Die Schlacht auf dem Lechfeld
Von Charles Bowlus
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Buchvorschau
Die Schlacht auf dem Lechfeld - Charles Bowlus
NAVIGATION
Buch lesen
Cover
Haupttitel
Inhalt
Karten
Quellenverzeichnis
Literaturverzeichnis
Abbildungsnachweis
Anmerkungen
Über den Autor
Über das Buch
Impressum
Hinweise des Verlags
Charles R. Bowlus
Die Schlacht auf dem Lechfeld
Jan Thorbecke Verlag
Für Barbara
Cordelia und Jazz
Christopher und Carrie
INHALT
VORWORT VON STEFAN WEINFURTER
VORWORT DES AUTORS
EINLEITUNG
Die Schlacht und ihre Bedeutung
Zeitgenössische Berichte
UNGARISCHE KRIEGSFÜHRUNG
Pferde und Weiden
Die Kunst des Bogenschießens
Die Magyaren: Krieger und Räuber
DIE MILITÄRREFORMEN HEINRICHS I.
Militärorganisation und Gesellschaft
Krieg gegen die Slawen
Der ungarische Einfall von 933
DIE UNGARN UND DAS LATEINISCHE ABENDLAND
Hintergründe
Das Herzogtum Bayern
Rebellionen und Invasionen, 953–954
DER WEG ZUM LECHFELD
Die ungarische Strategie
Ottos Strategie
Die Umklammerung
Die Hauptschlacht
DER WEG VOM LECHFELD
Stürmisches Wetter
Krieger und Burgen
Das Erbe von St. Lorenz
ZUSAMMENFASSUNG
Ungarische Niederlage – Ottonischer Triumph
KARTEN
QUELLENVERZEICHNIS
LITERATURVERZEICHNIS
ABBILDUNGSNACHWEIS
ANMERKUNGEN
Krönung Heinrichs II.: St. Ulrich hält den Arm Heinrichs II. mit der Heiligen Lanze, Miniatur aus dem Sakramentar, das Heinrich II. Anfang des 11. Jahrhunderts in Regensburg anfertigen ließ und dem Bamberger Dom stiftete.
VORWORT VON STEPHAN WEINFURTER
Otto der Große, sein Kaisertum und die Lechfeldschlacht
ZUR EINFÜHRUNG
An Mariä Lichtmess, dem 2. Februar 962, einem Sonntag, wurde Otto der Große in Rom von Papst Johannes XII. zum Kaiser gekrönt.¹ Seine erste, im Original erhaltene Kaiserurkunde stammt vom 21. Februar 962.² Darin nennt er sich »Otto, von Gottes Gnaden Kaiser Augustus«. An der Urkunde wurde ein ganz neues Siegel angebracht. Es zeigt Otto in einer bis dahin nicht dagewesenen Darstellung.³ Der Kaiser präsentiert sich frontal als Halbfigur in majestätischer Haltung, mit hoher Krone auf dem Haupt, langem Szepter in der Rechten und einem kreuzgeschmückten Reichsapfel in der Linken. An die Stelle des im ostfränkischen Reich bis dahin üblichen »Heerführer-Typus« mit Speer und Schild und dem Kopf in Seitenansicht trat mit dem römischen Kaisertum das Frontalbild. Statt der Waffen hält der Herrscher nun Insignien – Szepter und Globus – in Händen. Otto, so signalisiert dieser Wechsel des Siegelbildes, verfügte fortan über eine ganz neuartige Autorität, die er dem Betrachter mit einem Blick in die Augen vermittelte.
Diese Abkehr vom Kriegerkönig zum Weltenkaiser ist bemerkenswert, denn den ersten Schritt zum Kaisertum vollzog Otto als erfolgreicher Kriegsführer durch einen militärischen Sieg, der zweifellos zu den epochalen Ereignissen des Mittelalters zählt. Es war der Sieg über die Ungarn auf dem Lechfeld vor Augsburg am 10. August 955, dem Tag des heiligen Laurentius. Aus der Sicht unseres wichtigsten Gewährsmannes zur Geschichte dieser Epoche, Widukind von Corvey, war dieses Ereignis die Grundlage für Ottos Kaisertum: Auf diesen triumphalen Erfolg hin sei Otto von seinem Heer als »Vater des Vaterlandes und als Kaiser ausgerufen worden«.⁴ Konsequenterweise legte Widukind dem Herrscher von diesem Moment an in seinem Geschichtswerk den Titel Kaiser bei. Wir müssen dieses Signal ernst nehmen: Für die Menschen des ostfränkisch-deutschen Reichs, das sich um die Mitte des 10. Jahrhundert mühsam erst zu festigen begann, muss das Augsburger Ereignis von 955 von eminenter Bedeutung gewesen sein. Die Bemerkung bei Widukind, dass seit zweihundert Jahren keiner der Könige vor Otto jemals einen solchen Sieg errungen habe, macht deutlich, auf welcher Ebene man das Ereignis einordnete: 732 hatte Karl Martell die arabische Invasion in das Frankenreich zurückgeschlagen. Beide Male, so wollte Widukind zum Ausdruck bringen, ging es um den Weiterbestand der Völker christlicher Ordnung und Werte. Jedes Jahr wurde dieses Ereignis fortan festlich begangen und blieb so als »Gedächtnisort« dieser Zeit erhalten. Da außer den Sachsen alle Völker mehr oder weniger an dem Geschehen vor Augsburg 955 beteiligt waren, konnte sich auch die Vorstellung von einer Gemeinschaftsleistung ausbilden.
