Das Jahr
Von Tomas Espedal
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Über dieses E-Book
"Ein Jahr kann ein ganzes Leben enthalten und es kann völlig leer sein." - Tomas Espedal
"Tomas Espedal mag schmale Bücher schreiben und mit wenigen Sätzen auskommen. Literarisch ist er ein Schwergewicht." - Christian Mückl, Nürnberger Zeitung
Tomas Espedal
Tomas Espedal, 1961 in Bergen geboren, gab sein literarisches Debut 1988 mit dem Roman En vill flukt av parfymer (Eine wilde Flucht vor dem Parfüm). Seither veröffentlichte er zahlreiche, mit vielen Preisen ausgezeichnete Romane und gilt neben seinem Freund Karl Ove Knausgård als einer der wichtigsten Schriftsteller Skandinaviens.
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Buchvorschau
Das Jahr - Tomas Espedal
Herbst
Frühling
Ich würde gern ein Buch über die Jahreszeiten schreiben
Frühling Herbst Sommer Winter
die hellen Tage im April und Juni
die Dunkelheit im August
die Monate beschreiben die Woche die Tage
die Stunden des Tages
und die Veränderungen, die dasselbe wiederholen
immer wieder immer neu.
Gerade jetzt fährt der Wind durch die Kronen
des Kiefernwaldes
und die Bäume biegen sich fügsam gen Boden
um sich dann wieder aufzurichten
den neuen Windstößen entgegen
wie sie es immer getan haben
doch einer der Bäume bricht
ein kurzes trockenes Geräusch
wie wenn der Atem aus der Lunge fährt.
Das Geräusch eines Endes
übertönt vom Wind
eine neue Jahreszeit ich will sie
beschreiben jeden einzelnen Tag
ein ganzes Jahr lang
doch wo und wann beginnt das Jahr
in der Küche oder im Wohnzimmer
im September oder November?
Warum beginnt das Jahr nicht heute
am Sonntag dem sechsten April?
Es ist gesagt worden
es ist geschrieben worden
dass der erste Mensch
am 6. April zur Welt kam.
Das ist unschwer vorstellbar
die Welt ist schon da
mit Flüssen und Meeren
Ländereien und Gebirgen
Wiesen und Bäumen
Pflanzen und Tieren
alles ist da
und er
der erste Mensch
kommt den Fluss entlanggegangen.
Wo kommt er her?
Wir wissen es nicht
er weiß es selber nicht
vielleicht sucht er nach einem Ort
nach jemandem der ihm ähnlich ist
er folgt dem Fluss und kommt auf eine Lichtung
eine Öffnung im Wald
wo der Fluss schmaler wird er mündet
in einen kleinen See.
Hier will er ausruhen
er legt sich in eine Sandkuhle
spürt die Wärme des Sandes
und schläft ein.
Wie lange hat er geschlafen?
Als er aufwacht sitzt dort ein Wesen
im Sand und starrt ihn an
es ist kein Tier
nichts was er schon gesehen hätte
und dennoch erkennt er die Gestalt wieder
diese Augen diesen Blick
es könnte sein eigener sein
wie wenn er sich im Wasser spiegelt
doch es ist etwas anderes
das Gesicht ist schmaler
der Mund breiter
der Körper runder
die Brust weicher
der Hals lang
dünne Arme kleine Hände
sie beugt sich vor
schnuppert an ihm
er spürt keine Angst
nur eine starke neue Unruhe
sein Herz schlägt schneller
das Blut strömt durch seinen Leib
wie Wärme
wie Freude
er lacht.
Sie legt ihm den Mund auf den Bauch
drückt ihre Lippen auf seine Haut
und streckt vorsichtig die Zunge heraus
schleckt prüfend über die Haut
und er sieht sein Fleisch sich aufrichten
zum ersten Mal.
Sie setzt sich über ihn
schaut ihm in die Augen
und ab diesem Augenblick
sind sie unzertrennlich
Mann und Frau.
Am Montag dem 6. April
im Jahre 1327
sieht Francesco Petrarca
Laura
zum ersten Mal.
