Diese bittere Erde (ist womöglich nicht, was sie scheint)
Von Saidiya Hartman
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Über dieses E-Book
Wie lassen sich die Versklavung und ihr Nachleben erzählen? Welche Rolle spielen darin Schwarze Frauen, von deren Schicksal lange fast ausschließlich die Aufzeichnungen der Sklavenhändler und Plantagenbesitzer, Gerichtsnotizen, Gutachten und Akten zeugten? Diese Fragen beschäftigen die Literaturwissenschaftlerin Saidiya Hartman seit ihren bahnbrechenden Studien zum Terror der Sklaverei und seiner Bedeutung für den Selbstentwurf der USA. Ausgehend von historischen Details, überschreiten die hier versammelten Essays virtuos die Grenze zwischen Geschichte und Imagination, um zu erzählen, was nicht erzählt werden kann. Hartman evoziert das Innenleben Schwarzer Existenz im 18., 19. und frühen 20. Jahrhundert in einer verblüffenden Intimität. Ihre Aufmerksamkeit gilt dabei einem Handeln unter Umständen, die Handlungsfähigkeit selbst auslöschen wollen. Die erstmals ins Deutsche übersetzten Texte aus den Jahren 2008 bis 2020 – darunter die einflussreichen Aufsätze »Venus in zwei Akten« und »Der Bauch der Welt« – sind
deshalb immer auch beeindruckende Dokumente eines unablässigen Nachdenkens: über die Möglichkeiten und Grenzen historiografischer Methoden, über Archiv, Theorie und Politik und über das literarische Schreiben.
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Buchvorschau
Diese bittere Erde (ist womöglich nicht, was sie scheint) - Saidiya Hartman
DAS ENDE WEISSER VORHERRSCHAFT, EINE AMERIKANISCHE LIEBESGESCHICHTE
Er beobachtet den Menschenstrudel, der sich entschlossen den Broadway entlangbewegt. Er kauert oben auf der Treppe und zögert vor dem Eingang, während die Kunden und Angestellten der Bank ihn im Vorübergehen streifen. Ein Nicken, ein bestätigender Blick, ein knappes Hallo, ein widerwilliges Anerkennen seiner Existenz bleiben aus. Auf der Straße wimmelt es von Menschen. Niemand würde bei einem flüchtigen Blick auf ihn einen Ausdruck wie „hoch aufragende Gestalt" verwenden oder auch nur einen Augenblick mit der Frage vergeuden, welche Position er wohl bei der Bank innehat. Wörter wie untätig oder herumlungernd oder herrenlos oder unterwürfig streifen die trüben Ränder des Bewusstseins, latent und ohne die volle Aufmerksamkeit oder Absichtlichkeit von Gedanken, da die meisten Männer, die durch die Straßen des Finanzzentrums eilen, ihn kaum wahrnehmen. Nur wenige bemerkten ihn. Nur wenige bemerkten ihn auf eine Weise, die keinen Stich versetzte. Er war außerhalb der Welt – „nichts!" Wenn ihre Blicke auf ihm landen, spürt er diese wie eine Klinge auf seiner Haut, und sein Körper weicht vor dem Angriff zurück, ahnt voraus, wo ein Schlag ihn treffen könnte, zuckt vor dem Tritt zusammen. Seine Haut ist zu einem Sensor geworden. Seine Muskeln sind angespannt.¹ Die Entfernung zwischen dem Treppenabsatz und dem Gehweg ist nicht groß, dennoch bewohnt er eine Welt, und die weißen Männer in ihren Anzügen und Krawatten, die voranschreiten und zügig durch die Straßen laufen, existieren in einer anderen. Nein, es ist eher so, als wären sie in der Welt, und er wäre aus ihr vertrieben worden. (Dies ist nicht der richtige Zeitpunkt, um die Gründe dafür zu erläutern oder eine biografische Skizze eines schwarzen Kuriers in New York zu liefern, oder eine große Theorie darüber, wie Menschen aus Afrika zunächst zu Gefangenen und dann zu Waren wurden, oder ausführlich die Formen der Knechtschaft zu beschreiben, die das schwarze Leben bestimmen, oder ein Bild der Einfriedung zu zeichnen, oder zu erklären, weshalb die Bank die Schwelle ist zu jenem Alles und Nichts, das der Negro, die pieza de India, der Leibeigene, das bewegliche Vermögen darstellen, die Varianten seiner Enteignung. Die Gründe darzulegen oder solche Fragen zu erörtern wäre verfrüht, solange noch nicht der Kontext der Geschichte genau bestimmt, ihr Autor erwähnt, ihre Figuren benannt, der Schauplatz arrangiert und der Plot in Gang gesetzt sind, und man würde damit riskieren, nur das Offensichtliche festzustellen: Er ist auf der Welt nicht zu Hause. Ich