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Das lange Sterben der Sowjetunion: Schicksalsjahre 1985-1999
Das lange Sterben der Sowjetunion: Schicksalsjahre 1985-1999
Das lange Sterben der Sowjetunion: Schicksalsjahre 1985-1999
eBook223 Seiten5 Stunden

Das lange Sterben der Sowjetunion: Schicksalsjahre 1985-1999

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Über dieses E-Book

Am 11. März 1985 wurde Michail Gorbatschow Generalsekretär der KPdSU. Mit ihm begannen einschneidende Veränderungen, die sich in den Begriffen "Glasnost" und "Perestroika" manifestierten – und weltweit Hoffnungen auf ein Ende der Blockkonfrontation weckten. Doch er hatte keinen Plan, seine wichtigsten Berater schon: Umbau zur Markwirtschaft hieß ihr Credo. Boris Jelzin nutzte 1991 die Gunst der Stunde, stürzte Gorbatschow, putschte gegen das Parlament – und ließ in einem zehn Jahre dauernden Siechtum die Verschleuderung des Staatseigentums und eine Wild-West-Privatisierung mit krassen sozialen Folgen zu sowie die weltpolitische Geltung Russlands erodieren.
Reinhard Lauterbach analysiert erstmals, wie in 15 Jahren aus dem Weltreich eine Mittelmacht kurz vor dem Kollaps werden konnte. Er skizziert die Fehler Gorbatschows und vor allem die verhängnisvolle Rolle von Boris Jelzin, zeigt die Verheerungen einer Umstellung von der Plan- zur Marktwirtschaft ohne sinnvolles Vorgehen und wie in einer Phase des politischen, militärischen und ökonomischen Vakuums das größte Flächenland der Erde zum Selbstbedienungsladen für einige wenige wurde.
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition Berolina
Erscheinungsdatum5. Mai 2016
ISBN9783958415225
Das lange Sterben der Sowjetunion: Schicksalsjahre 1985-1999

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    Buchvorschau

    Das lange Sterben der Sowjetunion - Reinhard Lauterbach

    www.buchredaktion.de

    Prolog

    Zum Untergang der Sowjetunion

    Eines ist sicher: Der Untergang der Sowjetunion war keine jener »friedlichen Revolutionen« kerzenhaltender »zivilgesellschaftlicher Akteure«, die das vorherrschende Bild des Systemwechsels 1989 zwischen Rostock und Budapest prägen. Er dauerte länger als jene, er ging entgegen dem gängigen Bild nicht ohne Gewalt ab, er wurde erst akut und irreversibel, als jener Systemwechsel in den ehemaligen westlichen Vorfeldstaaten der ­UdSSR­ schon vollzogen war, und er entsprang nicht dem Bedürfnis irgendwelcher Volksmassen. Noch bei einem Referendum im Frühjahr 1991 sprach sich in denjenigen Sowjetrepubliken, in denen es noch stattfinden konnte – die neuen Führungen der baltischen Länder, Moldaus, Armeniens und Georgiens zogen es vor, ihren Bürgern diese Frage nicht zu stellen, womöglich, weil sie sich nicht sicher waren, ob das dort erwünschte Nein herauskommen würde –, eine breite Mehrheit für den Erhalt einer erneuerten Union aus: Bei einer Beteiligung von 80 Prozent waren es 70 Prozent Ja-Stimmen, also auch auf die wahlberechtigte Gesamtbevölkerung bezogen immer noch eine Mehrheit von etwa 56 Prozent. Kein überwältigendes Ergebnis, aber eines, mit dem jedes Referendum anderswo durchgeht. Und selbst wenn das Resultat vermutlich weniger positives Engagement für die ­UdSSR­ spiegelte als vielmehr die Sorge, den bei allen Problemen bekannten Status quo zugunsten einer unkalkulierbaren Zukunft zu verlieren – ist die knappe Mehrheit für den Verbleib in Großbritannien beim schottischen Referendum von 2015 deshalb angezweifelt worden?

    Gewiss, seit dem Sommer 1990 kippte die Stimmung, oder genauer gesagt: Die Leute stimmten jetzt auch anderen Parolen zu, über deren Tragweite sie niemand informiert hatte: Souveränität Russlands oder Unabhängigkeit der Ukraine, Vorrang der einen Gesetze über die anderen und dergleichen. Trotzdem kam Boris Jelzins Beschluss vom 8. Dezember 1991, die ­UdSSR­ aufzulösen, für die meisten Zeitgenossen überraschend.

