Populismus: Das unerhörte Volk und seine Feinde
Von Nicolaus Fest, Andreas Unterberger, Michel Ley und
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Über dieses E-Book
Populismus ist zum linken Kampfbegriff geworden. Angesichts ihres fortschreitenden Macht- und Kontrollverlusts gehen die Eliten immer kompromissloser gegen Populisten vor. Und wer Populist ist, entscheidet das Establishment. In diesem Kampf werden jene Praktiken und Strategien angewendet, die man den Populisten zum Vorwurf macht. Populisten sind der Sündenbock für das Versagen und die Projektionsfläche für die Ängste einer ausgelaugten Machtelite.
"Damals sprach man von der 'demokratischen' Revolution, heute von 'populistischen' Bewegungen. Aber Demos und Populus heißen beide genau dasselbe, halt einmal griechisch und einmal lateinisch."
Andreas Unterberger
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Buchvorschau
Populismus - Nicolaus Fest
Fest
Demokratie braucht Populismus
Was verbindet Margaret Thatcher, Ronald Reagan, Gerhard Schröder, Hugo Chavez, Viktor Orbán und den früheren argentinischen Präsidenten Juan Perón? Sie alle wurden des Populismus geziehen, sind mithin, nimmt man die Etikettierung ernst, geistige Cousins von FPÖ, AfD oder Occupy. Schon diese Aufstellung zeigt die Konturlosigkeit des Begriffs. Es handelt sich um eine Denunziationsvokabel, die linke Politiker so trifft wie konservative, offen anti-demokratische Bewegungen wie radikaldemokratische Parteien.
Und es ist der Populismus – wie auch die Klage über ihn – ein immer wiederkehrendes Thema. Schon in den 1970er Jahren befand ein Sammelband, ein neues Gespenst gehe um in Europa, 1985 widmete sich unter gleicher Überschrift ein Essay in der Zeitschrift Merkur demselben Phänomen. Nun ist die Diskussion erneut entflammt. Offenkundig gilt: Wann immer sich Eliten der Kritik der ‚Straße’ gegenübersehen, sei es in Fragen von Schulgesetzen, Atomkraft, Euro oder Einwanderung, ist der Vorwurf populistischer, also einer irgendwie unverantwortlich-simplifizierender Stimmungsmache gegen die gewählten Volksvertreter nicht weit. Das gilt sogar über Demokratien hinaus: Auch die Dissidenten des Ostblocks wurden als Populisten bezeichnet, und ihre Kritik an den herrschenden Verhältnissen beruhte tatsächlich auf einem klassisch populistischen Topos: Dass sie ‚das Volk’ seien, dass die Elite abgewirtschaftet habe – nicht nur ökonomisch, sondern vor allem moralisch. Wenn ein Vorwurf zum unverzichtbaren Bestand des Populismus gehört, dann der der Korruption und Vetternwirtschaft innerhalb der Elite.
Aber sind Dissidenten deshalb auch Populisten? Folgt man Jan-Werner Müller, Professor in Princeton, ist das nicht Fall. In einer jüngst veröffentlichten Studie betrachtet er nur solche Bewegungen als populistisch, die drei Merkmale aufweisen: Sie müssen sich gegen das Establishment richten, ihre Legitimation aus dem angeblichen Volkswillen ziehen und zudem anti-pluralistisch sein, also den alleinigen Anspruch auf Vertretung erheben. Nicht „Wir sind das Volk sei der Schlachtruf der Populisten, sondern „Nur wir sind das Volk
!
Legt man diese Kriterien an, verringert sich die eingangs genannte Liste erheblich. Mangels anti-pluralistischer Tendenzen fallen Thatcher, Reagan und Schröder ebenso heraus wie FPÖ und AfD, wohl auch Peròn. Übrig bleiben Orbán und Chavez, dazu Occupy. Generell dürften linke Bewegungen aufgrund ihres anti-elitären Anspruchs auf Volks- und Arbeiternähe anfälliger für populistische Versuchungen sein als konservative.
Müllers Definition und Eingrenzung des Populismus macht den Begriff wissenschaftlich nutzbar, schränkt ihn aber auch ein. Populistisch sind nach seiner Ansicht ausschließlich anti-demokratische Bewegungen. Das mag man so sehen, wirkt aber etwas willkürlich. Vor allem beschädigt die Definition solche radikal-demokratischen Erscheinungen, welche den Begriff positiv für sich vereinnahmen, weil sie gerade für den Erhalt der Demokratie und gegen post-demokratisches Durchregieren eintreten. Mit seiner durchgehend negativen Definition von ‚Populismus’ setzt Müller solche Gruppierungen ebenso herab wie das in jedem Populismus enthaltene demokratische Korrektiv. „Demokratie ist letztlich immer eine populistische Veranstaltung, weil sie das letzte Wort dem Volk erteilt, nicht seinen Vertretern, meint Konrad Adam, einer der AfD-Gründer. Und auch Lincolns berühmte Formulierung einer „Regierung des Volkes durch das Volk und für das Volk
ist durchaus als populistischer Legitimationsappell zu lesen. Braucht also, nach einer bekannten Formulierung des Bremer Politologen Lothar Probst, Demokratie Populismus?
