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Wir wollen die ganze Freiheit: Über Feminismus und Identität. Ein notwendiges Manifest.
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eBook106 Seiten1 Stunde

Wir wollen die ganze Freiheit: Über Feminismus und Identität. Ein notwendiges Manifest.

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Über dieses E-Book

Najat El Hachmi ist eine Autorität in Sachen Feminismus und Identität. Jenseits ihres Status als Immigrantin und Tochter einer marokkanisch-muslimischen Familie ist ihre Erzählwelt eine Welt der Frauen. Mit diesem Wissen aus erster Hand hat sie sich eine Meinung darüber gebildet, was es heute bedeutet, Feministin zu sein. In ihrem Essay legt sie ihren Standpunkt dar und prangert die zahlreichen Fallen und Formen der Diskriminierung an, unter denen Frauen leiden. Bereichert wird ihr Blick durch die Herausforderungen, mit denen Migrantinnen in Europa konfrontiert sind, die folgendes Paradoxon erleben: Sie leben in einer modernen und demokratischen Gesellschaft, in der Gleichberechtigung gesetzlich verankert ist und in der ein feministisches Bewusstsein wächst. Und trotzdem fällt es den »Töchtern« muslimischer Migranten nach wie vor oft schwer, sich gegen die patriarchalen Strukturen, in denen sie aufwachsen, zu wehren.
Ein wichtiger Beitrag zum Verständnis und ein Appell für die Befreiung von Frauen, der angesichts der aktuellen Lage von Frauen im Iran und in Afghanistan neue Dringlichkeit erhält.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum6. Jan. 2023
ISBN9783949545351
Wir wollen die ganze Freiheit: Über Feminismus und Identität. Ein notwendiges Manifest.

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    Buchvorschau

    Wir wollen die ganze Freiheit - Najat El Hachmi

    Wenn ich Feminismus sage

    Wenn ich Feminismus sage, sage ich Freiheit. Nicht die Freiheit, mir etwas auszusuchen, nicht die Freiheit zum Konsum, nicht die Freiheit, mich vor ein Regal voller Möglichkeiten zu stellen und mich für eine davon zu entscheiden, was auch immer das dann bedeutet. Nein, wenn ich Feminismus sage, wenn ich Freiheit sage, dann meine ich: Ich will leben, ohne als nachrangig zu gelten. Ich will nicht, dass mein Leben, meine Meinung, meine Lust und mein Schmerz weniger wert sein sollen als Leben, Meinung, Lust und Schmerz meiner männlichen Mitmenschen.

    Wenn ich Freiheit sage, sage ich Würde. Ich will mich nicht eingeschlossen fühlen, sei es in der Küche, im Haus, in der Familie, in der Religion oder »unter meinesgleichen«. Ich will mir all die Knebel herausreißen, will die Gesetze des Schweigens brechen, die alten Regeln, die mich einschränken, die meine Existenz unendlich viel enger machen, als sie es sein könnte, und die mir immer wieder einen Platz ohne Belang, ohne Bedeutung zuweisen.

    Deshalb kann Feminismus – Freiheit – nie heißen, mich für die Unterwerfung zu entscheiden, für die Herabsetzung, für eine vermeintlich natürliche Ordnung, der gemäß ich minderwertig sein soll. Es ist kein Feminismus, mich mit einer Freiheit abzufinden, die von der Gesellschaft, Kultur oder Religion, die mich umgibt, überwacht wird. Ebenso wenig ist es Feminismus, vor den Ausflüchten einzuknicken, die aufgefahren werden, sobald ich die Stimme erhebe, um diese Diskriminierungen anzuklagen oder auch nur zu beschreiben.

    Ich muss die feministischen Forderungen heute neu formulieren. Nicht, weil sich an ihnen etwas geändert hätte, sondern weil diejenigen, die uns zum Verstummen bringen wollen, ihre Strategie umgestellt haben. Der Sexismus hat gelernt, sich zu verkleiden, sich in neue Theorien, Redeweisen und schillernde Argumente zu hüllen. Aber sie alle laufen auf dasselbe hinaus wie eh und je: Sie wollen eine alte Ordnung fortschreiben. Eine Ordnung, die früher für naturgegeben gehalten wurde und in der wir unsere Unterdrückung nicht nur hinzunehmen, sondern sie als festen Teil unserer kulturellen und religiösen Identität aufzufassen haben.