    Der Untergang der Sowjetunion hatte sicherlich auch langfristige ökonomische und politische Ursachen, die im Nachhinein womöglich besser erkennbar sind, als sie es für die Zeitgenossen waren. Obwohl es an kritischen internen Analysen auch in der Sowjetunion nicht mangelte. Trotzdem ist bei der Beurteilung Vorsicht angebracht: Dass ein Problem existenziell war, sieht man immer erst nachher, wenn es die Existenz gekostet hat. Der Arzt weiß zwar beim Tode des Patienten, dass dieser an Blutvergiftung gestorben ist. Der kleinen Wunde am Finger sah man am Anfang aber nicht zwangsläufig an, dass sie sich dazu auswachsen würde. Die analytisch schwierigen Fragen lauten: Was konnten die Handelnden seinerzeit erkennen, warum handelten sie so und nicht anders? Was bewirkte die Entscheidung Michail Gorbat­schows, die sich zuspitzende Krise über mehrere Jahre laufen zu lassen, bis nichts mehr zu reparieren war? Dass Spitzenpolitiker ihr eigenes Land demontieren, kommt in der Geschichte eher selten vor, und so stellt sich die Frage: Warum haben sie das getan, entgegen der historischen Erfahrung? Oder ist das vielleicht eine falsche Fragestellung – war die Krise für den letzten Generalsekretär am Ende dasjenige Mittel, das ihm helfen sollte, das Ende der Sowjetunion, die er übernommen hatte, zu beschleunigen?

    Wenn Politiker als Totengräber ihrer Länder beschrieben werden, dann ist das in aller Regel ein nachträgliches Urteil, das eine lange Kette von Fehlentscheidungen quittiert. So hat die Entwicklung auch ein Großteil der kurz nach den Ereignissen entstandenen Forschung verstanden; charakteristisch ist der Titel eines 1993 in den USA erschienenen und heute noch lesenswerten Büchleins: What Went Wrong with Perestroika¹ – was ist mit der Perestroika schiefgegangen? Die Fragestellung setzt jenen historischen Regelfall voraus, dass ein Politiker dafür bezahlt wird, das Wohl seines Staates zu mehren und Schaden von ihm zu wenden.

    Nun wird man Gorbatschow nicht unterstellen können, eines dieser Ziele erreicht zu haben. Was also hat ihn getrieben? Ist er ein historischer Unglücksrabe oder war – anderes Extrem – Absicht im Spiel? Und wenn es Vorsatz war, wofür nicht nur der überwiegende Teil des bekannten Quellenmaterials spricht, sondern auch der Umstand, dass die sowjetische Führung auf ein dichtes Netz von Forschungsinstitutionen und Thinktanks zurückgreifen konnte, so dass ein völliger Blindflug unwahrscheinlich erscheint: was waren dann die Motive? Vieles ist Gorbatschow vorgeworfen worden: Eitelkeit, Beratungsresistenz, Naivität, Passivität, auch bewusster Verrat und die Arbeit für westliche Geheimdienste. Je weitreichender freilich die Vorwürfe, desto dünner wird es mit den Beweisen. So geistert eine Rede Gorbat­schows durch das Internet, die er an der Amerikanischen Universität in Ankara 1999 gehalten und in der er erklärt haben soll, es sei sein Lebensziel gewesen, den Kommunismus in der Sowjetunion zu beseitigen, das habe er schon zu Studentenzeiten mit seiner Ehefrau Raissa beschlossen.² Allerdings gibt es in Ankara keine Amerikanische Universität³, so dass die Echtheit dieses Zitats mindestens zweifelhaft ist. Erstaunlicherweise hat selbst Kurt Gossweiler, dem man nun wirklich keine fehlende methodische Qualifikation als Historiker nachsagen kann, offenbar diese einfache Gegenprobe unterlassen und unterstellt die Existenz dieser Hochschule und damit auch die des Zitats⁴ – das ihm freilich nicht als einziges Argument dient.

