Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Schreckliche Generäle: Zur Rolle deutscher Militärs 1919-1945
Schreckliche Generäle: Zur Rolle deutscher Militärs 1919-1945
Schreckliche Generäle: Zur Rolle deutscher Militärs 1919-1945
eBook487 Seiten5 Stunden

Schreckliche Generäle: Zur Rolle deutscher Militärs 1919-1945

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Jahrzehntelang hielt sich in der Bundesrepublik das Bild von der "sauberen Wehrmacht". Einzig der Befehlsnotstand habe die Militärs zu Handlungen gezwungen, die ihren humanistischen Überzeugungen widersprachen. Klaus Weier räumt mit dieser Legende endgültig auf und liefert anhand von Archivunterlagen und Selbstzeugnissen eine faktenreiche Abrechnung mit dem deutschen Militarismus sowie den Kriegsplänen seit 1919 und schlägt den Bogen bis zu den Verbrechen der Gegenwart im Irak oder in Libyen.
SpracheDeutsch
HerausgeberMilitärverlag
Erscheinungsdatum20. Sept. 2012
ISBN9783360530004
Schreckliche Generäle: Zur Rolle deutscher Militärs 1919-1945

Ähnlich wie Schreckliche Generäle

Ähnliche E-Books

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Schreckliche Generäle

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Schreckliche Generäle - Klaus Weier

    machen.

    1. Kapitel

    Ansichten deutscher Militärs zur Führung eines Krieges (1919-1936)

    1. Zur Fehleinschätzung des kaiserlichen Generalstabes 1914

    Der bedeutende preußische Militärreformer Carl von Clausewitz hatte sich umfassend mit den zahlreichen Kriegen seiner Zeit und deren Organisation und Führung befasst. Dabei war er zu der Grunderkenntnis gekommen, dass jeder Krieg sowohl unter den Bedingungen der strategischen Offensive als auch der Defensive stattfinden kann. Daraus zog er die Schlussfolgerung, dass zwischen Angriff und Abwehr ein enges Wechselverhältnis bestehen muss, sich der Sieg aber nur mittels eines Angriffes erringen lässt. Von Clausewitz forderte daher von jeder Armee, beide Kampfarten zu beherrschen, um einen Krieg erfolgreich führen zu können.¹

    Entgegen diesen grundsätzlichen Clausewitz’schen Erkenntnissen zur Kriegführung hatte der kaiserliche deutsche Generalstab in Vorbereitung auf den Ersten Weltkrieg ausschließlich auf einen Angriffskrieg gesetzt. Die proklamierte »Vernichtungsstrategie« und der »Schlieffenplan« – er sah strategische Offensiven mit kriegsentscheidenden Zielen an allen Fronten vor – sollten den Sieg in relativ kurzer Zeit garantieren. Die Möglichkeit, Kampfhandlungen unter den Bedingungen der strategischen Defensive führen zu müssen, wurde von den kaiserlichen Militärs als ein ausgesprochenes Element der Schwäche angesehen. Die Abwehr hatte deshalb – wie General der Artillerie W. R. von Leeb in den 30er Jahren konstatieren musste – »ein stiefmütterliches Dasein« geführt.²

    Die Realität des Ersten Weltkrieges widersprach jedoch schnell den Vorstellungen des kaiserlichen Generalstabes. Seine geplante Führung als beweglicher Angriffskrieg erwies sich an der Westfront bereits nach kurzer Zeit als falsch. Die deutschen Offensiven wurden durch die französischen Truppen erfolgreich abgefangen. Das kaiserliche deutsche Heer sah sich gezwungen, an breiter Front vom Angriff zur Abwehr überzugehen und um deren Geschlossenheit erbittert zu kämpfen. Der kaiserliche Generalstab musste unerwartet und völlig überrascht seine Kriegführung den Bedingungen eines Stellungskrieges anpassen.³ Doch seine Truppen waren weder auf einen erfolgreichen Durchbruch französischer Stellungen noch auf das Führen von eigenen Abwehrkämpfen in der strategischen Defensive über einen längeren Zeitraum vorbereitet und deshalb auch nicht in der Lage notwendige Veränderungen herbeizuführen.

    Im Rahmen des Stellungskrieges entstand zunächst das System der starren, tiefgestaffelten Stellungsverteidigung. In den Jahren 1917/18 wurde schließlich das System der elastischen Verteidigung, die so genannte »bewegliche« oder Manöververteidigung entwickelt. In beiden Verteidigungssystemen erreichte die Abwehr im operativen Rahmen ein Ausmaß von vier bis zwölf Kilometern. Im weiteren Verlauf der Kämpfe erfuhr der taktische Bereich zunehmend eine stärkere Ausdehnung in die Tiefe. In ihm wurden mehrere Verteidigungsstreifen mit zwei bis vier Stellungen angelegt. Beim Einsatz der Kräfte und Mittel in den Stellungen ging man von einer zunächst gleichmäßigen Verteilung zur Bildung von Abwehrschwerpunkten über, die pioniermäßig mit betonierten Feuerpunkten, beschusssicheren Unterständen sowie zusätzlichen Riegelstellungen zu starken Widerstandsknoten ausgebaut wurden. Dadurch gelang es immer besser, einen durchgebrochenen Frontabschnitt zu schließen, wenn auch mitunter erst in einer zurückliegenden Stellung. Ein taktischer Durchbruch in die operative Tiefe konnte so verhindert werden und der Zusammenhang der Gesamtfront blieb bewahrt. Durch diese Entwicklung erreichte die Abwehr zunehmend eine größere Wirksamkeit, nicht nur bei Angriffen der Infanterie, sondern auch bei deren Unterstützung durch Artillerie, Panzer und Flugzeuge.