könnte das näher ausführen und zusätzliche Elemente liefern, zum Beispiel: Er wirkt so klein vor dem Hintergrund des großen Gebäudes, reduziert durch die Solidität und Masse der Granitstruktur und den Rahmen der riesigen dorischen Säulen, aber diese Einzelheiten werden in der Geschichte nicht genannt, daher könnten die Stufen genauso gut aus Beton und die Bank ohne Säulen sein, in welchem Fall die Mahagonitüren am Eingang genügen müssten, um die Erhabenheit von Kapital und Imperium heraufzubeschwören. Die Schifffahrtsgesetze, die internationalen Handelsabkommen, der Sklavenhandel, die Seeversicherung, das gestohlene Leben und Land: All das, was notwendig ist, um Mahagoni zu schlagen, Bäume zu fällen, sie nach Europa und Nordamerika zu transportieren und Türen anzufertigen, würde zurücktreten vor der Schönheit des dunklen Holzes und der polierten Messingarmaturen.²)
Sein Name ist nichtssagend und allgemein genug, um ein Pseudonym oder Deckname zu sein, ein Homonym für jedermann, das männliche besitzanzeigende Pronomen, das sogar dem Besitzlosen gewährt wird, ein Name, der einen zu niemandem macht. Außerdem ist der Name mit Bedeutung aufgeladen aufgrund der Reise eines anderen auf einem Floß den Mississippi entlang, in dem Versuch, in die Freiheit zu gelangen, aber in der falschen Richtung unterwegs. Jede Richtung ist die falsche Richtung, jeder Weg wird vereitelt und beugt sich dem Verrat. Selbst wenn er sich auf der Flucht befindet, selbst wenn er von den Strömungen des Flusses davongetragen wird, selbst wenn er noch so viele Flüsse überqueren muss, kann der Geflüchtete die Verachtung nicht abschütteln, die dauerhaft an dem Namen hängt wie ein grausamer Titel, eine brutale Anrede. Nigger Jim. Jim Crow. Crow Jim. Ein Name, der sich in Lesebüchern der ersten Klasse und in Kinderreimen wiederfindet: Him, Jim, Slim. Wie seine Namensvetter kämpft auch er sich nur mühsam durch, ist an Gewalt gebunden, Beleidigungen und Verletzungen ausgesetzt, und überlebt von einem Tag zum nächsten unter der Drohung des Todes. Nur schwer lassen sich all jene vergessen, die kaum erwarten können, dass er stirbt, die sein Verschwinden herbeisehnen und besessen davon sind, ihm selbst das Recht zu verweigern, in diesem geringeren Zustand zu existieren. (Dies ist nicht der richtige Zeitpunkt, um die Geschichte nachzuerzählen oder die Reihe von Umständen zu beschreiben, die diese Negierung produzierten, oder um Begriffe einzuführen, denen jede Musikalität fehlt: Akkumulation (ursprüngliche oder wiederkehrende), Fungibilität, natale Entfremdung, Verwandtschaftslosigkeit. Nicht der richtige Zeitpunkt, um die Kräfte darzustellen, die ihn auf diese Stufen der Bank im Finanzdistrikt, dem räuberischen Herzen der Stadt, geführt und ihn in die untersten Tiefen verbannt haben, als nichts, als niemand. Nicht der richtige Zeitpunkt, um zu offenbaren, dass er, zum Stillstand gebracht auf den Stufen dieser Kathedrale des Kapitalismus, als wäre es die Kreuzung zwischen einem Dasein als Mensch und einem Dasein als überhaupt nichts, beinahe weinen könnte.)³
Du schaust mich an, aber du siehst mich nicht.
Wenn du es tätest, wäre es dir gleichgültig.⁴
Ich habe zu viel gesagt und bin zu weit abgekommen von ihm, wie er am späten Vormittag an der Ecke Wall Street und Broadway, nur ein paar Blocks entfernt von einem der ersten Sklavenmärkte von New Amsterdam, angespannt und ängstlich in die Welt hinausblickt. Ich bin abgeschweift von jenem speziellen Drama, das sich im Verlauf des Tages entfalten wird, wenn das Desaster eine Öffnung oder eine Nivellierung erzeugt, die ihm erlauben könnte, in seiner Haut zu atmen und aus der Einfriedung des Nichts und der Verachtung des Schwarzseins befreit zu werden.⁵ Kurz vor Mittag wird die Zerstörung der Welt ihm die Chance bieten, so menschlich zu sein wie andere Männer. Die unheimliche Strahlung und die Musik in Moll, produziert durch den Zusammenbruch der Ordnung, durch die Katastrophe, werden das Versprechen eines unangefochtenen schwarzen Lebens bieten.
Der Komet. Alle redeten davon. Sogar der Präsident [der Bank], als er ihm beim Hineingehen gönnerhaft zulächelte und ihn