Dafür spricht viel. Denn Populismus ist keineswegs nur die Wut der Abgehängten und Ahnungslosen, im Gegenteil. Viel häufiger speist sich die Empörung angeblicher Populisten gerade auch aus ihrem Fachwissen: Aus der besseren Ortskenntnis, der langjährigen Erfahrung, dem Wissen um die Wirklichkeit jenseits des grünen Tisches der Politik. Tatsächlich ist es dieser Sinn für Realitäten, der als populistisch diskreditierte Gruppierungen oft erst hervorbringt, nämlich als Reaktion auf die Zumutungen ideologischer Gesellschaftsexperimente: So verhinderten in Hamburg Angehörige der bildungsbewussten Mittelschicht ein Schulgesetz, das die Leistungsstandards deutlich absenken wollte; ähnliche Konflikte gibt es derzeit in Baden-Württemberg und Hessen um den Versuch einer ideologisch gewünschten Frühsexualisierung von Kindern. Und auch der Kampf gegen den Euro hat in den meisten Ländern seine Anhänger vor allem in der gehobenen, oft akademischen Mittelschicht. Dass dennoch all diese Proteste nichts anderes sind als simplifizie-rend-populistische Appelle, gilt ihren Gegnern als ausgemacht.
Doch richtet sich das Aufbegehren nicht nur gegen Projekte; auch der politischen Kultur als solcher gilt das Unbehagen. Blickt man auf die Geschichte von FPÖ, AfD, der italienischen M5S oder anderer erfolgreicher Popularparteien, entzündet sich deren Protest auch immer an einem zentralen Manko des Parteienstaates: Den durch Landes- oder Bundeslisten gesicherten personellen Kontinuitäten. Dass die Führungsoffiziere der Parteien selbst nach krachenden Wahlniederlagen in aller Regel den Kurs weiterbestimmen, ist mit dem Gedanken der Demokratie schwer vereinbar. Denn Demokratie bedeutet weniger ‚Wählen’ als ‚Abwählen’. Nur die Abwahl der politisch Verantwortlichen schafft politische Kontrolle. Wo diese nicht mehr gegeben ist, weil das verantwortliche Personal unabhängig vom Wahlausgang weiterhin das Sagen hat, verliert auch der urdemokratische Wahlakt seine Funktion. Dass „die da oben ohnehin machen, was sie wollen", ist nicht ohne Grund die Standardformel populistischen Aufbegehrens. Und auch die verbreitete Ablehnung der EU resultiert wesentlich aus dem Gefühl, dass mit Brüsseler Hilfe schädliche Kontinuitäten erhalten bleiben: Selbst wer in der Heimat scheitert, wen das Volk aus jeder politischen Verantwortung entfernt sehen möchte, kann oft in Brüssel sein Wirken fortsetzen, und mit nicht weniger verheerendem Einfluss. Das ist nicht nur ein Ausdruck für die Verachtung des Wählers; es ist, weil der demokratische Mechanismus der Beseitigung schlechter Politiker qua Wahlentscheidung ausgehebelt wird, ein offen anti-demokratischer Akt.
Insofern lässt sich das Aufkommen populistischer Bewegungen auch ganz anders deuten, als Müller es tut: Weniger als Aufstand gegen politische Vielfalt, sondern als ein moralisch grundiertes Aufbegehren gegen die anti-demokratische Parteien-Demokratie, gegen Spezlwirtschaft und gegen den fachlichen Dilettantismus. Dass er es besser wisse und könne als der, der ihn regiert, gehört zu den Grundüberzeugungen jedes Populisten; es ist die Spiegelung des urdemokratischen Prinzips von One man, one vote. Erst die Gleichheit des Stimmgewichts schafft diesen Anspruch.