    Das rasche Scheitern des Schlieffenplanes an der Westfront und die insgesamt ungenügende Vorbereitung der Truppen, Kampfhandlungen auch in der strategischen Defensive führen zu können, trugen wesentlich zur militärischen Niederlage des kaiserlichen Deutschland im Ersten Weltkrieg bei. Beides zwang die deutschen Militärs so direkt zur »militärischen Schmach« von Versailles.

    2. Die Machtlosigkeit des Militärs nach dem Vertrag von Versailles 1919

    Wie prekär für die deutschen Militärs Ende des Jahres 1918 die Situation war, zeigte eine Beratung von Offizieren des kaiserlichen Generalstabes, die am 26. Dezember unter Leitung des Generalquartiermeisters, General Groener, in Berlin stattfand. Die Analyse der militärischen und politischen Lage führte bei den Militärs zu folgender Erkenntnis: »Niemand darf aufstecken; alle müssen fest zusammenstehen; die Oberste Heeresleitung muss unter allen Umständen ihre Arbeit fortsetzen, komme, was immer wolle, […] früher oder später […] werden wir die Macht wiedererlangen«.

    Ein erster Schritt auf dem Weg zur Wiedererlangung der Macht war der Erlass vom 6. März 1919 für das »Gesetz über die Bildung einer vorläufigen Reichswehr« durch die im Februar 1919 gewählte Nationalversammlung der neuen Weimarer Republik. Pikanterweise hatte die Oberste Heeresleitung den Entwurf dafür selbst erarbeitet. Er sah als wesentlichste Maßnahme vor, das Offizierskorps der neuen Armee aus den Generalsstabsoffizieren des alten kaiserlichen Heeres zu bilden. Damit setzte sich das wichtigste Machtinstrument der neuen deutschen Republik ausgerechnet aus jenen Kräften zusammen, die – wie einer, der es wissen musste, später schrieb – »aus Tradition antimarxistisch bis auf die Knochen« waren.⁵ Doch damit hatte der kaiserliche Generalstab erreicht, dass »das […] stärkste Element des alten Preußentums in das neue Deutschland hinübergerettet« wurde.⁶

    Nur wenige Monate später, am 27. Juni 1919, überreichte die Oberste Heeresleitung dem neuen Reichspräsidenten Friedrich Ebert eine Denkschrift mit dem Titel: »Richtlinien für unsere Politik«. Die Forderungen der Militärs an die Politik lauteten: »Deutschland muss vor allen Dingen innere Politik betreiben. Dazu gehören in erster Linie die restlose Wiederherstellung der Staatsautorität und dann die Sanierung unseres Wirtschaftslebens. […] Unter den größten Anstrengungen und dank der selbstlosen und hingebenden Mitarbeit des Offizierskorps ist es gelungen, in der Reichswehr ein einigermaßen brauchbares Instrument für die Regierung zu schaffen. Dieses Instrument muss nun aber rücksichtslos eingesetzt werden, um auf allen Gebieten […] die Staatsautorität zu sichern. […] Die Gesundung unseres Wirtschaftslebens, die Vorbereitung für jeden Wiederaufbau […] ist […] hauptsächlich von zwei Dingen abhängig: Ordnung und Arbeit. Das bedeutet unter den derzeitigen Verhältnissen Belagerungszustand und Streikverbot«.

    Welch ein »Bekenntnis« zur gerade erst gewählten Weimarer Republik.

    Ende Juni 1919 trat der Vertrag von Versailles in Kraft. Seine militärischen Bestimmungen trafen die deutschen Militärs wie ein Schlag mit einer riesigen Keule und lasteten für Jahre wie ein Fluch auf allen ihren Bemühungen zur Erhaltung und Wiedererlangung ihrer militärischen Macht. Der kaiserliche Generalstab – das Hirn der alten Armee – musste aufgelöst und die allgemeine Wehrpflicht aufgehoben werden. Die zahlenmäßige Stärke der künftigen deutschen Streitkräfte wurde auf 100.000 Mann beim Heer sowie auf 15.000 Mann bei der Kriegsmarine begrenzt. Die alte Kriegsflotte war ganz abzuliefern und der Besitz schwerer sowie moderner Waffen, wie Panzer, Flugzeuge und U-Boote verboten. Die Heeresstruktur wurde auf sieben Infanterie- und drei Kavallerie-Divisionen festgelegt, deren Ausrüstung aus 792 schweren, 1134 leichten Maschinengewehren (M.G.) sowie 252 Minenwerfern zu bestehen hatte. Außerdem durfte Deutschland nur wenige, größtenteils veraltete Festungen, behalten und keine neuen Befestigungsanlagen an den deutschen Grenzen errichten. Besonders hart traf die deutschen Militärs die Festlegung, zur Sicherheit Frankreichs und Belgiens, rechts des Rheines, eine 50 Kilometer breite entmilitarisierte Zone zu schaffen.

    Um zumindest den Großen Generalstab – die wichtigste Institution der deutschen Militärs zur Führung eines Krieges – zu retten, wurde am 3. Juli 1919 – also bereits wenige Tage nach Inkrafttreten des Versailler Vertrages – die Oberste Heeresleitung mit Sitz in Kolberg aufgelöst und dafür die Kommandostelle Kolberg unter Leitung General Groeners gebildet.

    Am 1. Oktober 1919 musste auf Drängen der Ententemächte der Große Generalstab offiziell liquidiert werden. Trotzdem blieb er erhalten, denn an seine Stelle trat insgeheim das neu geschaffene »Allgemeine Truppenamt« mit seinen Abteilungen: T1 Heeresabteilung, T2 Heeresorganisationsabteilung, T3 Heeres-Statistische Abteilung und T4 Heeresausbildungsabteilung. Das »Allgemeine Truppenamt« wurde zur bedeutendsten Dienststelle beim Chef der Heeresleitung im Reichswehrministerium. Es entwickelte sich in relativ kurzer Zeit zum Führungsstab der neuen Armee. Nach Meinung des späteren Generals Erfurth stellte es »den Traditionsträger des Großen Generalstabes dar« und wurde »sehr rasch wieder zu einer Schule einheitlichen operativen Denkens«.⁸ Noch am gleichen Tag entstand das Reichswehrministerium als oberste Kommandobehörde der zu schaffenden neuen Streitkräfte der Weimarer Republik.