Eines der stärksten Zeichen für die Wirkung der Lechfeldschlacht war der Aufstieg des bischöflichen Helden, Bischof Ulrichs von Augsburg, unter die führenden Reichsheiligen. Die geradezu übernatürlichen Leistungen des Kirchenmannes bei der Abwehr der Ungarn von seiner Stadt wurden vom Dompropst Gerhard von Augsburg in der von ihm verfassten Vita Sancti Uodalrici ausführlich geschildert.⁵ Der Autor war Augenzeuge der Geschehnisse. Vieles an seinem Bericht ist gewiss im Stil einer Lobrede überzogen, aber man muss doch davon ausgehen, dass der Bischof sich in der Tat durch eine hervorragende Übersicht, Führungsqualität und auch strategisch-taktische Maßnahmen auszeichnete. Dass er und die Stadt den Angriff schließlich überstanden, verdankten sie allerdings dem raschen Anmarsch Ottos und seines Heeres. Aber die beiden, Ulrich und Otto, vereinten sich in der Wahrnehmung zur siegreichen Führung der christlichen Kämpfer. Ulrich, der die Hilfe Gottes offensichtlich erfolgreich erflehen konnte, wurde wie Otto zum Retter der Christenheit.
Der Augsburger Bischof starb am 4. Juli 973 und wurde in St. Afra beigesetzt. Schon nach kurzer Zeit begann die Verehrung. Bereits am 16. Oktober 992 wurde er anlässlich der Halberstädter Domweihe erstmals zur Ehre der Altäre erhoben.⁶ Zwölf Erzbischöfe und Bischöfe waren bei dem feierlichen Akt anwesend, ebenso der junge König Otto III., dessen Großmutter, die Kaiserin Adelheid – die damals nach dem Tod von Ottos III. Mutter, der Kaiserin Theophanu, die Leitung der Regierungsgeschäfte wieder übernommen hatte – und seine Tante, die Äbtissin Mathilde von Quedlinburg. Der Königshof mit seinen höchsten Repräsentanten hatte sich eingefunden: eine groß inszenierte Demonstration der ottonischen Kaiserfamilie! Bei dieser Gelegenheit wurden im Rahmen der Domweihe die wichtigsten Heiligen des Hofes in der neuen Halberstädter Kathedrale vereint und vergegenwärtigt, und zum ersten Mal wurde Ulrich in diesen Kreis aufgenommen.⁷ Dabei darf auch nicht übersehen werden, dass Ulrich dem Verwandtkreis Kaiserin Adelheids angehörte.⁸
Kurz darauf eilte Bischof Liutold von Augsburg (988–996) – zweifellos in Absprache mit dem ottonischen Hof – nach Rom und erlangte am 3. Februar 993 die Anerkennung von Ulrichs Heiligkeit durch ein Privileg von Papst Johannes XV. (985–996).⁹ »Mit frömmstem Eifer und gläubigster Andacht« (affectu piissimo et devotione fidelissima) sollte Ulrich als Heiliger verehrt werden. Diese Vorgänge darf man gewiss als sensationell bezeichnen, denn Ulrich hatte keineswegs als Märtyrer sein Leben beendet – was gewöhnlich als Voraussetzung für Heiligkeit galt –, sondern war eines ganz natürlichen Todes gestorben. Um jeglichen Einwand gegen die Verehrung auszuschalten, wurde hier erstmals der Papst als Autorität für eine Erhebung in den Kreis der Heiligen einbezogen. All das kann nur erklärt werden mit der außerordentlichen Wirkung der Lechfeldschlacht von 955 und der Rolle, die Ulrich hier spielte. Als Otto III. 1002 starb, ließ Heinrich II., sein Nachfolger, die Eingeweide des toten Kaisers im Kloster Sankt Afra beisetzen, beim heiligen Ulrich also. Er selbst ließ sich auf einem Herrscherbild im Regensburger Sakramentar die Heilige Lanze vom heiligen Ulrich überreichen¹⁰ – allesamt Zeugnisse der ungemein kraftvollen Ausstrahlung und Nachhaltigkeit der Ereignisse von 955. Dass auch die Errichtung des Bistums Merseburg zu Ehren des heiligen Laurentius, an dessen Festtag der Sieg errungen worden war, in diese Zusammenhänge gehört, soll wenigstens erwähnt werden.¹¹
