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Das Jahr
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eBook206 Seiten1 Stunde

Das Jahr

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Über dieses E-Book

Tomas Espedals neues Buch beginnt an einem 6. April, dem Tag, an dem Petrarca seine Laura zum ersten Mal sah. Ausgehend von dieser unerfüllten Liebe, der Quelle für Petrarcas Liebesgedichte, geht Espedal der Frage nach, ob eine solch große, einzigartige Liebe, die alle Zeiten überdauert, heute noch möglich ist, ob sie überhaupt jemals möglich war. Gemeinsam mit seinem gebrechlichen Vater unternimmt er eine Kreuzfahrt durchs Mittelmeer und bemerkt erst dort, als der Vater aufzublühen scheint, dass er auch ihn bald verlieren wird. In der Liebe seines Vaters für seine verstorbene Mutter wie auch in seiner eigenen Liebe für Janne, die ihn bereits vor Jahren verlassen hat, erkennt Tomas etwas ähnlich Bedingungsloses und Andauerndes wie bei Petrarca. Am Ende waren sie dennoch alle allein. Nicht nur die Erfahrung einer so tiefen Liebe ist lebensverändernd, sondern auch deren Verlust. Wie ist es möglich, angesichts einer so umfassenden Erfahrung weiterzuleben wie bisher? Das Jahr ist Tomas Espedals bisher poetischstes Buch. Es handelt von den großen und einschneidenden Erfahrungen: Liebe, Verlust, Krieg, Tod, von Altern und Verzweiflung, von Stagnation und der ewigen Wiederholung des Immergleichen. Und von der Kraft der Literatur, die es vermag, uns durch die dunkelsten Zeiten zu retten.



"Ein Jahr kann ein ganzes Leben enthalten und es kann völlig leer sein." - Tomas Espedal



"Tomas Espedal mag schmale Bücher schreiben und mit wenigen Sätzen auskommen. Literarisch ist er ein Schwergewicht." - Christian Mückl, Nürnberger Zeitung
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum6. Sept. 2019
ISBN9783957578143
Das Jahr
Autor

Tomas Espedal

Tomas Espedal, 1961 in Bergen geboren, gab sein literarisches Debut 1988 mit dem Roman En vill flukt av parfymer (Eine wilde Flucht vor dem Parfüm). Seither veröffentlichte er zahlreiche, mit vielen Preisen ausgezeichnete Romane und gilt neben seinem Freund Karl Ove Knausgård als einer der wichtigsten Schriftsteller Skandinaviens.

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    Buchvorschau

    Das Jahr - Tomas Espedal

    Herbst

    Frühling

    Ich würde gern ein Buch über die Jahreszeiten schreiben

    Frühling Herbst Sommer Winter

    die hellen Tage im April und Juni

    die Dunkelheit im August

    die Monate beschreiben die Woche die Tage

    die Stunden des Tages

    und die Veränderungen, die dasselbe wiederholen

    immer wieder immer neu.

    Gerade jetzt fährt der Wind durch die Kronen

    des Kiefernwaldes

    und die Bäume biegen sich fügsam gen Boden

    um sich dann wieder aufzurichten

    den neuen Windstößen entgegen

    wie sie es immer getan haben

    doch einer der Bäume bricht

    ein kurzes trockenes Geräusch

    wie wenn der Atem aus der Lunge fährt.

    Das Geräusch eines Endes

    übertönt vom Wind

    eine neue Jahreszeit ich will sie

    beschreiben jeden einzelnen Tag

    ein ganzes Jahr lang

    doch wo und wann beginnt das Jahr

    in der Küche oder im Wohnzimmer

    im September oder November?

    Warum beginnt das Jahr nicht heute

    am Sonntag dem sechsten April?

    Es ist gesagt worden

    es ist geschrieben worden

    dass der erste Mensch

    am 6. April zur Welt kam.

    Das ist unschwer vorstellbar

    die Welt ist schon da

    mit Flüssen und Meeren

    Ländereien und Gebirgen

    Wiesen und Bäumen

    Pflanzen und Tieren

    alles ist da

    und er

    der erste Mensch

    kommt den Fluss entlanggegangen.

    Wo kommt er her?

    Wir wissen es nicht

    er weiß es selber nicht

    vielleicht sucht er nach einem Ort

    nach jemandem der ihm ähnlich ist

    er folgt dem Fluss und kommt auf eine Lichtung

    eine Öffnung im Wald

    wo der Fluss schmaler wird er mündet

    in einen kleinen See.

    Hier will er ausruhen

    er legt sich in eine Sandkuhle

    spürt die Wärme des Sandes

    und schläft ein.

    Wie lange hat er geschlafen?