    Die militärischen Festlegungen des Versailler Vertrages führten dazu, dass die regulären Streitkräfte der gerade erst gegründeten Weimarer Republik nicht in der Lage waren, auch nur kurzzeitig erfolgversprechende Kampfhandlungen gegen irgend eine Armee eines anderen europäischen Staates zu führen. Die verbliebene deutsche Rumpfarmee – dem Charakter nach mehr eine Polizeitruppe – konnte nicht einmal ihrer Verfassungsaufgabe: den Schutz und die Sicherheit der Weimarer Republik zu gewährleisten – gerecht werden.

    Ausgehend von dieser konkreten militärpolitischen und militärischen Situation musste zwangsläufig die stufenweise Revidierung des Versailler Vertrages in dem Mittelpunkt aller Überlegungen und Planungen der deutschen Militärs rücken. Dabei lautete der Grundsatz: Auch wenn es den Bestimmungen des Versailler Vertrages widerspricht: Es ist alles erlaubt, was der Sicherheit und der Verteidigung des Landes dient, auch das Risiko eines neuen Krieges.

    Die Realisierung dieser globalen Zielstellung wurde von den Militärs als ein längerfristiger und vielschichtiger Prozess betrachtet, der sich nur schrittweise und unter der ständigen Gefahr militärischer Reaktionen der alliierten Siegermächte – insbesondere Frankreichs – verwirklichen ließ. Im Mittelpunkt standen dabei zwei parallel verlaufende Aufgaben, die sich wie ein roter Faden durch die Militärpolitik und -wissenschaft der 20er und 30er Jahre bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges zogen:

    1. Der Aufbau einer Massenarmee, ausgerüstet mit modernsten Waffen und jedem Gegner überlegener Kampftechnik, deren Strukturen dem militärischen Charakter des zukünftigen Krieges so angepasst waren, dass der Sieg auf jedem einzelnen Kriegsschauplatz errungen werden kann.

    2. Die Erarbeitung von Grundsätzen, die dem Charakter des Krieges der Zukunft, insbesondere den Methoden seiner Führung – zunächst für die Verteidigung und später auch für den Angriff – am besten entsprachen.

    3. Vorstellungen zur Führung eines »Befreiungskrieges« 1924/25

    Festlegungen zur Gefechtsführung eines zukünftigen Krieges fanden erstmals ihren Niederschlag in der Vorschrift »Führung und Gefecht«.¹⁰ Sie wurde bereits im Jahre 1922 in Kraft gesetzt, bis 1934 neunmal aufgelegt und zum Vorläufer der Herresdienstvorschrift 300 »Truppenführung« (H.Dv.300), deren Teil 1 im Jahr 1933 und deren Teil 2 1934 erschienen. In der Vorschrift »Führung und Gefecht« orientierten die deutschen Militärs – im Unterschied zum kaiserlichen Generalstab vor 1914 – auf neue Grundsätze und Verfahren bei der Truppen- und Kriegführung. Sie basierten auf einer gründlichen Auswertung der Erfahrungen des Ersten Weltkrieges sowie des militärischen Erkenntnisstandes anderer europäischer Staaten und deren Armeen. Das zeigte sich insbesondere in der Tatsache, dass die Erfahrungen des praktischen Einsatzes von Panzer- und Fliegerkräften bei der Stellungs- bzw. Manöververteidigung im Ersten Weltkrieg verallgemeinert worden waren. So sollte vor allem ihr Masseneinsatz auf operativ-taktischer Ebene einen neuen Stellungskrieg verhindern und den angestrebten Bewegungskrieg wieder möglich machen, da nur er den Sieg sichern konnte.

    Diese Vorstellungen der deutschen Militärs blieben zunächst reine Theorie. Die Realität sah ganz anders aus. Ihre Truppen waren zu dieser Zeit zu keinerlei kriegerischen Handlungen in der Lage. Das zeigte sich besonders gravierend im Jahr 1923. Gewehr bei Fuß stehend, musste die Reichswehrführung tatenlos und ohnmächtig zusehen, wie am 11. Januar französische und belgische Truppen in die entmilitarisierte Rheinlandzone einmarschierten und das Ruhrgebiet besetzten. Für die militärische Elite Deutschlands bedeutete diese Aktion ihres »Erzfeindes« Frankreich – nach der militärischen Niederlage im Ersten Weltkrieg, den Novemberereignissen im Reich und dem Friedensdiktat von Versailles – den vierten Schock seit 1918.

    In Auswertung – nicht nur aus Sicht der Militärs war es ein Willkürakt – begannen sich die Führungsstäbe der Reichswehr ganz gezielt mit Fragen eines Krieges und seiner Führung zu befassen. Die dazu im Verlauf des Jahres 1923 durchgeführten Plan- und Kriegsspiele bestätigten jedoch allesamt, dass die zur Verfügung stehenden Truppen nicht einmal kurzfrist in der Lage waren, in einem aufgezwungenen Krieg erfolgversprechende Kampfhandlungen zu führen.¹¹

    Diese Tatsache bildete den Diskussionsstoff für einen internen Kreis von Reichswehroffizieren im Truppenamt, deren Erkenntnisse schließlich durch Oberst von Stülpnagel in einer Denkschrift zum Thema »Gedanken über den Krieg der Zukunft« zusammengefasst wurden.¹² Besagter Oberst war zu dieser Zeit Chef der als Heeresamt (T1) getarnten Operationsabteilung im Truppenamt des Reichsheeres. Er kannte sich mit der Planung eines Krieges bestens aus, hatte er doch bereits unter Generalfeldmarschall Erich von Ludendorff als Chef der gleichen Abteilung im kaiserlichen Generalstab gedient. Anfang Februar 1924 legte Oberst von Stülpnagel seine Ansichten vor einem größeren Kreis von Reichswehroffizieren dar. Er forderte die Planung eines generalstabsmäßig vorzubereitenden »Befreiungskrieges«, auch wenn dieser im schlimmsten Fall mit der Vernichtung Deutschlands enden würde; dann aber auch mit dem gemeinsamen Untergang seiner Feinde. Welch ein Zynismus!