Aber, und damit komme ich auf die Eingangsfrage zurück, der glänzende militärische Erfolg, so sehr er im Reich selbst seine Wirkung entfaltete, reichte für die Installation eines Kaisertums in dieser Zeit nicht mehr aus. Ein »romfreies« Kaisertum war, wie uns Widukind attestiert, noch denkbar,¹² aber nicht mehr zu verwirklichen. 813 konnte Karl der Große seinen Sohn, Ludwig den Frommen, noch ohne den Papst in die imperiale Würde erheben. Aber die Entwicklung war längst vorangeschritten. Nur noch der Papst konnte den kaiserlichen Rang rechtswirksam übertragen. In dieser Überzeugung wurde der Papst durch das Constitutum Constantini (die »Konstantinische Schenkung«) bestärkt, die um die Mitte des 10. Jahrhunderts in Rom durchaus präsent war.¹³ Es handelte sich um die gefälschte Urkunde, mit der Kaiser Konstantin im 4. Jahrhundert das westliche römische Kaisertum dem Papst Silvester I. anvertraut haben soll. Und noch eine weitere Voraussetzung für das Kaisertum hatte sich inzwischen eingespielt: die Herrschaft über Italien. Nur noch Könige von Italien waren zuletzt zu Kaisern erhoben worden. So hatte die Entwicklung im späten 9. und frühen 10. Jahrhundert Fakten geschaffen.¹⁴
Unter solchen Perspektiven rückt nicht nur Ottos Griff nach der Königsherrschaft in Italien 951 in den Fokus, sondern ebenso seine Heirat mit Adelheid (gest. 999), der verwitweten Königin von Italien, im selben Jahr. Sie konnte ihrem sächsischen Gemahl die imperiale Tradition aus mediterraner Sicht vermitteln. Im Königreich von Italien war längst ein Siegel entwickelt worden, auf dem der Herrscher mit Krone und Szepter zu sehen war, allerdings noch nicht in Frontalansicht, sondern im Profil. So ließ sich auch König Lothar, der erste Gemahl Adelheids, der 950 starb, darstellen.
Adelheid stammte zwar aus dem burgundischen Königshaus, aber schon als junges Mädchen wurde sie an den italischen Königshof in Pavia gebracht.¹⁵ Dort hatte bis 924 der letzte westliche Kaiser, Berengar von Friaul, residiert, und dort war auch noch für Adelheid ein Jahrzehnt später Gelegenheit, sich mit der Kultur und der imperialen Tradition des Königshauses vertraut zu machen. Wie sehr diese Impulse für das Kaisertum Ottos von Bedeutung wurden, hat bereits der Biograph Adelheids, Abt Odilo von Cluny, festgehalten, als er schrieb, Adelheid habe 962 »in Rom Otto dem Reich als würdigsten Kaiser vorangestellt«¹⁶ (Ottonem regem nobilem Rome prefecit cesarem imperio dignissimum). Mit Adelheid kam 951/952 auch Kanzleipersonal aus dem Königreich Italien an den Hof Ottos des Großen. Diese Männer waren vertraut mit den Zeichen imperialer Repräsentation. Ganz in ihrer Nähe, in Ravenna, befand sich eines der Zentren byzantinischer Kaiserherrschaft in Italien. Diese Männer aus Italien dürften eine wichtige Rolle gespielt haben, als am Hof Ottos des Großen das neue Kaisersiegel entworfen wurde. Sie kannten die byzantinischen Münzen, auf denen der Kaiser frontal dargestellt war. In Byzanz war das Repräsentationsbild der Spätantike beibehalten worden. Vor allem die Frontalansicht des Kaisers war dort üblich. Von Byzanz stammte auch die Verwendung des Globus als Symbol für die Weltherrschaft. Er wurde auf dem Kaisersiegel Ottos freilich mit dem Kreuz versehen, ein wichtiges Signal für die christliche Umdeutung.
Diese Vorgänge und Voraussetzungen liefern die Erklärung dafür, dass Otto, als er am 2. Februar 962 zusammen mit Adelheid in der Peterskirche in Rom die Kaiserkrönung durch den Papst erlangte,¹⁷ sich in den Zeichen seiner imperialen Würde nach ganz anderen Vorgaben ausrichtete,¹⁸ als es der Sieg auf dem Lechfeld zunächst nahegelegt hatte. Dies scheint auch die Ursache dafür zu sein, dass ebenso die Forschung zu Otto dem Großen den Sieg auf dem Lechfeld zwar nicht übersieht, aber in seiner ungeheuren Wirkung in der Zeit vielleicht nicht immer ausreichend würdigt. Ohne diesen »glänzenden Triumph« (triumphus celeber), wie Widukind ihn bezeichnete, wäre – diese Deutung scheint mir nicht zu gewagt – ein ottonisches Kaisertum schwerlich zustande gekommen. So wird man es als eine längst erforderliche und höchst willkommene Bereicherung der Forschung zur Ottonenzeit ansehen, dass Charles R. Bowlus nach jahrelangen, intensiven Studien nunmehr mit diesem Buch eine grundlegende Analyse der Lechfeldschlacht bietet und damit den Blick wieder verstärkt auch auf diese Komponente im ottonischen Aufstieg lenkt.