Im sogenannten Laura-Notat
das Petrarca auf einem losen Doppelblatt verfasste
schrieb er: Laura
berühmt durch ihre eigenen Tugenden
und lange in meinen Gedichten gefeiert
erschien meinen Augen zum ersten Mal
in meiner frühen Jünglingszeit
im Jahre des Herrn 1327
am sechsten Tag des Monats April
bei der Frühmesse in der Kirche der heiligen Klara
zu Avignon.
Und in derselben Stadt
im gleichen Monat April
ebenfalls am sechsten Tag
zur gleichen Morgenstunde
jedoch im Jahre 1348
wurde das Licht ihrer Augen
der Welt geraubt.
So lebte Laura
in Petrarcas Gedächtnis
vom sechsten April
bis zum sechsten April
sie wurde vierunddreißig Jahre alt.
Als er sie zum ersten Mal sah
war sie dreizehn
ab diesem Tage
liebte er keine andere mehr
als sie.
Petrarca war dreiundzwanzig Jahre alt
und die nächsten zweiundvierzig Jahre über
sollte er seine Gesänge an sie richten
doch auch nach Lauras Tod
zu ihrem Gedächtnis
in seinem großen Werk Canzoniere
das bezeichnet wurde als
ein langes unvergleichliches Gespräch
über das Wesen der Liebe.
Der Canzoniere enthält 366 Gedichte
eines für jeden Tag des Jahres
vom sechsten April bis zum sechsten April.
Heute
am Sonntag dem sechsten April
fahre ich mit dem Zug von Nizza nach Avignon
um an der Straße entlangzugehen
nach L’Isle-sur-la-Sorgue
und weiter zu Fuß nach Fontaine-de-Vaucluse
wo Petrarca sich ein Haus bauen ließ
in das er sich zurückzog
um zu schreiben.
Ich flog nach Nizza
bezog ein billiges Hotelzimmer
beim Bahnhof.
Das Zimmer ähnelte einer Gefängniszelle
ein blaugrauer enger Raum mit einer Pritsche
die man von der Wand abklappte
ein Waschbecken ein Fenster
zum Hinterhof.
Öffnete man es, so schlugen Dampf
und Bratfett aus der Hotelküche
ins Zimmer
und nach wenigen Minuten waren die Wände
von kleinen schwarzen Flecken besetzt
sie bewegten sich
mal flogen sie durchs Zimmer
zu der nackten Glühbirne über dem Waschtisch
mal setzten sie sich aufs Handgelenk oder hinters Ohr
dabei versuchte er zu schlafen.
Das unverkennbare Sirren von Mücken
ich erschlug so viele wie möglich
hieb mit einer zusammengefalteten Zeitung an die Wand
die schwarzen Flecken wurden rot
dünne blutrote Flecken über dem Bett
es war nicht mein eigenes Blut
wessen Blut mochte es sein
das eines Mannes einer Frau
bald sollte ihr Blut
sich mit meinem mischen.
Es war unmöglich zu schlafen
in dem kleinen Raum ich
lag da und lauschte dem Verkehr
der in der Nacht summte
in der Stadt
Autos und Motorräder
Stimmen und Rufe
sie verstummten mit dem Licht
das gegen Morgen kam
und die völlige Stille
in dem abgeschlossenen Zimmer
war fast schlimmer.
Ich musste doch ein paar Stunden geschlafen haben
denn als ich aufzustehen versuchte
waren meine Hände und Füße rot
von zahllosen Stichen
die am ganzen Körper blühten
so viele Beulen und Stiche
dass ich liegen blieb mit dem Gefühl
mein Körper hätte Fieber
und dann kam das Fieber tatsächlich
ich war krank geworden.
Ich war krank
hätte aber am sechsten April
in Avignon sein sollen
so war es entschieden.
Mehr als ein Jahr lang hatte ich
Petrarcas Gesänge an Laura gelesen
und wollte jetzt den Ort sehen
an dem Petrarca Laura zum ersten Mal sah
wollte das Haus besuchen das er sich
im engen Vaucluse-Tal hatte bauen lassen:
Rund fünfzig Kilometer von Avignon entdeckte ich
ein kleines abgelegenes Tal namens Vaucluse
in dem die schönste aller Quellen
die Sorgue
entspringt.