    Als er aufwacht sitzt dort ein Wesen

    im Sand und starrt ihn an

    es ist kein Tier

    nichts was er schon gesehen hätte

    und dennoch erkennt er die Gestalt wieder

    diese Augen diesen Blick

    es könnte sein eigener sein

    wie wenn er sich im Wasser spiegelt

    doch es ist etwas anderes

    das Gesicht ist schmaler

    der Mund breiter

    der Körper runder

    die Brust weicher

    der Hals lang

    dünne Arme kleine Hände

    sie beugt sich vor

    schnuppert an ihm

    er spürt keine Angst

    nur eine starke neue Unruhe

    sein Herz schlägt schneller

    das Blut strömt durch seinen Leib

    wie Wärme

    wie Freude

    er lacht.

    Sie legt ihm den Mund auf den Bauch

    drückt ihre Lippen auf seine Haut

    und streckt vorsichtig die Zunge heraus

    schleckt prüfend über die Haut

    und er sieht sein Fleisch sich aufrichten

    zum ersten Mal.

    Sie setzt sich über ihn

    schaut ihm in die Augen

    und ab diesem Augenblick

    sind sie unzertrennlich

    Mann und Frau.

    Am Montag dem 6. April

    im Jahre 1327

    sieht Francesco Petrarca

    Laura

    zum ersten Mal.

    Im sogenannten Laura-Notat

    das Petrarca auf einem losen Doppelblatt verfasste

    schrieb er: Laura

    berühmt durch ihre eigenen Tugenden

    und lange in meinen Gedichten gefeiert

    erschien meinen Augen zum ersten Mal

    in meiner frühen Jünglingszeit

    im Jahre des Herrn 1327

    am sechsten Tag des Monats April

    bei der Frühmesse in der Kirche der heiligen Klara

    zu Avignon.

    Und in derselben Stadt

    im gleichen Monat April

    ebenfalls am sechsten Tag

    zur gleichen Morgenstunde

    jedoch im Jahre 1348

    wurde das Licht ihrer Augen

    der Welt geraubt.

    So lebte Laura

    in Petrarcas Gedächtnis

    vom sechsten April

    bis zum sechsten April

    sie wurde vierunddreißig Jahre alt.

    Als er sie zum ersten Mal sah

    war sie dreizehn

    ab diesem Tage

    liebte er keine andere mehr

    als sie.

    Petrarca war dreiundzwanzig Jahre alt

    und die nächsten zweiundvierzig Jahre über

    sollte er seine Gesänge an sie richten

    doch auch nach Lauras Tod

    zu ihrem Gedächtnis

    in seinem großen Werk Canzoniere

    das bezeichnet wurde als

    ein langes unvergleichliches Gespräch

    über das Wesen der Liebe.

    Der Canzoniere enthält 366 Gedichte

    eines für jeden Tag des Jahres

    vom sechsten April bis zum sechsten April.

    Heute

    am Sonntag dem sechsten April

    fahre ich mit dem Zug von Nizza nach Avignon

    um an der Straße entlangzugehen

    nach L’Isle-sur-la-Sorgue

    und weiter zu Fuß nach Fontaine-de-Vaucluse

    wo Petrarca sich ein Haus bauen ließ

    in das er sich zurückzog

    um zu schreiben.

    Ich flog nach Nizza

    bezog ein billiges Hotelzimmer

    beim Bahnhof.

    Das Zimmer ähnelte einer Gefängniszelle

    ein blaugrauer enger Raum mit einer Pritsche

    die man von der Wand abklappte

    ein Waschbecken ein Fenster

    zum Hinterhof.

    Öffnete man es, so schlugen Dampf

    und Bratfett aus der Hotelküche

    ins Zimmer

    und nach wenigen Minuten waren die Wände

    von kleinen schwarzen Flecken besetzt

    sie bewegten sich

    mal flogen sie durchs Zimmer

    zu der nackten Glühbirne über dem Waschtisch

    mal setzten sie sich aufs Handgelenk oder hinters Ohr

    dabei versuchte er zu schlafen.

    Das unverkennbare Sirren von Mücken

    ich erschlug so viele wie möglich

    hieb mit einer zusammengefalteten Zeitung an die Wand

    die schwarzen Flecken wurden rot

    dünne blutrote Flecken über dem Bett

    es war nicht mein eigenes Blut

    wessen Blut mochte es sein

    das eines Mannes einer Frau

    bald sollte ihr Blut

    sich mit meinem mischen.

    Es war unmöglich zu schlafen

    in dem kleinen Raum ich

    lag da und lauschte dem Verkehr

    der in der Nacht summte

    in der Stadt

    Autos und Motorräder

    Stimmen und Rufe

    sie verstummten mit dem Licht

    das gegen Morgen kam

    und die völlige Stille

    in dem abgeschlossenen Zimmer

    war fast schlimmer.

    Ich musste doch ein paar Stunden geschlafen haben

    denn als ich aufzustehen versuchte

    waren meine Hände und Füße rot

    von zahllosen Stichen

    die am ganzen Körper blühten

    so viele Beulen und Stiche

    dass ich liegen blieb mit dem Gefühl

    mein Körper hätte Fieber

    und dann kam das Fieber tatsächlich

    ich war krank geworden.