Und dieser Anspruch schickt sich an, die Demokratien zu verändern. Denn die Denunziation populistischer Forderungen als grundsätzlich unterkomplex verkennt die entscheidende Frage: Ob die Demokratie in der heutigen Zeit nicht geradezu populistische Korrektive verlangt. Solange die Staatsaufgaben im wesentlichen in der Außenpolitik, im Straßenbau und in der inneren Sicherheit gesehen wurden, mag die repräsentative Honoratiorenverfassung ein funktionsfähiges Politikmodell gewesen sein; heute hingegen sind selbst die gewaltigen Stäbe, die wissenschaftlichen Dienste des Bundestages oder die zahllosen Beratergremien kaum in der Lage, irgendein Gesetz zu formulieren, das nicht alsbald Änderungen verlangt. Der schwierige Spagat zwischen Einzelfallgerechtigkeit und allgemeiner Geltung lässt sich immer seltener vollständig vorhersehen. Und auch bei vielen anderen Entscheidungen ist die Politik heute überfordert.
Diese Überforderung trifft auf einen immer höheren Akademisierungsgrad in der Bevölkerung. Immer mehr Leute sind in der Lage, auf ihrem Gebiet die Arbeit der Politik zu bewerten, und auch deren Defizite. Gleichzeitig verleihen die Sozialen Medien den Betroffenen Stimme und Organisationsmöglichkeiten. Ob Flughafenbau, Atomkraft, Euro, Einwanderung: Die Leute reden mit – und eben häufig mit mehr Kenntnis als ihre parlamentarischen Vertreter, die nicht selten über Partei- oder Gewerkschaftsarbeit in den Bundestag gelangten. Ihnen sind Landwirte, Statistiker, Architekten, Fachanwälte, Ärzte oder Naturwissenschaftler im Wissen oft weit voraus – weil sie nicht nur die jeweilige Ausbildung haben, sondern auch Erfahrung. Und umso entgeisterter stehen sie, ob nun berechtigt oder nicht, vor der Ahnungslosigkeit ihrer Vertreter in Fachfragen.
Insofern ist das, was heute Populismus genannt wird, eine fast notwendige Folge von Egalität, Akademisierung und Sozialen Medien. Und deutlich wird auch, dass von Politikverdrossenheit keine Rede sein kann; selten waren die Leute politisch so engagiert wie heute. Selbst Diffamierung und soziale Ausgrenzung schreckt viele nicht ab, sich angeblich populistischen Bewegungen anzuschließen. Die gab es im Übrigen schon im alten Rom. Aber erst jetzt dürften sie zu einem ständigen Begleiter der Politik werden. Wie sie darauf reagiert, wird die Zukunft der Länder prägen.
Denn sicher ist: Das Aufkommen populistischer Bewegungen ist immer auch ein Ausdruck hoher Frustration. Man ist mit seinem Begehr nicht gehört worden, fühlt sich vernachlässigt, übergangen, marginalisiert. Das tut keiner Demokratie gut, und die in allen europäischen Ländern sinkende Wahlbeteiligung, die erst mit der Gründung populistischer Parteien ein Ende fand, ist ein klares Zeichen für eine Krise der repräsentativen Demokratie. „Das Volk wählt und stirbt für vier Jahre ab", meinte einst der Verfassungsrechtler Smend mit Blick auf das deutsche Wahlrecht; tatsächlich wacht es auch nach dieser Zeit immer häufiger nicht mehr auf. Der Wähler bleibt der Urne fern, der Schneewittchen-Zauber versagt. Bei der letzten Hamburger Landtagswahl gaben in einem Ortsteil nur noch 25 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Selbst wer davon ein Drittel der Voten erhält, kann sich kaum legitimiert fühlen. Die Abwendung des Wählers, ein Phänomen vieler repräsentativer Demokratien, vor allem aber des Parteienstaates, stellt letztlich die Demokratie selbst in Frage.
Wer dies nicht will, aber auch die strukturelle Potenz des Populismus erkennt, muss daher die beiden Hauptursachen bekämpfen: Den Unmut über falsche personelle Kontinuitäten wie auch über sachwidrige Politik. Das eine bekommt man in den Griff, indem man den Einfluss der Listenplätze verringert. Denkbar wäre hier, das Verhältnis von Direkt- und Zweitstimmenmandaten eindeutig zugunsten ersterer zu verschieben. Oder man begrenzt mit Mitteln der Aleatorik die Aussichten der Listenkandidaten. Das würde zudem auch den Einfluss außerparlamentarischer Interessensgruppen deutlich einschränken: Wer nicht sicher sein kann, dass er nicht nach dem Zufallsprinzip von der Liste fliegt, ist auch kein verlässlicher Gesprächspartner für Lobbyisten.