VORWORT DES AUTORS
Zur englischen Ausgabe
Dieses Buch hat eine lange Reifezeit hinter sich. 1968 konfrontierte mich Professor A. R. Lewis zum ersten Mal mit der Frage: Wie kam es, dass das lateinische Abendland während des Hochmittelalters von Nomadeneinfällen aus Zentralasien weitgehend verschont blieb, in einer Ära, wo andere »fortgeschrittene« Zivilisationen in der Alten Welt immer wieder gegen Überfälle aus den Steppen und Wüsten zu kämpfen hatten? Im vorliegenden Band findet sich zwar keine Antwort auf diese komplexe Frage; es wird jedoch versucht, eine Erklärung dafür zu finden, warum räuberischen Nomadenvölkern in den östlichen Randzonen des Abendlandes auf die Dauer wenig Erfolg beschieden war. Eine umfassende Untersuchung der Ungarn, die, abgesehen vom kurzen Mongolensturm 1241–1242, als letztes asiatisches Steppenvolk die westlichen Königreiche bedrohten, bringt neue Einblicke in diesen Problemkreis. Die Magyaren, ein Volk von berittenen Bogenschützen, folgten in ihrem Drang nach Westen den Hunnen und Awaren und ließen sich um etwa 900 im Karpatenbecken nieder. Ursprünglich schien mir, dieses Gebiet hätte ideale Bedingungen für nomadische Waffenverbände bieten müssen, die in Technik und Logistik auf räuberische Kriegszüge spezialisiert waren. Doch die ungarischen Einfälle in die westlichen Königreiche kamen am 10. August 955 zu einem abrupten Ende. Was war wohl die Ursache dieser endgültigen Niederlage?
Als ich über dieses Problem nachzudenken begann, hatten verschiedene Gelehrte die traditionellen Ansichten über die Auswirkung der magyarischen Streifzüge in den Westen bereits in Frage gestellt. Sowohl Szabolcs de Vajay und Thomas von Bogyay wie auch Gina Fasoli argumentierten überzeugend, dass die Einfälle der räuberischen Nomaden nicht so schwerwiegend waren, wie allgemein angenommen, und dass man die Vorstöße dieser Reiterbanden im Zusammenhang mit der militärischen und politischen Situation in Westeuropa Ende des 9. und am Anfang des 10. Jahrhunderts verstehen müsse. Um die gleiche Zeit entwickelten Denis Sinor und, kurz danach, Rudi Paul Lindner die These, dass die Möglichkeiten des Ökosystems im Karpatenbecken niemals ausreichen konnten, um eine »Großmacht« nach dem Vorbild des innerasiatischen Mongolenreichs zu unterhalten. Zudem kamen die beiden zur Überzeugung, dass die Ungarn, gleich den Hunnen und Awaren vor ihnen, schon bald nach ihrer Ansiedlung im Randgebiet des lateinischen Abendlandes gezwungen waren, die Art ihrer Kriegführung zu ändern. Gleichzeitig erschienen zwei bahnbrechende Artikel von Karl Leyser, in denen er argumentierte, dass aus europäischer Sicht die berittenen Bogenschützen, die nach den Quellen des 10. Jahrhunderts unbezwingbar schienen, den schwer gepanzerten Kriegern aus dem Westen keineswegs überlegen waren.
Spätestens um die Mitte der 70er Jahre kam ich zur Überzeugung, dass die Frage, die Professor Lewis aufgeworfen hatte, wenigstens teilweise beantwortet werden kann: Das lateinische Abendland blieb während des Hochmittelalters weitgehend von dauerhaften Einfällen räuberischer Reiternomaden verschont, weil das Karpatenbecken nicht genügend Ressourcen bot, um deren gewohnte Lebensweise aufrecht zu erhalten. Ferner mussten die Magyaren ihre Kampfweise ändern, um gegen westliche Heere zu bestehen, und im Laufe dieser Umstellung verwandelten sich die beutegierigen Kriegerbanden unabwendbar in eine Gesellschaft von Ackerbauern und Viehzüchtern.
