zu Lacibácsi an der Theke, Stell dir das mal vor, der ganze Männerchor, und sie kicherten heiser wie der kehlkopfkranke Lacibácsi. Einmal nannte jemand die Kozakjungs nicht Männerchor sondern Donkosaken, das war ein Scherz, endete jedoch mit der gröbsten Abreibung in der friedlichen Geschichte des üdülő, der ein Zufluchtsort der Ruhe war – ungeachtet des Schlachtengetümmels vergangener Zeiten, das hier über jeden Flecken Land zwischen den Flüssen, Bächen und Rinnsalen gewogt hatte – hier, wo praktisch jeder Quadratzentimeter durchblutet ist, sagte Lacibácsi gern. Die Kozakjungs hielten auf die Reinheit ihrer Herkunft, Reiner Ungar, sagten sie gern von sich selbst, voneinander, anerkennend und stolz, Reinerungarreinerungar, das klang harmlos, die Kozaks hatten keine Feinde, gegen die sie ihre Reinheit zu verteidigen hatten, nicht einmal die Donkosaken.
Später, wenn der Sommer da ist, kommen die Kozakjungs mit ihren Frauen, und die Mädchen haben nichts mehr zu melden, die Frauen sind dick und weiß, mit Fleisch fängt man einen Kozak, heißt es im Männerchor nicht zu Unrecht, und der Sommer verläuft unter Singen und kreischendem Lachen, in dem das Weinen der blassen zankenden Kinder untergeht. Die Kozakjungs kommen und gehen, immer ist eine Riege da, um die Frauen und Kinder zu hüten und vor Unbill zu bewahren, während die anderen jenseits des üdülő den Kozakwohlstand mehren, das schlingernde Schiff der Geschäfte Hab und Gut entgegensteuern.
Die meisten Frauen im üdülő heißen Zsuzsa oder Marika. Sie stehen im Bikini auf den Sandwegen zwischen den Lauben, der Wind streicht ihnen über die Stirn, sie blinzeln in die Sonne, rufen einander mit heiseren Stimmen, Der Attila hat eine Neue, rufen sie sich zu, Die ganze Nacht brennt da Licht, die Rosen müssen auch noch geschnitten werden, keine Rose ohne Dorn, Marika, mein Leben, Zsuzsika, meine Süße, so sagt man hier zueinander, mein Leben, meine Süße, borg mir etwas Paprika zum Huhn, mein Leben, Zucker für die Süßspeis, ihre Schenkel reiben aneinander, wenn sie auf hochhackigen Glitzerschlappen durch den graugelben Sand stolzieren und ihr Fleisch von Gartentor zu Gartentor tragen, der Wind weht Staub, immer Staub zwischen ihren Füßen hin und macht die Zehen und Fußsohlen graugelb, wenn der Sommer vorbei ist, haben die Riemen der Glitzerschlappen einen hellen zarten Streifen auf dem graugelben Sommerfuß behütet.
Die Männer haben ihre Männernamen, Feri und Tibi, Attila und Zoli, sie liegen im Schatten und starren mit halbgeschlossenen Augen durch die Lücken im Spalier, hängen Träumen nach, fürchten sich vor dem Rascheln im Unter- und Hintergehölz, sie gleiten von Traum zu Traum, von einer Untätigkeit zur anderen, raffen sich schließlich aus ihren Liegen auf, um zu wissen, ob sie noch stärker sind als der Schlaf.
Am Nachmittag harken sie die Pfade in ihren Gärten, ihre kleinen Träume von der großen Ordnung fahren sie im Kofferraum des Autos hier hinaus in den üdülő und arbeiten daran, an den Stelzenhäuschen und Lauben mit Rosenspalieren, Weinranken und Tomatenstauden, in den Sommerauen am Fluss. Schwarze Schlangen ruhen unbehelligt auf den Schwellen der kleinen Häuser, während die Bewohner im Freien fernsehen, dösen, träumen, die Schlangen sind die kleine stille Botschaft der Wildnis an den üdülő, ein Schwemmlandgruß, der auch im trockenen schwemmlosen Hitzejahr gilt.
Gelächterwolken, Streitfetzen, Schweigen treiben wolkenweise durch den Abend, ein fremdes Schweigen bleibt im Mückengitter von zwei Lachern hängen und schämt sich, ein Kreischen, Keuchen, Atemhasten lässt sich erschöpft auf dem Weinspalier nieder, in dem es von bitteren Wortschnitzen wimmelt, die nicht wissen wohin. Und alles ruht in der großen Beuge der Autobrücke über den Fluss, im Spuckfeld der Lastwagenfahrer, die doch nur träumen können vom süßen Leben im üdülő.
Schrotthof
Lacibácsi hütete den Schrotthof, dort, wo die Straßen sich kreuzen. Er stand am Schrotttor und wartete auf die großen Kranwagen, die seinen Schrott holen sollten. Blaue Wagen mit braunroten Hungergreifern, die ächzend die Ansammlung alter Kinderwagen, Fahrräder, Pflugscharen und Karosserien aus seinem Hof hieven würden. Lacibácsis Frau hockte vor dem Haus und rauchte. Sie spielte mit kleinen Katzen. Sie lachte. Wie heißt deine Frau?, hatte einmal die Neue Frau gefragt, die zwei Häuser weiter wohnte. Die Neue Frau war irgendwann angekommen, eine Fremde aus einem anderen Land, ganz unvermutet hatte es sie hierher verschlagen, in diese gottverlassene Vorstadt am Ebenenrand, und ausgerechnet dort hatte sie sich niedergelassen, nur durch den schmalen Polizistengarten vom Schrotthof getrennt, und immerzu schaute sie in der Gegend herum, stundenlang saß sie auf der Treppe zum Dachboden und starrte werweißwohin, womöglich auch in seinen Hof. Lahtsibahtschi sagte sie zu ihm, sie konnte nichts dafür, denn sie war nicht von hier, sprach eine fremde Sprache, die ihnen hier wiederum nichts bedeutete. Éva heißt meine Frau,