    Um aber den Untergang Deutschlands zu verhindern, entwickelte Oberst von Stülpnagel die Vision für eine Kriegführung, »die auch dem Schwachen den Sieg ermöglicht«.¹³ Als Voraussetzungen postulierte er Optimismus und Tatendrang sowie die innere Überzeugung, »dass nur der Ruf zu den Waffen […] die Befreiung bringen kann und dass der Tag kommen wird, an dem das deutsche Volk seine Sklavenketten rasselnd zu Boden werfen und das Versailler Diktat zerreißen wird«.¹⁴ Von den Offizieren verlangte er, sich endgültig von den Ansichten der Kriegführung des Ersten Weltkrieges freizumachen und in der Strategie und Taktik neue Wege zu gehen. Nur dadurch könne das überlegene Potenzial der zahlreichen Gegner – insbesondere Frankreichs – ausgeglichen werden. Davon ausgehend entwickelte er das Konzept für eine Doppelstrategie, das den Plan für eine Führung des zukünftigen Krieges in zwei Etappen vorsah. Seine Vorstellungen über diese neue Strategie fasste er in folgender Erkenntnis und Schlussfolgerung zusammen: »Der kommende Krieg muss m. E. von unserer Seite zunächst nur in der strategischen Defensive geführt werden, in einem Kampf um Zeitgewinn. […] Wir müssen den ersten feindlichen Stoß auffangen und damit die Zeit gewinnen:

    a) für unsere personelle und materielle Mobilmachung des Volksheeres und

    b) für das Eingreifen weiterer Staaten an unserer Seite […]

    Erst wenn diese Voraussetzungen sich erfüllt haben, können wir daran denken, aus dem Kampf um Zeitgewinn defensiv den Kampf um die Kriegsentscheidung offensiv zu entwickeln. Dieser grundlegende Gedanke muss dauernd die oberste Führung leiten«.¹⁵

    Den Plan für eine Kriegführung in zwei Etappen begründete Oberst von Stülpnagel mit der militärstrategischen Lage des Deutschen Reiches. Diese zwinge die deutschen Streitkräfte auch in einem zukünftigen Krieg, einen Zweifrontenkrieg führen zu müssen; im Westen gegen Frankreich und im Osten gegen Polen. Dabei blieben sie trotz anzustrebender maximaler Aufrüstung beiden Gegnern unterlegen.

    Im Unterschied zum kaiserlichen Generalstab – der hatte die Kampfhandlungen sowohl an der Westfront als auch an der Ostfront mit strategischen Offensiven begonnen – forderte Oberst von Stülpnagel, im künftigen Krieg den gegnerischen Truppen die Offensive freiwillig zu überlassen und sie in der ersten Etappe des Krieges mittels einer so genannten Ermattungsstrategie aktiv zu bekämpfen. Entsprechend diesen Vorstellungen bestand das Ziel der deutschen Kriegführung zunächst in einem Kampf um Zeitgewinn. Dazu sollten alle gegnerischen Vorstöße und Angriffe abgefangen und so eine Besetzung deutscher Gebiete verhindert bzw. zumindest erschwert werden. Bei diesen Kämpfen waren die Truppen der einzelnen Gegner moralisch sowie materiell zu schwächen und zu ermatten und schließlich deutlich sichtbar abzunutzen.

    Die Hauptlast bei den Abwehrkämpfen sollte vorwiegend die deutsche Grenzbevölkerung tragen. Zusammengefasst im »Grenzschutz«, bewaffnet mit einfachen Gewehren, bestenfalls mit wenigen Maschinengewehren und ein paar Kanonen, hatte dieser direkt an der Grenze sowie in einer unmittelbar dahinter angelegten Tiefenzone von wenigen Kilometern, die Angriffe des Gegners durch hinhaltenden Widerstand frontal abzuwehren und so sein Vordringen zu verzögern. Zur Unterstützung der kämpfenden Truppe plante Oberst von Stülpnagel zusätzlich die Bildung kleiner Trupps, wiederum rekrutiert aus der Zivilbevölkerung, die zu Fuß oder auf Fahrrädern im Rücken des Gegners operieren sollten und ihn durch Sabotageakte, Morde und das Auslösen von Seuchen zu schädigen hatte. »Ein auf das Äußerste zu steigender nationaler Hass darf vor keinem Mittel […] zurückschrecken«.¹⁶ Auf diese Art und Weise sollten sich die gegnerischen Truppen durch deutsches Gebiet »durchfressen« müssen, ohne einen taktischen Durchbruch und seine Ausweitung in die operative Tiefe zu erzielen.

    Hatten die Abwehrkämpfe dieses Ziel erreicht, war von der strategischen Defensive zur strategischen Offensive und damit zur zweiten Etappe des »Befreiungskrieges« überzugehen. Während dieser Etappe sollte vor allem die »Vernichtungsstrategie« praktiziert werden, um so den totalen Sieg über den Feind zu erringen. Zu diesem Zweck hatten die hinter der Tiefenzone bereitgestellten deutschen Verbände in einer Angriffsoperation die ermatteten gegnerischen Truppen von den Flanken her anzugreifen, sie in die Zange zu nehmen, einzukesseln und schließlich zu vernichten.