Obwohl ich weiterhin über Fragen nachdachte, welche die Ansiedlung von Nomadenvölkern in den Randgebieten des lateinischen Abendlandes betrafen, und versuchte, mit der Fachliteratur Schritt zu halten, begann ich mich erst 1993 ernsthaft in diesen Stoff zu vertiefen. Dabei konzentrierte ich mich namentlich auf die sogenannte Schlacht auf dem Lechfeld 955, um zu zeigen, warum die ungarischen Reiterschützen meines Erachtens für eine Konfrontation mit dem Heer Ottos I. ungenügend vorbereitet waren. Der Anlass zu dieser Arbeit war das deutsch-amerikanische Mediävisten-Symposium, das im Mai 1993 an der Universität Notre Dame in South Bend, Indiana, stattfand. Damals kommentierte ich ein Referat von Johannes Fried, in dem er behauptete, Otto der Große sei ein inkompetenter Heerführer gewesen. Nach seiner Meinung beruhte der Sieg des Königs allein auf »Schlachtenglück«, war also praktisch ein Zufall. Fried glaubte, Otto hätte einen gravierenden Fehler begangen, als er zuließ, dass ein ungarisches Reiterkontingent seine Marschkolonne einkreiste und seinen Streitkräften in der Folge in den Rücken fiel. Ich sah die Sache anders. Ich wies darauf hin, dass in den letzten Jahren verschiedene Gelehrte zum Schluss gekommen waren, dass, im Gegensatz zu Frieds Meinung, der magyarische Feldzug inkompetent geführt wurde. Ich zitierte zeitgenössische Quellen (besonders hervorgehoben von Thomas von Bogyay), die zeigen, dass der ungarische Versuch, das deutsche Heer zu umzingeln, völlig misslang, weil die Angreifer den Tross zu plündern begannen, statt gleich ihren Vorfahren (nach dem Zeugnis des byzantinischen Kaisers Leo VI.) die ottonische Nachhut von hinten aufzurollen. Ferner führte ich Karl Leysers Argument ins Feld, der überzeugt war, dass die Ungarn falsch kalkuliert hatten, als sie sich für einen Nahkampf mit Ottos schwerer Reiterei entschieden, anstatt die Gegner, die viel weniger beweglich waren, durch eine Scheinflucht auf die weite Lechebene in Fallen und Hinterhalte zu locken. Zudem äußerte ich die Ansicht, falls Ottos Sieg wirklich auf einem glücklichen Zufall beruht hätte, müsste man den Grund eher bei den schweren, spätsommerlichen Regenfällen suchen, die zu katastrophalen Überschwemmungen führten, welche den Ungarn die gewohnten Fluchtwege ins Karpatenbecken abschnitten. Doch wies ich auch darauf hin, dass die sintflutartigen Niederschläge zwar einem glücklichen Zufall gleichkommen mochten, die Stationierung bewaffneter Kontingente in der Nähe von Flussübergängen dagegen einer bewussten Strategie entsprungen sein musste. Ich vertrat die Meinung, dass Herrscher der ottonischen Periode eine militärische Organisation der Verteidigung in der Tiefe entwickelt hatten und dass dieses System beweist, dass die Fürsten jener Zeit erkannt hatten, wie Steppenkrieger erfolgreich bekämpft werden konnten.
So entwickelte sich aus diesen Ideen langsam eine überzeugende These.1994, als mich Stefan Weinfurter zu einem Gastvortrag an die Universität Mainz einlud, schien mir, meine Forschung sei schon so weit fortgeschritten, dass sich in wenigen Monaten ein druckfertiges Buchmanuskript fertigstellen ließe. Professor Weinfurter war skeptisch – mit Recht! Bis ich mich endlich an ein Buchformat heranwagte, behandelte ich während eines Jahrzehnts in Artikeln und Referaten verschiedene Aspekte dieser Thematik. Viele der Ideen, die ich 1993 am Symposium in Notre Dame vorbrachte, habe ich stark modifiziert, andere sogar völlig verworfen. Auch jetzt gebe ich die Studie nur zögernd in den Druck; denn ich bin mir bewusst, dass es noch Manches zu verfeinern und zu verbessern gäbe.
Dankbar denke ich an die vielen Freunden und Kollegen, die mich mit ihren guten Ratschlägen auf diesem langen Weg begleitet haben. Es wären zu viele, um alle persönlich aufzuführen. Doch besonders wertvoll waren die Unterstützung und das Interesse meiner Familie. Mein Sohn Christopher und seine Frau, Carrie, verstehen etwas von Pferden und deren Bedürfnissen in Ernährung und Zucht. Sie haben ihr Wissen immer bereitwillig mit mir geteilt und im Lauf der Jahre habe ich viel von ihnen gelernt. Die vielseitigen Interessen meiner Tochter Cordelia, die als ganz junger Mensch längere Zeit in Europa und Sibirien gelebt hat, führen regelmäßig zu anregenden Diskussionen, die Geschichte, Politik und Ökologie umfassen. Ihre Kenntnisse, scharfe Beobachtungsgabe und Begeisterung bleiben für mich eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration. Cordelias Gatte, Michael Jasinski, der nach dem Kalten Krieg in Russland als Inspektor und Dolmetscher bei ballistischen Raketenanlagen tätig war, hat mir die physikalischen Prinzipien von Masse in Bewegung erneut ins Gedächtnis gerufen. In Pfeile, die von Reflexbogen abgehen, sind gleichfalls ballistische Geschosse. Ohne die Hilfe meines Schwiegersohns wäre es mir unmöglich gewesen, die wichtigen Aspekte der Bogenschießkunst richtig darzustellen. Doch meine größte Stütze war und ist noch immer meine Frau Barbara. 1991 radelte sie mit mir kreuz und quer durch Transdanubien, und ein Jahrzehnt später befuhren wir zusammen im Auto die weiträumige Pusztalandschaft des Nyirség am Fuß der Karpaten. Ohne ihre stetige Ermutigung wäre dieses Buch wohl kaum entstanden. Ihre strenge, aber gleichzeitig feinfühlige Kritik ist mir bei der Arbeit an zahlreichen Publikationen zu Gute gekommen, besonders aber beim Lechfeldbuch. Ihr bin ich zu großem Dank verpflichtet. Etwaige Fehler oder Ungenauigkeiten im vorliegenden Band sind jedoch mir allein zuzuschreiben.
Charles R. Bowlus,
München, Dezember 2005
Zur deutschen Ausgabe
Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen.