Gefangen von der Schönheit des Ortes
ließ ich mich hier nieder
mit meinen Büchern.
In diesem Haus wohnte Petrarca
allein mit seinem Hund
und schrieb sein Buch
über das Leben in Abgeschiedenheit
De vita solitaria: Als ich mich dem vierzigsten Jahre näherte
und noch im Besitz meiner jugendlichen Kraft
und Feuer war
brach ich so vollständig mit dem Trieb
dass ich sogar die Erinnerung
daran löschte
und es war als hätte ich nie
eine Frau angesehen.
War es möglich allein zu leben
war es möglich eine einzige Frau zu lieben
sein ganzes Leben lang
auch nach ihrem Tod
und wenn es möglich war
war es möglich ohne andere Frauen zu leben
und ohne Sexualität
war es möglich zölibatär zu leben
und wäre es jetzt möglich
heute
sich zu dem zu verhalten was Petrarca schrieb
vor bald siebenhundert Jahren.
Heute
Sonntag den sechsten April
im Jahre zweitausendvierzehn
habe ich Fieber
bin müde und matt nach einer schlaflosen Nacht
stehe aber vor zwölf Uhr auf
verlasse durchgeschwitzt das Hotel
und gehe die drei Häuserblocks im kalten Tageslicht
durch die Straßen zum Bahnhof
von wo der Zug mich nach Avignon bringen wird.
Sonntag der sechste April:
Es ist natürlich dass Petrarca Laura
mit der Sonne vergleicht sie ist ein Kalender
der die Zeit überwindet
so kann sie auf ewig hier sein
die Laurasonne.
Ah sie scheint die Sonne
ins Zugfenster hinein ich vermisse dich immer mehr
jeden Tag der vergeht
jeden Monat
jedes Jahr
das vergeht.
Der Zug rollt rast vorbei an den Stränden
die blaue Küste entlang im TGV-Tempo vorbei
an den Azurstädten Cagnes Antibes Golfe-Juan
Cannes man sieht sie nicht
diese vorbeifliegenden Städte.
Den Himmel sehen wir und das Meer
und die Sonne sehen wir
sie folgt dem Zug und strahlt durchs Fenster
trifft das Gesicht es schwillt in verdoppeltem Fieber
brennende Hitze auf der Haut im Abteil: IST ES MÖGLICH
EIN FENSTER ZU ÖFFNEN?
Nein
ist es nicht nicht bei dem Tempo
nicht in diesem Ikaruszug.
Gleich verbrenne ich
kriege keine Luft verliere das Bewusstsein
gleich wird es dunkel.
Das Fieber hat sich im Körper festgesetzt
alles Innere will hinaus und hier kommt es:
Ich spucke in eine Plastiktüte und sehe zur Sonne
sie sticht in den Augen und projiziert ein Negativbild
hinter den Lidern: Dein Gesicht.
Dann verlösche ich. Es wird dunkel. Es wird kalt.
Ich erwache auf dem Boden des Gangs
jemand hat mich hier hingelegt wie gut
wie gut es tut zu liegen
wie gut es tut weg gewesen zu sein
wie gut es tut ganz still zu liegen und
rasend schnell durch die Landschaft getragen zu werden
zum Ort zu dem du willst.
Avignon. Sonntag der 6. April ich finde ein Hotel
mitten in der Stadt ein helles einfaches Zimmer
mache die Klimaanlage an ziehe die Gardinen vor
es ist dunkel und kühl im Zimmer wie beruhigend
und still nur das Summen des Ventilators das kühle
frische Geräusch
fast wie Wind fast wie Regen fast wie zu Hause
fast als wärst du hier
ein Tagtraum Fieberfantasie: Du stehst am Fenster
ziehst die Gardine auf wirst umstrahlt vom Licht
verschwindest beinahe
als du dich zu mir umdrehst
und bist weg.