    Ich war krank

    hätte aber am sechsten April

    in Avignon sein sollen

    so war es entschieden.

    Mehr als ein Jahr lang hatte ich

    Petrarcas Gesänge an Laura gelesen

    und wollte jetzt den Ort sehen

    an dem Petrarca Laura zum ersten Mal sah

    wollte das Haus besuchen das er sich

    im engen Vaucluse-Tal hatte bauen lassen:

    Rund fünfzig Kilometer von Avignon entdeckte ich

    ein kleines abgelegenes Tal namens Vaucluse

    in dem die schönste aller Quellen

    die Sorgue

    entspringt.

    Gefangen von der Schönheit des Ortes

    ließ ich mich hier nieder

    mit meinen Büchern.

    In diesem Haus wohnte Petrarca

    allein mit seinem Hund

    und schrieb sein Buch

    über das Leben in Abgeschiedenheit

    De vita solitaria: Als ich mich dem vierzigsten Jahre näherte

    und noch im Besitz meiner jugendlichen Kraft

    und Feuer war

    brach ich so vollständig mit dem Trieb

    dass ich sogar die Erinnerung

    daran löschte

    und es war als hätte ich nie

    eine Frau angesehen.

    War es möglich allein zu leben

    war es möglich eine einzige Frau zu lieben

    sein ganzes Leben lang

    auch nach ihrem Tod

    und wenn es möglich war

    war es möglich ohne andere Frauen zu leben

    und ohne Sexualität

    war es möglich zölibatär zu leben

    und wäre es jetzt möglich

    heute

    sich zu dem zu verhalten was Petrarca schrieb

    vor bald siebenhundert Jahren.

    Heute

    Sonntag den sechsten April

    im Jahre zweitausendvierzehn

    habe ich Fieber

    bin müde und matt nach einer schlaflosen Nacht

    stehe aber vor zwölf Uhr auf

    verlasse durchgeschwitzt das Hotel

    und gehe die drei Häuserblocks im kalten Tageslicht

    durch die Straßen zum Bahnhof

    von wo der Zug mich nach Avignon bringen wird.

    Sonntag der sechste April:

    Es ist natürlich dass Petrarca Laura

    mit der Sonne vergleicht sie ist ein Kalender

    der die Zeit überwindet

    so kann sie auf ewig hier sein

    die Laurasonne.

    Ah sie scheint die Sonne

    ins Zugfenster hinein ich vermisse dich immer mehr

    jeden Tag der vergeht

    jeden Monat

    jedes Jahr

    das vergeht.

    Der Zug rollt rast vorbei an den Stränden

    die blaue Küste entlang im TGV-Tempo vorbei

    an den Azurstädten Cagnes Antibes Golfe-Juan

    Cannes man sieht sie nicht

    diese vorbeifliegenden Städte.

    Den Himmel sehen wir und das Meer

    und die Sonne sehen wir

    sie folgt dem Zug und strahlt durchs Fenster

    trifft das Gesicht es schwillt in verdoppeltem Fieber

    brennende Hitze auf der Haut im Abteil: IST ES MÖGLICH

    EIN FENSTER ZU ÖFFNEN?

    Nein

    ist es nicht nicht bei dem Tempo

    nicht in diesem Ikaruszug.

    Gleich verbrenne ich

    kriege keine Luft verliere das Bewusstsein

    gleich wird es dunkel.

    Das Fieber hat sich im Körper festgesetzt

    alles Innere will hinaus und hier kommt es:

    Ich spucke in eine Plastiktüte und sehe zur Sonne

    sie sticht in den Augen und projiziert ein Negativbild

    hinter den Lidern: Dein Gesicht.

    Dann verlösche ich. Es wird dunkel. Es wird kalt.

    Ich erwache auf dem Boden des Gangs

    jemand hat mich hier hingelegt wie gut

    wie gut es tut zu liegen

    wie gut es tut weg gewesen zu sein

    wie gut es tut ganz still zu liegen und

    rasend schnell durch die Landschaft getragen zu werden

    zum Ort zu dem du willst.

    Avignon. Sonntag der 6. April ich finde ein Hotel

    mitten in der Stadt ein helles einfaches Zimmer

    mache die Klimaanlage an ziehe die Gardinen vor

    es ist dunkel und kühl im Zimmer wie beruhigend

    und still nur das Summen des Ventilators das kühle

    frische Geräusch

    fast wie Wind fast wie Regen fast wie zu Hause

    fast als wärst du hier

    ein Tagtraum Fieberfantasie: Du stehst am Fenster

    ziehst die Gardine auf wirst umstrahlt vom Licht

    verschwindest beinahe

    als du dich zu mir umdrehst

    und bist weg.

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