    Allerdings schloss Oberst von Stülpnagel auch in dieser Etappe – in Abhängigkeit vom tatsächlichen Kräfteverhältnis – ein Nebeneinander von Offensive und Defensive an den Fronten nicht aus.

    Große Bedeutung für die Führung des Krieges der Zukunft besaßen für Oberst von Stülpnagel die erstmals im Ersten Weltkrieg zum Einsatz gekommenen Luftstreitkräfte, denn »sie werden im Verlauf des Krieges von Beginn an eine entscheidende Rolle spielen.« Davon ausgehend, verlangte er den Aufbau eigener, moderner Fliegerkräfte. Sie sollten in der Lage sein, einerseits »feindliche Städte mit […] Gasmengen zu bewerfen«¹⁷ und andererseits einen erfolgreichen Kampf um die Luftherrschaft auf dem Kampffeld zu führen. Desweiteren forderte er die Schaffung von Luftlandetruppen, die im Rücken des Gegners zum Einsatz kommen sollten sowie den Aufbau einer effektiven Flakabwehr zum Schutz deutscher Städte und bedeutsamer Industrie- bzw. Ballungsgebiete.

    Mit dieser Art von neuer Strategie und Taktik waren Oberst von Stülpnagel und seine Mitstreiter bereit, ganz Deutschland zum Kriegsschauplatz zu machen und dabei höchste Verluste der eigenen Bevölkerung in Kauf zu nehmen. »Diktatorische Gesetze, strenge Zucht« und »höchste Ansprüche an die Führer jeden Grades« waren für Oberst von Stülpnagel ebenso selbstverständlich, wie »Opfer«, die »von jedem Volksgenossen« zu erbringen sind.¹⁸

    Zum großen Leid vieler Völker wurden diese Vorstellungen und Forderungen zunehmend zum Allgemeingut deutscher Militärs und Jahre später zur bitteren Realität. Völlig zu recht besteht deshalb die Wertung von Michael Geyer, der schrieb: »Die totale und terroristische Kriegführung der Militärs ohne Rücksicht auf die Bevölkerung […] gehörte nicht erst zu den Schreckensbildern eines von der SS inszenierten Vernichtungskrieges, sondern war das normale Kriegsbild der Reichswehr«.¹⁹ Und später auch der Wehrmacht.

    Das von Oberst von Stülpnagel und seinen Gesinnungskameraden 1924 entwickelte Konzept zur Führung des Krieges der Zukunft war also viel mehr als nur eine Fiktion. Für die deutschen Militärs war es die Vision für eine intensive Vorbereitung eines bereits 1919 von der Obersten Heeresleitung beschlossenen Revanchekrieges, mit dem die unerträglichen Belastungen des Versailler Vertrages gesprengt werden sollten.

    Dass Mitte der 20er Jahre existierende militärische Kräfteverhältnis schloss für die Reichswehrführung einen »Befreiungskrieg« – entsprechend den Vorstellungen des Kreises um den Oberst von Stülpnagel – in den nächsten Jahren kategorisch aus. Das bewiesen alle in dieser Zeit durchgeführten Kriegs- und Planspiele.²⁰ Sie bestätigten nur, dass deutsche Truppen bestenfalls in der Lage waren, »einen auf Zeitgewinn berechneten Verteidigungskampf gegen die Polen zu führen, wobei die Verteidigung nur für kurze Zeit als möglich angesehen, während die Verteidigung gegen Frankreich als völlig außerhalb der Möglichkeit liegend« betrachtet wurde.²¹

    Ausgehend von dieser Einschätzung sah sich die Reichswehrführung gezwungen, alles zu unternehmen, um einerseits jeden Kriegsausbruch zu vermeiden und andererseits durch illegale Maßnahmen der Wiederaufrüstung zur Erhöhung der Abwehrkraft ihrer Truppen und damit zu einer Verbesserung der militärischen Situation beizutragen.

    Die in jener Zeit von der deutschen Regierung unter ihrem Außenminister Gustav Stresemann betriebene Politik ermöglichte beides. Zunächst kam es im Oktober 1925 zum Vertrag von Locarno. Ein knappes Jahr später, am 3. Oktober 1926, erfolgte die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund. Durch diese politischen Erfolge wurde der deutsche Staat erstmals nach dem Ende des Ersten Weltkrieges in ein internationales Sicherheitssystem eingebunden.

    Der Vertrag von Locarno erkannte die Westgrenze Deutschlands nicht nur an, sondern garantierte diese auch. Damit bannte er vorerst die Gefahr eines neuerlichen Aufmarsches französischer Truppen und ihren Einmarsch in die entmilitarisierte Rheinlandzone und damit eines möglichen Zweifrontenkrieges. Trotzdem lehnten die führenden deutschen Militärs diesen Vertrag ab. Insbesondere der Chef der Heeresleitung, General von Seeckt, war ein ausgesprochener Gegner dieser Politik. Er begründete dies folgendermaßen: »Außenpolitisch halte ich die Locarno-Genf-Politik für falsch, weil sie uns bindet und nichts nützt. Wir sind noch zu schwach, um wirklich mitzuführen, sind also bei allem Objekt, nicht Subjekt. […] Wir […] müssten […] vor allem völlig freie Hand nach dem Osten behalten. Die haben wir nicht mehr. Wir sind […] englischen Interessen dienstbar.«²² Doch bereits zehn Jahre später ermöglichte dieser Vertrag den führenden deutschen Militärs, sich bei ihren Überlegungen und Vorbereitungen zur Führung eines geplanten Angriffskrieges, vorrangig auf die Tschechoslowakei und auf Polen konzentrieren zu können.