Friederich Schiller, Wallenstein
Die vorliegende Studie befasst sich mit einer Reihe von kriegerischen Ereignissen im August 955, die in der Überlieferung zusammenfassend die Schlacht auf dem Lechfeld genannt werden. Bei diesem Geschehen handelte es sich im Wesentlichen um ein blutige Auseinandersetzung, wobei – bedingt durch die ökologischen Gegebenheiten –zwei verschiedene Arten von Kriegsführung in den Randzonen des Abendlandes gewaltsam aufeinander prallten. Im Osten erstreckten sich die weiträumigen Steppenlandschaften mit ihren Nomadenvölkern, im Westen dominierte ein vielseitiges Landschaftsbild, wo seit Jahrtausenden Ackerbau und Viehzucht getrieben worden waren und wo, zumindest zur Römerzeit, ein städtische Kultur blühte. In diesen beiden Zonen hatte sich das Kriegswesen völlig verschieden entwickelt. Die Magyaren kämpften als berittene Bogenschützen, indem sie ihre Mobilität und Schießkunst einsetzten, um ins Territorium ihrer sesshaften Nachbarn einzudringen und von Raubgut oder Tribut der westlichen Gesellschaften zu leben. Im Westen verfolgte man eine Strategie der Verteidigung in der Tiefe, und 955 setzte König Ottos I. Triumph auf dem Schlachtfeld den Ungarnzügen ein Ende. Darauf folgte eine Entwicklung, die im Hochmittelalter diverse Ideen und Institutionen friedlicher nebeneinander existieren ließ, als dies seit der Pax Romana des 2. Jahrhunderts möglich gewesen war.
Seit dem Erscheinen der englischen Version dieses Buches bin ich zur Überzeugung gelangt, dass eine Übersetzung ins Deutsche wünschenswert wäre. Dabei hat mich wohl meine Frau Barbara, die mich Schritt um Schritt in meiner Forschung begleitet hat, stark beeinflusst. Ihre Begeisterung für dieses Projekt gab mir das Selbstvertrauen, dass meine Ideen auch deutschen Mediävisten neue Wege aufzeigen könnten. Denn bis dahin schien meine Forschung im deutschen Sprachgebiet wenig Beachtung gefunden zu haben. Eine rühmliche Ausnahme bildet Joachim Ehlers, der die Studie gründlich gelesen, verstanden und im Deutschen Archiv (2007) ausgezeichnet rezensiert hat. Mein besonderes Anliegen besteht ferner darin, die Bedeutung von ökologischen Fragen in der historischen Forschung zu fördern. Dieses Projekt, das damit begann, angelsächsische Historiker auf ein welthistorisches Geschehen in der deutschen Geschichte aufmerksam zu machen, könnte ironischerweise deutschen Historikern die Bedeutung von Umweltbedingungen in der Geschichtsforschung näher bringen.
Überdies möchte ich mit dieser Übersetzung grundlegende Missverständnisse in Bezug auf meine These ausräumen. So schreibt z. B. ein bekannter Kritiker, dass der Kern der These darin bestehe, dass sich das ungarische Heer nicht richtig in Stellung bringen konnte, weil die Reflexbogen wegen eines Sommergewitters durch Feuchtigkeit beeinträchtigt gewesen wären. Andere Skeptiker behaupten, meine Argumente gründeten sich einzig auf die Chronik des Simon de Keza, die 300 Jahre nach den Ereignissen vom Sommer 955 entstand und die besagt, die ungarischen Vorväter hätten verloren, weil »es regnete«. Manche Historiker glauben auch, wenn die magyarische Niederlage wirklich auf übermäßige Niederschläge zurückzuführen gewesen wäre, hätten zeitgenössische geistliche Chronisten dieses Phänomen ausdrücklich erwähnt, denn das hätte den Gedanken, König Otto hätte unter Gottes Schutz gestanden, noch bestärkt. Tatsächlich haben aber sowohl Widukind als auch Gerhard von Augsburg in ihren Berichten betont, dass verheerende Überflutungen Flussüberquerungen praktisch unmöglich machten. Was sollte die Ursache dieser Hochwasser gewesen sein, wenn nicht die mächtige Sturmfront, die von der Nordsee her über Corvey, wie Widukind sachlich bemerkt, zur Zeit der Lechfeldschlacht nach Südosten vorstieß? Doch gründet sich meine These nicht auf die Ungunst einer einzigen Wetterlage, sondern auf die Hypothese, dass sich das Klima und die ökologischen Verhältnisse im nordwestlichen Europa allgemein nicht für die spezifische Kriegsführung von Steppenvölkern eigneten. Zwischen den Begriffen »Klima« und »Wetter« besteht ein bedeutender Unterschied. Die Kriegsführung der Magyaren war durch das trockene Klima Eurasiens geprägt worden. Die sintflutartigen Regenfälle, die Bayern im Sommer 955 heimsuchten, aber klimatisch nicht ungewöhnlich waren, wirkten sich für die Ungarn so katastrophal aus, weil sie außerhalb ihrer ökologischen Zone in den Kampf gezogen waren.