    Es gibt noch andere »Stellen«, die ein falsches Spiel des Generalsekretärs nahelegen, etwa ein Interview des Spiegel mit Gorbatschow von 1993:

    »Und Gorbatschow musste das Schiff der Peres­troika durch die Klippen steuern. Dabei konnte man noch nicht Dinge ankündigen, für die das Volk noch nicht reif war. Man hätte mich für verrückt erklärt, das Volk wäre zerrissen worden, es hätte zum Bürgerkrieg kommen können. Man musste Geduld zeigen, bis die Parteibürokratie so entmachtet war, dass sie das Rad der Geschichte nicht mehr zurückdrehen konnte. Am Ende hatte die Partei zum Fahren nicht mehr genug Dampf, ihre Kraft reichte gerade noch, ein letztes Mal die Hupe zu betätigen.«⁵

    Das quellenkritische Problem mit ­solchen­ Äußerungen ist nur, dass es sich um Selbstinterpretationen im Nachhinein handelt, die nicht zwangsläufig die Motivation zum Zeitpunkt des Handelns wiedergeben. Bei jemandem, der nach allen gewöhnlichen Kriterien der Politik so grandios gescheitert ist wie Gorbatschow – dem 1993 niemand in Russland eine Träne nachweinte – und dem viele, die mit ihm zusammengearbeitet haben, eine ausgeprägte Eitelkeit nachsagen, sollte man eine nachträgliche Umdeutung dieses Scheiterns in einen irgendwie doch noch genialen Plan zumindest nicht von vornherein ausschließen. Gorbatschow erklärt übrigens bis heute, die Perestroika sei nicht gescheitert, sondern auf halber Strecke abgebrochen worden⁶ – mit der impliziten Konsequenz, dass ihm zumindest für das Ende der Union als Kollateralschaden der Abschaffung des Sozialismus, zu der er sich bekennt, kein Vorwurf zu machen sei. Das Argument hinkt allerdings gewaltig. Gorbatschow bekennt sich dazu, die Herrschaft der Kommunistischen Partei zerschlagen zu haben, die das Land zusammenhielt; selbst wenn seine Analyse zutrifft, hinter den beiden Staatsstreichen des Jahres 1991 – dem des konservativen »Staatskomitees für den Ausnahmezustand« im August und der von Boris Jelzin, Leonid Krawtschuk (Ukraine) und Stanislaw Schuschkewitsch (Belorussland) an einem Wochenende im Dezember beschlossenen Auflösung der Sowjetunion – hätten »Interessen der Nomenklatura« gestanden, »im einen Fall der Teil der Nomenklatura, der seine Macht und Privilegien zu verlieren fürchtete; im anderen Fall der Teil, der unter der neuen Führung der Republiken seine Verfügungsgewalt über das Eigentum, das als ›Unions-, Volks- oder Staatseigentum‹ firmierte, anmelden und legalisieren wollte«⁷, bleibt ja die Frage bestehen, wer dafür verantwortlich war, dass die über Jahrzehnte im Dienst der Sowjetunion erprobte Funktionärsklasse sich veranlasst sah, nach neuen Grundlagen ihres Überlebens Ausschau zu halten. Das Gorbatschowsche »Haltet den Dieb« ist also wenig glaubwürdig.

    Wir sind also auf Indizien angewiesen. Einer, der den Verratsvorwurf erhebt und der ihn eigentlich mit am besten aus eigener Kenntnis belegen können müsste, Gorbatschows ehemaliger Ministerpräsident Nikolai Ryschkow, argumentiert in dieser Sache bemerkenswert unpräzise. Zwar glaubt er zu wissen: »Der mächtige Staatsorganismus starb an schweren Wunden, die ihm nicht so sehr von äußeren Feinden beigebracht wurden, als vielmehr von Verrätern aus den eigenen Reihen, den Hauptinitiatoren seines Untergangs«⁸, und er wirft Gorbatschow persönlich »Käuflichkeit« vor⁹. Konkrete Beweise dafür bleibt der Autor aber schuldig, und es fällt auf, dass Ryschkow in seinem mit kürzerem zeitlichen Abstand von den Ereignissen geschriebenen Memoirenband Die Perestroika. Die Geschichte der vielen Verrate (nur in russischer Sprache erschienen) deutlich zurückhaltender geblieben war:

    »Ja, die Perestroika wurde verraten! Aber von uns selbst. Von denjenigen, die sie sich ausgedacht haben, die sie begonnen und ins Werk gesetzt haben, von denen, die sie beerdigt haben. Ich will mich selbst gar nicht davon ausnehmen, nur am Begräbnis brauchte ich zu meinem Glück nicht mehr teilzunehmen. Doch der große Verrat setzte sich aus einer Vielzahl von kleinen Verraten zusammen, die man einzeln betrachtet kaum als Verrat bezeichnen könnte. Zugeständnisse an den Populismus, Zurückweichen vor der Gewalt, Einknicken vor der Autorität. Kleinmut, das gewöhnliche russische Hoffen auf den Zufall. Korrektur. Verbesserung, Verwechslung des Geplanten und des Bequemen. Aber eine Schneekugel besteht aus Schneeflocken, und wenn sie den Berg hinunterrollt, reißt sie alles mit sich.«¹⁰

    Man merkt, dass der Begriff des Verrats hier nur noch moralisch gefasst ist: Zugeständnisse … Zurückweichen … Einknicken … Kleinmut. Dahinter steht natürlich die Diskrepanz zwischen Ideal und »verratener« Realität, wie sie jedem Verratsvorwurf zugrunde liegt. Ich halte von solchem Denken nicht viel; es bringt einen der Erklärung der Vorgänge nicht näher, glaubt nur, aus hilfloser Distanz des sich verraten Fühlenden, Schuldige benennen zu können.

    Ich will versuchen, die Geschichte des Verfalls und Untergangs der Sowjetunion als die Geschichte einer wachsenden Unzufriedenheit der so­wjetischen ­Führung mit der von ihr selbstgestalteten Gesellschaftsordnung zu erzählen. Der Kern meiner Argumentation ist, dass Gorbatschow und die übrigen ­»Reformer« einen Parteiflügel repräsentierten, der dem Land eine andere Staatsräson verpassen wollte. Alles sei verfault, sollen sich Gorbatschow und sein künftiger Außenminister Eduard Schewardnadse Anfang der 1980er Jahre einmal bei einem Winterspaziergang am Schwarzmeerstrand unter vier Augen ausgesprochen haben: So könne man nicht weiterleben.¹¹ Das positive Gegenbild bot der real existierende Kapitalismus, wie ihn die Genossen bei gelegentlichen Westreisen erlebten – jene »soziale Marktwirtschaft«, die sie nicht als historische Ausnahme durchschauten.

    Nochmals der Gorbatschow aus dem Spiegel-Interview von 1993, aber diesmal nicht im Nachhinein urteilend, sondern im historischen Präsens und deshalb als Quelle aussagekräftiger:

    »Gorbatschow: Wenn Sie meine Aussagen nehmen, dann wird Ihnen klar, dass meine politischen Sympathien der Sozialdemokratie gehören und der Idee von einem Sozialstaat nach der Art der Bundesrepublik Deutschland.

    Spiegel: Wie bitte?

    Gorbatschow: Ich möchte Ihr Land nicht idealisieren, aber ich bin für einen Staat, der für soziale Sicherheit sorgt, einen Rechtsstaat mit einem funktionierenden Parlamentarismus, der eine Föderation von weitgehend selbständigen Bundesländern mit einem kräftigen Zentrum darstellt. Ich habe das in Bonn und in München selbst erlebt – wie sie ihre Interessen aufeinander abstimmen.«¹²

    Es ist schnell zu haben, Gorbatschow hier Naivität vorzuwerfen: nicht zu erkennen, dass die »soziale Marktwirtschaft« in der Existenz des Realsozialismus ihre Voraussetzung hatte, weshalb ihre sozialen Elemente auch konsequenterweise Schritt für Schritt geschleift wurden, als der Gegenentwurf im Osten von seinen eigenen Führern aufgegeben worden war. Unüberhörbar ist, dass Gorbatschow der erfolgreiche Staat BRD imponierte, in dem all das realisiert schien, was er in den letzten Jahren der Sowjetunion nicht hatte erreichen können. Dass Gorbatschow über die »weitgehende Selbständigkeit« der deutschen Bundesländer schlichten Unsinn verzapfte, sieht man zwar auf den ersten Blick, aber das ist hier nicht der entscheidende Punkt. Viel aufschlussreicher ist: Wenn Gorbatschow hier – zu Recht oder zu Unrecht – die Bundesrepublik Deutschland als Modell für jene Sowjetunion interpretierte, die er gern bekommen hätte, dann war die Sowjetunion für ihn eben auch nicht mehr der Gegenentwurf zum Kapitalismus, sondern ein Konkurrenzmodell sozialer Gestaltung nach dem Brechtschen Motto: »Es geht auch anders, doch so geht es auch.«¹³ Und erst jetzt kommt die wirklich spannende Frage: Wie viel »Gegen« war eigentlich in diesem Entwurf wirklich enthalten? War Gorbat­schow der Mörder des so­wjetischen Sozialismus, sein Totengräber oder ein Scharlatan im Arztkittel?