    Unmittelbar nach Abschluss des Locarno-Vertrages begannen sich die verantwortlichen Führungsstäbe der Reichswehr vordergründig mit Fragen der Führung eines von Polen aufgezwungen Krieges zu befassen. Bei den dafür geplanten Abwehrkämpfen, die nur unter den Bedingungen der strategischen Defensive geführt werden konnten, sollten die zur Verfügung stehenden Truppen »zu kurzen energischen Schlägen« angesetzt werden, durften sich aber »unter keinen Umständen einer offenen Feldschlacht stellen, sondern nur hinhaltenden Widerstand leisten«.²³ Um den eingesetzten Verbänden – vorgesehen waren ziviler Grenzschutz und reguläre Truppen der Reichswehr – gute Kampfbedingungen zu ermöglichen, beabsichtigte die Reichswehrführung – ausgehend von den Vorstellungen des Oberst von Stülpnagel – an der etwa 1.000 Kilometer langen deutsch-polnischen Grenze, operativ bedeutsame Geländeabschnitte und Räume wirksam zur Verteidigung vorzubereiten. Dazu waren vorwärts des eigentlichen Hauptkampffeldes (HKF) und der Hauptkampflinie (HKL) zwei Streifen, eine sogenannte Grenzwiderstandszone und unmittelbar dahinter eine so genannte Rückhaltezone von jeweils ein bis zwei Kilometern Tiefe, anzulegen und verstärkt pioniermäßig auszubauen.²⁴

    Die in der Grenzwiderstandszone eingesetzten Kräfte – ziviler Grenzschutz – sollten nur »ausweichend« fechten, während die in der Rückhaltezone und im HKF bereitstehenden Truppen der Reichswehr »entscheidend« zu kämpfen hatten, »um den Einbruch des Gegners nach dem Verlust des Grenzgebietes zu begrenzen. Zweck der Verteidigung von Rückhaltezonen ist Zeitgewinn«.²⁵ Die Militärs hofften dadurch, die polnischen Truppen bereits in den befestigten Zonen abzufangen und bei günstigem Verlauf der Kampfhandlungen mittels eines Gegenangriffes vernichten zu können. Ließ sich diese Zielstellung nicht erreichen und die Kämpfe drohten einen ungünstigen Verlauf zu nehmen, sollte nach dem Verlust des unmittelbaren Grenzgebietes durch hartnäckigen Widerstand an der HKL sowie im HKF ein Durchbruch des Gegners verhindert werden. Die dabei gewonnene Zeit hatte die politische Führung Deutschlands dafür zu nutzen, um durch Anrufen des Völkerbundes, die Einstellung der Kämpfe zu erreichen, noch bevor die Truppen der Reichswehr vernichtet waren.²⁶

    Die allgemeine militärpolitische Lage Deutschlands und die große militärische Schwäche der Reichswehr Mitte der 20er Jahre zwangen deren Führungskräfte alle möglichen militärischen Handlungen ihrer Truppen unter den Bedingungen der strategischen Defensive zu planen und durchzuspielen. Das hatte zur Folge, dass sich die Militärs umfassend mit den Problemen der Verteidigung befassten und dabei sehr schnell deren besondere Stärken erkannten. Das wiederum führte dazu, dass die Abwehr neben dem Angriff als gleichberechtigte Hauptkampfart anerkannt und ihrer Führung und Organisation auf operativtaktischer Ebene der Kriegskunst in den folgenden Jahren allergrößte Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Das beweisen nicht nur die zahllosen militärischen Abhandlungen in militärwissenschaftlichen Zeitschriften und in der militärischen Fachliteratur, sondern insbesondere die zwischen 1933 und 1939 erschienenen und in Kraft gesetzten Dienstvorschriften, Weisungen und Richtlinien.²⁷

    Sie alle waren das Ergebnis zahlreich durchgeführter Kriegs- und Planspiele, Studien und Manöver bei denen man die Grundsätze und Methoden der Organisation und der Führung des »Krieges der Zukunft« überprüfte und entsprechend der jeweiligen militärpolitischen und -strategischen Lage anpasste und weiterentwickelte. Dabei wurden die Ansichten des Kreises um Oberst von Stülpnagel von den Militärs zunehmend mit dem Begriff des »totalen Krieges« umschrieben.

    Seit Anfang des Jahres 1937 bildeten sie für alle Führungsstäbe der Wehrmacht eine wichtige Grundlage für deren strategischen sowie operativ-taktischen Überlegungen und Planungen für einen neuen Angriffskrieg.

    4. Überlegungen zur Abwehr eines aufgezwungenen Krieges in den Jahren 1930-1936

    Aller bisher eingeleiteten Maßnahmen zum Trotz blieb für die Reichswehrführung die gesamte militärische Situation auch Anfang der 30er Jahre angespannt und damit äußerst unbefriedigend. Ihre Truppen waren noch immer nicht in der Lage, einen von außen aufgezwungenen Krieg erfolgversprechend zu führen. Auf dem Weg zum angestrebten »Befreiungskrieg« à la Oberst von Stülpnagel war man kaum vorangekommen. Die Streitkräfte aller möglichen Gegner waren der Reichswehr weiterhin hoch überlegen. Zudem gab es in diesen Staaten auch wenig Bereitschaft für eigene Abrüstungsmaßnahmen. Umso stärker verfestigte sich daher bei den führenden Militärs die Überzeugung, dass »nur aus eigener Kraft, nur durch einen Krieg – einen Befreiungskrieg – uns geholfen werden kann«.²⁸

    Das Unternehmen »Wiederaufrüstung« musste forciert werden. Zu diesem Zweck wurde im Herbst 1929 im Truppenamt 1 ein so genannter A-Plan erarbeitet. Er sah vor, zu den bisher vorhandenen sieben Infanterie-Divisionen, zusätzlich neun Infanterie-Divisionen neu aufzustellen. Der Plan trat am 1. April 1930 als Mobilmachungsplan in Kraft. Ihm folgte die Weisung General Groeners – inzwischen zum Reichswehminister avanciert – über die »Aufgaben der Wehrmacht« im gleichen Monat. Diese Weisung enthielt erstmals die Forderung nach einer offensiven Führung eines eventuellen Krieges durch die deutschen Streitkräfte, allerdings bei einem kalkulierten Risiko.²⁹

    Das Postulieren der Gewalt bei »kalkuliertem Risiko« wurde für die führenden deutschen Militärs zur militärpolitischen Richtschnur bei der Umsetzung ihrer militärstrategischen Ziele und besaß Gültigkeit bis zum Jahr 1937.