Die deutsche Ausgabe dieser Studie gibt mir auch Gelegenheit, meinen europäischen Kollegen, die sich über die Jahre meine Argumente mit viel Geduld angehört hatten, meinen besonderen Dank auszusprechen. W. H. Wurster, der bischöfliche Archivar in Passau, lud mich zu einem Symposium ein, das zur Vorbereitung der Landesaustellung »Bayern – Ungarn: Tausend Jahre« (2001) abgehalten wurde. Dort präsentierte ich eine vorläufige Zusammenfassung meiner Ideen. Michael Weithmann vom Stadtarchiv Passau nahm sich Zeit, mich in die komplizierten Aspekte des ottonischen Systems der Verteidigung in der Tiefe einzuführen. Weitere Teilnehmer an der Tagung in Passau waren Martin Eggers, mit dem ich an verschiedenen Projekten zusammen gearbeitet hatte, und M. G. Kellner, der kurz zuvor seine Dissertation über die frühen Ungarn fertig gestellt hatte. Ferner bin ich Wilhelm Störmer, mit dem mich eine langjährige Freundschaft verbindet, zu tiefstem Dank verpflichtet. Er kennt die mittelalterliche Geschichte Bayerns wie kaum ein anderer und hat mir in vielen Gesprächen unendlich viele Kenntnisse vermittelt, besonders auch bezüglich der Ungarneinfälle. Doch mein größter Dank gilt Stefan Weinfurter, der gemeinsam mit meiner Frau die Publikation der vorliegenden Studie vorangetrieben hat. Sein Vorwort zu diesem Buch stellt die Lechfeldschlacht in den größeren Zusammenhang der Ottonengeschichte und der Geschehnisse des 10. Jahrhunderts überhaupt. Sein grundlegendes Verständnis des mittelalterlichen Reiches trägt viel dazu bei, die richtigen Schwerpunkte zu setzen. Besonders dankbar bin ich ihm auch, dass ich an den meisten der vielen Tagungen und Ausstellungen, die er in den letzten 20 Jahren organisiert hat, teilnehmen durfte. Bei diesen Anlässen und im Austausch mit europäischen Kollegen habe ich unschätzbares Wissen und wertvolle Anregungen zur Integration in dieses Buch gewonnen. Schließlich denke ich auch mit Dankbarkeit an Herrn Dr. Prof. R. Schieffer, den vormaligen Präsidenten der Monumenta Germaniae Historica, der mir den Zugang zu den Schätzen seines Instituts ermöglichte.
Charles R. Bowlus
München, Juni 2012
EINLEITUNG
Am 10. August 955 durchquerte die Erde den Schweif des Kometen Swift-Tuttle; und darauf regnete es mehrere Tage lang Sternschnuppen in die Atmosphäre. Weil dieses kosmische Phänomen seit tausenden von Jahren immer Mitte August zu beobachten war, wurde es vom Klerus, der sich in solchen Dingen auskannte, zweifellos erwartet. Der Meteorregen dieses Kometen scheint seinen Ursprung immer im Sternbild des Perseus zu haben, daher nannte man diese Sternschnuppen in der Antike »die Perseiden«. Später wurde dieses kosmische Feuerwerk von Christen zu »Tränen des heiligen Laurentius« umbenannt, denn am 10. August 258 n. Chr. war Laurentius, der Erzdiakon der römischen Kirche, auf Befehl des kaiserlichen Präfekten Valerian, bei lebendigem Leibe über dem Feuer geröstet worden. Daraus entsprang die Legende, die Tränen des Heiligen würden jedes Jahr Mitte August vom Himmel fallen, um die Gläubigen an Lorenz’ Märtyrertod zu erinnern.¹⁹
In der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts wurde der 10. August zum Mittelpunkt einer intensiven Verehrung dieses Heiligen, denn es war am Gedächtnistag seines Martyriums, dass 955 eine Reihe von blutigen Kämpfen ihren Anfang genommen hatte. Obwohl sich die Gefechte in der Folge über mehrere Tage hinzogen, betrachten Historiker diese kriegerischen Ereignisse meist als ein einziges Schlachtgeschehen, in welchem ein schwer gepanzertes Reiterheer unter der Führung Ottos I. (des Großen) mutmaßlich ein riesiges Aufgebot von magyarischen²⁰ Streitkräften vernichtete. Bei den Eindringlingen handelte es sich um Scharen von berittenen Bogenschützen. Das Reitervolk der Magyaren hatte sich ein halbes Jahrhundert zuvor im Grasland des Karpatenbeckens niedergelassen und verbreitete nun von da aus, nach dem Wortlaut der Quellen, Angst und Schrecken über ganz Europa, besonders über Deutschland, Italien, Frankreich, die Niederlande.