Dem zweiten populistischen Movens, nämlich der Verärgerung über dilettantische, weil sachwidrige Politik, ließe sich durch direktdemokratische Elemente begegnen. Hierdurch würde das außerhalb der Parlamente und ihrer Beraterstäbe vorhandene, also gleichsam ‚im Volk’ versammelte Fachwissen nutzbar. Die hiergegen von Vertretern der etablierten Parteien erhobenen Vorbehalte leiden immer am selben Widerspruch: Dass der Wähler zwar ausreichend intelligent und informiert sein soll, um bestimmte Parteien zu wählen, nicht aber für die Entscheidung über konkrete Projekte. Zudem lassen sich etwaige demophobische Befürchtungen durch entsprechende verfassungsgerichtliche Vorprüfungen beseitigen. Wer schließlich die überlange Liste falscher Weichenstellungen betrachtet, die von Volksvertretern über die Jahre durchgesetzt wurden, kann kaum behaupten, dass die repräsentative Demokratie ein Garant für sachliche Richtigkeit ist. Vielmehr sollte man das, was man Politikern zugesteht, auch dem Volk zugutehalten: Dass Irren menschlich ist, und auch politische Entscheidungen zuweilen von der Zukunft widerlegt werden.
Psychologisch haben direktdemokratische Elemente in jedem Fall gewaltige Vorteile: Sie binden die Menschen in die politische Entscheidung ein, machen sie mitverantwortlich. Das sorgt nicht nur für eine höhere Identifikation mit dem Gemeinwesen, sondern auch für größeres politisches Bewusstsein: Was schadet meinem Land, was nutzt ihm? Außerdem muss sich, wer mitentscheidet, diese Entscheidung später auch anrechnen lassen. Der Verweis auf die ‚unfähigen Politiker’ erledigt sich dann von selbst.
Anders als viele Beobachter meinen, ist das Aufkommen populistischer Bewegungen kein Zeichen einer demokratischen Krise, eines Aufstands der Abgehängten und Pluralitätsfeinde. Vielmehr ist meist das Gegenteil richtig: Populistische Vereinigungen sind in aller Regel gerade Ausdruck für die ungebrochene Attraktivität der Demokratie – wie auch für den Mut ihrer Verteidiger. Dass in Zeiten Sozialer Medien und hoher Akademisierung die Regierten ein Mitspracherecht bei fundamentalen politischen Entscheidungen verlangen, und zwar nicht nur alle paar Jahre hinsichtlich ihrer Repräsentanten, wird sich kaum zurückdrehen lassen. Insofern werden populistische, volksdemokratische Einflüsse eher zunehmen. Wer sie nicht über Referenden unmittelbar in den politischen Entscheidungsprozess einbindet, wird auch künftig mit dem Aufkommen neuer Parteien rechnen müssen. Dann wird das Gespenst des Populismus auch weiterhin alle Jahre in Europa umgehen.
Andreas Unterberger
Wie einst der Adel: Überlebenskampf der Machtelite
Politik und Medien, aber auch die sogenannten politischen Wissenschaften wimmeln seit jeher von Kampf-Vokabeln, die alle dieselbe Eigenschaft haben: Je näher man sie untersucht, umso vager und unschärfer werden sie. Sozial, liberal, demokratisch, konservativ, links, rechts, national, heimatverbunden, europäisch, internationalistisch, revolutionär, christlich, Recht-und-Ordnung-orientiert – fast unendlich lässt sich die Reihe dieser Kampfbegriffe fortsetzen. Jeder von ihnen trägt einmal eine positive, einmal eine negative Konnotation. Bei jedem dieser Begriffe gibt es fast so viele gefühlte Bedeutungen und formulierte Definitionen wie Menschen, die sie verwenden. Je nachdem, ob man sich selbst beschreibt oder politisch-ideologische Gegner.
Ganz besonders stark ist dieses Phänomen bei dem im neuen Jahrtausend im Politjargon populär gewordenen Begriff „populistisch zu beobachten. Seine Verwendung ist aber auch ganz ohne denunziatorische Absicht deswegen so häufig und notwendig geworden, weil man eine Sammelbezeichnung für eine Tsunami-Welle an neuen, sich in manchen – nicht allen – Inhalten ähnelnden Bewegungen, Politikern und Parteien rechts der Mitte gebraucht hat. Diese neuen Parteien haben sich selbst freilich die unterschiedlichsten Bezeichnungen gegeben, in denen allerdings nie das Wort „populistisch
vorkommt.
Dieser Tsunami hat das lange versteinerte Parteiensystem kräftig aufgemischt. Dieses hat zwar verzweifelt versucht, Elemente des Populismus zumindest teilweise aufzusaugen. Keine der traditionellen Parteien ist aber den belastenden Rucksack der eigenen Vergangenheit losgeworden.
Zu diesem traditionellen Parteiensystem gehören im Wesentlichen:
• Christdemokratisch-konservativ-bürgerlich-bäuerliche Parteien (wobei in manchen Ländern dieses Lager