    Der seit dem 1. April 1930 gültige Mobilmachungsplan fungierte ab Ende September 1930 als erstes Rüstungsprogramm. Es sah bereits eine Erweiterung der Infanterie-Divisionen auf insgesamt 21 Divisionen und den Aufbau eines selbständigen Grenzschutzes in einer Stärke von 30 Grenzschutzverbänden vor. Diese sollten vor allem an den Grenzen zu Polen und der Tschechoslowakei stationiert werden, um im Falle eines Krieges ein überraschendes und schnelles Vordringen gegnerischer Streitkräfte auf deutsches Gebiet zumindest zu verzögern.³⁰ In erster Linie ging es jedoch darum, die regulären Truppen der Reichswehr auf einen solchen Stand zu bringen, der es ihnen ermöglichen sollte, unter den Bedingungen der strategischen Defensive erstmals auch erfolgversprechende Verteidigungskämpfe zu führen.

    Am 25. Januar 1932 – reichlich ein Jahr bevor Hitler die Macht übertragen bekam und den Militärs sein »Rüstungsprogramm« vorstellen konnte – bestätigte der neue Chef der Heeresleitung, Generaloberst Kurt Freiherr von Hammerstein-Equord den Plan »Das neue Friedensheer«. Der Plan verlangte den Aufbau eines deutschen Heeres in einer Friedensstärke von 21 Divisionen innerhalb der nächsten fünf Jahre (1. März 1933 bis 31. März 1938).

    Um die Öffentlichkeit in Frankreich und in den Ländern seiner Bündnispartner – aber auch in Deutschland – zu beruhigen wurde die geplante »illegale« Aufrüstung mit einer neuen militärpolitischen Situation in Europa und der damit verbundenen erhöhten Verantwortung der Reichswehr für die Gewährleistung der Sicherheit Deutschlands begründet. Die in dieser Zeit in Genf stattfindende Abrüstungskonferenz – auf der der Kampf um die »Gleichberechtigung« bzw. der »gleichen Sicherheit« für alle Staaten Europas auf der Tagesordnung stand – zeige deutlich, dass die anderen europäischen Länder nicht bereit waren, eigene Abrüstungsmaßnahmen einzuleiten. Das zwinge Deutschland zur Wiederaufrüstung nach dem »Prinzip einer hinreichenden Verteidigung« und gebe seinen Militärs das moralische Recht, die Festlegungen des Versailler Vertrages zu umgehen.³¹

    Zwei Jahre dauerte das Ringen der deutschen Diplomatie um die Durchsetzung dieses Prinzips. Am 11. Dezember 1932 erreichte General Schleicher – als Vertreter Deutschlands – dass die USA, Großbritannien, Frankreich und Italien das »Prinzip der Gleichberechtigung« für Rüstungsfragen auch für Deutschland anerkannten.³²

    Trotz des diplomatischen Erfolges auf der Genfer Abrüstungskonferenz erhöhte sich für die deutschen Militärs die Gefahr militärischer Sanktionen durch die Siegermächte des Ersten Weltkrieges. Die Größe der geplanten Wiederaufrüstung widersprach den Festlegungen des Versailler Vertrages bei weitem. Die Reichswehrführung musste vor allem mit einem Eingreifen Frankreichs unter Einbeziehung seiner Bündnispartner – ähnlich dem des Jahres 1923 – rechnen.³³

    Erneut rückten Fragen einer deutschen Kriegführung unter den Bedingungen der strategischen Defensive und die Suche nach günstigeren Möglichkeiten für eine erfolgversprechende Verteidigung in den Mittelpunkt des Denkens und Handelns deutscher Militärs. Das Szenario, welches von ihnen entwickelt und in Kriegsspielen durchexerziert wurde, sah militärische Aktionen Frankreichs unter Beteiligung Belgiens, Polens und der Tschechoslowakei vor. Dabei überprüfte man die Möglichkeit, ob die Reichswehr – trotz materieller und personeller Unterlegenheit – schon befähigt sei, erfolgversprechende Kampfhandlungen über einen Zeitraum von vier bis sechs Wochen führen zu können. Im Falle eines polnischen Angriffs sollten die Truppen der Reichswehr aus der Defensive heraus zunächst hinhaltenden Widerstand leisten, um im Anschluss daran, durch das Führen »kurzer energischer Schläge«, die polnischen Verbände im Gegenangriff zu vernichten.³⁴ Eine vom Chef des Truppenamtes, General Adam, am 10. Januar 1933 extra zu diesem Ziel gestellte operative Aufgabe – einen fiktiven polnischen Angriff an den Grenzen zu Polen durch Reichswehrtruppen abzuwehren – brachte ein ernüchterndes Ergebnis: Erst nach 21 Tagen wären die deutschen Verbände in der Lage gewesen, den polnischen Angriff zurückzuschlagen. Doch zu diesem Zeitpunkt hätte sich bereits fast ganz Ostpreußen in polnischen Händen befunden und zwei polnische Armeen würden etwa 100 Kilometer vor der Reichshauptstadt Berlin stehen. Die militärische Situation war für die Militärs nicht nur an der Westfront, sondern nach wie vor auch an der Ostfront hoffnungslos.³⁵