Auch in der Vorstellung der deutschsprachigen Bevölkerung handelt es sich bei den Ereignissen vom 10. August 955 bis zum heutigen Tag um eine einzige, große Schlacht, die im schwäbisch-bayerischen Grenzgebiet auf dem Lechfeld bei der befestigten Bischofsstadt Augsburg geschlagen wurde. Doch eine gründliche Analyse der Quellen stellt klar, dass die endgültige Zerstörung des ungarischen Heers nicht am 10. August 955 erfolgte, sondern in den darauffolgenden Tagen, als die Tränen des heiligen Laurentius noch immer durchs All kreisten. Als König Otto in der Abenddämmerung des Lorenztages die Stadt Augsburg betrat und von Bischof Ulrich empfangen wurde, war der Kampf mit den Magyaren noch lange nicht vorbei. Ob Otto in jener Nacht in den Himmel geschaut und den Schwarm von Sternschnuppen gesehen hat, wissen wir nicht. Vielleicht wären die Perseiden ja auch gar nicht sichtbar gewesen, denn es hingen bedrohliche Wetterwolken über dem Land, die bald darauf fatale Regengüsse und verheerende Überschwemmungen verursachen würden. Sicherlich war sich Otto aber des Sankt-Lorenztages bewusst, da er seine Streitkräfte am Vorabend der Schlacht zu Ehren des Heiligen zum Fasten angehalten hat. Schon bald nach den blutigen Kämpfen und dem Triumph vom August 955 sicherte sich Lorenz bzw. Laurentius einen ganz besonderen Platz im ottonischen Pantheon christlicher Märtyrer.²¹ Es scheint auch kein Zufall zu sein, dass Bischof Ulrich, der bei der Verteidigung von Augsburg die Leitung übernommen hatte, noch vor Ende des ersten Jahrtausends heiliggesprochen wurde und dass seine mutmaßliche Heiligkeit in der Ikonografie von Heinrich II., dem letzten Herrscher aus dem ottonischen Geschlecht, eine wichtige Rolle spielte ²² (Abb. 1).
Als König Otto durch das Augsburger Stadttor ritt, um Bischof Ulrich zu treffen, konnte er die Schicksalsschwere der Begebenheiten, die sich in den nächsten Tagen ereignen sollten, wahrscheinlich kaum ermessen. An jenem Abend wusste er nur, dass sich seine Krieger in zwei bedeutenden Auseinandersetzungen mit den Ungarn tapfer geschlagen und gewonnen hatten und dass es ihm gelungen war, die Belagerung dieser reichen Bischofsstadt, die sich im Kreuzpunkt der wichtigsten Verkehrswege Europas befand, zu beenden. Der König hatte seine Streitkräfte von einer ausgedehnten Verfolgung des Feindes auf die großen Heideflächen um Augsburg abgehalten; denn bei einer Konfrontation auf den weiten, offenen Räumen der bayerischen Hochebene weiter östlich wären die Ungarn im Vorteil gewesen, da sie, gleich anderen Steppenvölkern, ihre Mobilität gerne dazu benützten, den Gegner in Fallen und Hinterhalte zu locken.
Tatsächlich war eine fränkische Streitkraft fünfundvierzig Jahre zuvor in der Umgebung von Augsburg das Opfer eines solchen Manövers geworden. Ein Heer unter der Führung von König Ludwig IV. (dem Kind) ließ sich durch eine Scheinflucht ködern und musste diesen Fehler bitter büßen. Spät an einem Sommertag des Jahres 910 verfolgte ein Heer von Franken und Schwaben siegesgewiss magyarische Reiter bis weit aufs Lechfeld hinaus, um dann mit ihren erschöpften Pferden in einen tödlichen Hinterhalt zu geraten.²³ Bischof Liudprand von Cremona schreibt: »Die scheinbaren Sieger wurden zu Besiegten.« König Otto dagegen übte Vorsicht am Sankt-Lorenztag 955. Sein Heer überquerte den Lech, bemächtigte sich des ungarischen Lagers auf der rechten Flussseite und befreite die Gefangenen. Der König hielt jedoch die Verfolgungsjagd in Grenzen; und während am Himmel das kosmische Schauspiel der Sternschnuppen verglühte, suchten an jenem Abend Scharen von versprengten ungarischen Reitern vergeblich Zuflucht auf der weiten bayerischen Hochebene östlich des Lechs.
Trotz des augenscheinlichen Erfolgs muss Otto aber doch sehr besorgt gewesen sein, als er in der Dämmerung die Bischofsstadt betrat. Der Verlust war groß. Herzog Konrad (der Rote), des Königs Schwiegersohn, der im Kampf eine entscheidende Rolle gespielt hatte, war gefallen, und Bischof Ulrich trauerte um seinen Bruder, Graf Dietpald, wie auch um andere Verwandte und Mitglieder seiner militärischen Gefolgschaft. Beiden Männern war klar, dass die Auseinandersetzung mit den Ungarn noch nicht endgültig entschieden war. Andererseits war dem Herrscher aber bekannt, dass sich hinter den Rückzugslinien der Ungarn königstreue Streitkräfte gesammelt hatten. Daher sandte er sofort Eilboten aus, um seine Anhänger vom Zurückweichen der Magyaren in Kenntnis zu setzen. Die Boten sollten den Auftrag überbringen, dass die Fluchtwege nach Osten, besonders an Flussübergängen, gesperrt werden sollten.²⁴ Während der König und der Bischof die Ereignisse des Tages besprachen, muss ihnen die Möglichkeit, den Ungarn den