    Wie auch immer: Dieses Programm des Fahnenwechsels politisch durchzusetzen, schloss schöne Fensterreden ebenso ein wie politische Täuschungsmanöver nach innen. Immerhin hatte Gorbatschow, auch wenn er als Generalsekretär der KPdSU die Nummer eins der Partei war, in den kollektiven Entscheidungsgremien Politbüro und ZK nie eine Mehrheit. Er musste darauf setzen, dass die schweigende Mehrheit weiter schwieg, sei es aus Parteidisziplin, sei es, weil ihr Gorbatschow die Tragweite seiner Pläne verschwieg beziehungsweise sie seine phrasengesättigten Ansprachen auf genau solches Phrasengestrüpp reduzierten und es damit unterschätzten. Je tiefer die Krise war, in die er das Land führte, desto stärker fürchtete er sich davor, dass ihn jene Mehrheit so abservieren könnte, wie die Gruppe um Leonid Breschnew 1964 Nikita Chruschtschow entmachtet hatte. Das Unterlassen entschiedenen Handelns bei auftauchenden Problemen, das viele sowjetische Ex-Funktionäre ihm in ihren Memoiren als Verrat anlasten, wird in solchem Kontext plötzlich zu einem Komplementärfall der von Naomi Klein beschriebenen »Schockstrategie«¹⁴. Das von Klein beschriebene Modell beruht darauf, dass entschlossene Minderheiten soziale Kata­strophen nutzen, um das, was sie ohnehin vorhaben, ohne größeren Widerspruch durchzusetzen. Es ist viel Papier damit vollgeschrieben worden, dem Handeln Gorbatschows Zögerlichkeit oder Unentschlossenheit vorzuwerfen; sieht man dagegen sein Handeln vor dem Hintergrund des Kleinschen Modells, gewinnt es eine Logik: im Ausgangspunkt beherrschbare Schwierigkeiten so lange zu ignorieren, bis sie wirklich krisenhafte Ausmaße angenommen haben, und dann das eigene Handeln in derselben höchsten Not, die man zuvor hat heranreifen lassen, als alternativlos darzustellen und Einsprüche dagegen präventiv niederzubügeln. Gorbatschows monotoner Verweis auf »das Leben«, das dies oder jenes verlange – und dem sich entgegenzustellen per definitionem zwecklos sei –, ist eine gewollte Begriffslosigkeit, die, wie mir scheint, weniger auf politische Dummheit als auf eine solche Strategie hindeutet.

    Das heißt nicht, dass die Perestroika nach Gorbatschows Wunsch verlaufen wäre. Dafür, dass die So­wjetunion – als deren gewählter Präsident er sich sicher gern noch länger im Licht internationaler Aufmerksamkeit gesonnt hätte – auseinanderbrach, hat er zwar die Voraussetzungen geschaffen, aber konkret gehandelt hat zum Schluss Boris Jelzin. Gorbatschows Wirtschaftsreformen drehten anfangs nur an einigen Stellschrauben der so­wjetischen Planung, doch als die erwünschten Wirkungen ausblieben, hielt er sich an die dogmatische Devise, die Dosis zu erhöhen, ohne sich noch zu fragen, ob die Diagnose stimme oder die Arznei die richtige sei. Insofern lag der Perestroika sicher eine Richtungsentscheidung zugrunde, es mit »mehr Markt« zu versuchen. Dies war nicht nur die Richtungsentscheidung Gorbatschows; er repräsentierte eine größere Gruppe innerhalb der Parteiführung. Aber die Erweiterung in Richtung »nur noch Markt« und »weg mit dem Plan«, die Gorbatschow und seine Anhänger aus dem ausbleibenden Erfolg der ersten Schritte ableiteten, wurde nicht von allen mitgetragen, die anfangs mit Gorbatschow antraten. Unbeabsichtigte Nebenfolge seiner Wirtschaftspolitik waren die zu nicht vorhergesehener Schärfe eskalierenden Nationalitätenprobleme. Sie hingen auf doppelte Weise mit den »Reformen« zusammen: Erstens, indem diese den Spielraum der unteren Einheiten – der Betriebe und der Republiken – erhöhten, was dort den Ressortegoismus begünstigte

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