    Eine erste Konsequenz, die aus dieser Konstellation gezogen wurde, bestand in der Forderung nach dem raschen Aufbau eines so genannten »Risikoheeres«. Mit der Weisung des neuen Reichswehrministers General von Blomberg vom 25. Oktober 1933 begann dessen Aufbau. Damit sollte das zu mobilisierende Kriegsheer die Fähigkeit erlangen, »einen Verteidigungskrieg nach mehreren Fronten mit einiger Aussicht auf Erfolg aufnehmen« zu können. Als strategische Zielstellung formulierte die Weisung: »Der Angriff muss für unsere Nachbarn zu einem Risiko werden«.³⁶

    Die Übertragung der Macht an Hitler am 30. Januar 1933 bedeutete nicht nur für Deutschland, sondern für ganz Europa eine wichtige Zäsur. Die Nachkriegszeit war endgültig zu Ende. Es begann die Phase der ungehemmten Vorbereitung auf einen neuen Krieg, auf den von den Militärs seit 1919 gewünschten Revanchekrieg. Das musste zwangsläufig Folgen nicht nur für Europa, sondern für die ganze Welt haben.

    Seit 1933 wurden in Deutschland Schritt für Schritt alle militärischen Bestimmungen des Versailler Vertrages gebrochen und zur direkten Aufrüstung der Streitkräfte sowie zur konkreten Planung und Führung eines großen Krieges übergegangen. Bereits am 3. Februar 1933 erläuterte Hitler vor den Befehlshabern des Reichsheeres und der Reichsmarine – also vor der militärischen Elite – das Programm seiner Regierung. Es entsprach den Vorstellungen und Forderungen der führenden deutschen Militärs.³⁷ Wenige Tage später, am 8. Februar, nahm Hitler im Verlauf einer Ministerratssitzung seiner Regierung bezug auf sein vorrangig zu lösendes militärpolitisches Ziel. Er erklärte, dass der oberste Grundsatz für die nächsten vier bis fünf Jahre lauten muss: »Alles für die Wehrmacht. Deutschlands Stellung in der Welt werde ausschlaggebend bedingt durch die deutsche Wehrmachtsstellung«.³⁸ Endlich hatten die deutschen Militärs – wie bereits 1924 von Oberst von Stülpnagel gewünscht und gefordert – »eine Regierung, die sich in klarer Konsequenz auf die Vorbereitung des Befreiungskampfes einstellt, und bei aller außenpolitischen Vorsicht die Wehrhaftmachung des deutschen Volkes als ihre höchste sittliche Verpflichtung betrachtet […].«³⁹

    Trotz dieser für die Militärs erfreulichen Entwicklung blieb militärisch gesehen, die Lage äußerst angespannt und voller Risiko. Aufgrund des eingeschlagenen Kurses musste sich zwangsläufig die Gefahr militärischer Aktionen, insbesondere durch Frankreich, erhöhen.⁴⁰ Kriegerische Auseinandersetzungen konnten die deutschen Streitkräfte zu dieser Zeit aber an keiner Front erfolgreich führen. So traf z. B. der Chef des Truppenamtes, Generalleutnant Wilhelm Adam – eingedenk der im Januar 1933 durchgespielten Variante eines Krieges mit Polen – in einer Denkschrift vom März 1933 folgende Einschätzung: »Wir können zur Zeit keinen Krieg führen. Wir müssen alles tun, um ihn zu vermeiden, selbst um den Preis diplomatischer Niederlagen«.⁴¹

    Auch das Auswärtige Amt warnte vor einer solchen Entwicklung. Der Reichsminister des Äußeren, Freiherr Konstantin von Neurath, erklärte im April 1933, dass es bei allen geplanten Maßnahmen der Reichswehr immer darum gehen müsse, »unter allen Umständen kriegerischen Verwicklungen zu entgehen, denen wir zur Zeit nicht gewachsen sind«.⁴² Entsprechend dieser Einschätzungen formulierte der neue Reichswehrminister, General von Blomberg, die äußerst bescheidene und für die Militärs sicher niederschmetternde strategische Zielstellung für die deutschen Streitkräfte in einem Deutschland aufgezwungenen Krieg: In einer Ende Oktober 1933 erlassenen »Weisung für die Wehrmacht im Falle von Sanktionen« konnte er nur »Widerstand um jeden Preis, auch ohne Rücksicht auf Erfolgsaussichten zu leisten« fordern.⁴³

    Die Vielzahl der zu erwartenden gegnerischen Operationsmöglichkeiten und die personelle Schwäche ihrer Streitkräfte ermöglichten es den führenden Militärs nicht, irgendwelche Aufmarschpläne zu erarbeiten. Deshalb fanden Kriegsspiele – getarnt als »Übungsreisen« – statt, die alljährlich der Chef der Heeresleitung mit den höheren Führungsoffizieren und der Chef des Truppenamtes mit den älteren Generalstabsoffizieren durchführten. Völlig überraschend kamen jedoch die Führungsstäbe der Reichswehr im Jahre 1934 bei der Auswertung der stattgefundenen Kriegsspiele erstmals zu der Einschätzung, einen Krieg erfolgversprechend führen zu können.⁴⁴

    Entscheidend dafür war der am 26. Januar 1934 zwischen der Hitlerregierung und Polen abgeschlossene und auf zehn Jahre befristete Nichtangriffsvertrag. Dadurch wurde der polnische Staat über einen längeren Zeitraum neutralisiert, was voll den militärstrategischen Vorstellungen der Militärs bei der Führung eines von Frankreich aufgezwungenen Krieges entsprach. Die große Gefahr, zeitgleich einen Krieg an drei Fronten – im Westen gegen Frankreich und Belgien,

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1