    In diesem Buch schildere ich den konkreten Sexismus in dem Umfeld, aus dem ich komme, und wie er sich mittlerweile in scheinbar feministische Thesen hüllt. Ich will das benennen, was offensichtlich ist und es immer war. Dafür werde ich, so oft wie nötig, die neuen Verpackungen zerreißen, in denen uns die ranzigen Normen des Patriarchats heute vorgesetzt werden. Ich sage Feminismus, um weiterhin vollständige Freiheit einzufordern: eine Freiheit ohne Einschränkungen, eine Freiheit ohne Überwachung.

    Die Stimme erheben: der schwerste Schritt

    Noch heute zittern mir die Hände, wenn ich meine Meinung zu Themen aufschreiben will, die mit meiner Herkunft als Tochter einer muslimischen Familie aus Marokko zu tun haben. Beim Tippen begleitet mich nach wie vor die Angst, dafür bestraft zu werden, dass ich das mir seit meiner Kindheit auferlegte Schweigen breche. Das mag verwundern, weil ich diese Fragen seit Jahren nicht nur aus dem Schutzraum der Belletristik heraus behandle, sondern auch in Diskussionsrunden, in Interviews, Artikeln oder privaten Gesprächen. Viele Leute haben mir deshalb gesagt, ich sei mutig – aber das heißt nicht, dass ich keine Angst hätte. So wie ich Angst hatte, als ich zum ersten Mal über das schrieb, was nicht erzählt werden durfte, habe ich jedes Mal wieder Angst, wenn ich auf die Gewalt zurückkomme, auf die Unterdrückung und das Unrecht, mit denen ich und die Frauen, die mir am nächsten standen, aufgewachsen sind. Ich spreche über diese Themen nicht, um mutig zu sein. Ich tue es, um zu überleben.

    Viele Jahre lang war das Schreiben das einzige Instrument, das mir zur Verfügung stand, um nicht vollends zu ersticken oder unter der Wucht des Chauvinismus zu zerbrechen. Bis heute kann ich das Gefühl nicht abschütteln, ich würde etwas Verbotenes tun, sobald ich aus der Sprachlosigkeit heraustrete, in die mich das Gesetz des Vaters zwingt. Sag das nicht, erzähl das nicht, verrate nicht, was für eine Auffassung von der Rolle der Frau in deiner Umgebung herrscht: Diese Pflicht zum Vertuschen ist ein Grundpfeiler der Erziehung, die viele von uns Frauen prägt. Kaum zu glauben, da wir doch in einer modernen, westlichen, demokratischen Gesellschaft leben, in der die Gleichstellung der Geschlechter rechtlich verbrieft ist und sich ein feministisches Bewusstsein immer weiter ausbreitet. Und doch kostet es Frauen wie mich, Töchter der muslimischen Migration, immer noch unfassbar viel Kraft, öffentlich über den ganz konkreten Sexismus zu sprechen, mit dem wir aufgewachsen sind.

    Unsere Angst ist alles andere als unbegründet. Sobald wir den Mund aufmachen, droht uns der Ausschluss aus unserer »Herkunftsgemeinschaft«. Jede von uns, die es wagt, ihre Stimme zu erheben, um das brutal diskriminierende System anzuprangern, das uns umgibt, oder die Gewalt zu benennen, der wir selbst oder die Frauen aus unserem Umfeld ausgesetzt sind, weiß: Die wahrscheinlichste Reaktion ist, dass wir »verstoßen« werden. Erst recht, wenn wir auch noch heikle Themen wie Sex oder Religion direkt ansprechen. Gilt es schon als subversiver Akt, überhaupt das Wort zu ergreifen und über das Unrecht zu reden, das wir Frauen erlitten haben, so betrachten die »Unsrigen« diese Unverfrorenheit obendrein als Verrat an der Familie, an der Gemeinschaft, an der Heimat – und vor allem am Islam. Dass wir unsere verschluckte Stimme hervorholen, um öffentlich die Mechanismen zu beklagen, die uns zu Menschen zweiter Klasse machen (nachdem wir die nötige Distanz gewonnen haben, um diese Mechanismen zu erkennen), wird als eine nicht hinzunehmende Revolte aufgefasst, aller irdischen und göttlichen Strafen

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