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Gab es eine Alternative? / Die Partei der Hingerichteten: Band 5
Gab es eine Alternative? / Die Partei der Hingerichteten: Band 5
Gab es eine Alternative? / Die Partei der Hingerichteten: Band 5
eBook932 Seiten10 Stunden

Gab es eine Alternative? / Die Partei der Hingerichteten: Band 5

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Über dieses E-Book

In diesem Band aus der Reihe 'Gab es eine Alternative?' beleuchtet Wadim Rogowin den dritten Schauprozess gegen die alten Bolschewiki in der Sowjetunion, untersucht deren innen- und außenpolitische Ziele und geht der Frage nach, ob es wirklich Schuldige in den Prozessen gab. Anhand von Flugblättern und Briefen beweist er, dass es zur Zeit der Säuberungen Widerstand in unterschiedlich starker Form gab. Er tritt Konzeptionen entgegen, wie sie auch von Alexander Solschenizyn vertreten wurden, die die gesamte Bevölkerung der UdSSR als 'Kaninchen' sahen, die nicht den Mut aufbrachten, sich Gewalt und Willkür zu widersetzen.
Rogowin legt das Hauptaugenmerk auf den Gegensatz und den Kampf von Stalinismus und Trotzkismus. Diese Auseinandersetzung führte nicht nur zur physischen Vernichtung der Anhänger der linken Opposition, sondern auch zur Beseitigung mindestens zweier Generationen von Bolschewiki, welche die Oktoberrevolution vorbereitet und verteidigt hatten. Das Besondere dieses Vernichtungsfeldzugs gegen den Bolschewismus bestand darin, dass er von der Stalinclique unter dem Deckmantel der bolschewistischen Phraseologie und Symbolik geführt wurde. Für zahllose gerichtliche und außergerichtliche Fälschungen und für die brutale Unterdrückung der großen revolutionären Bewegung von innen heraus verwendete man politische Losungen, die von der Bewegung selbst entlehnt wurden. In den Jahren 1936–1938 wurde die leninsche Partei endgültig durch die stalinsche ersetzt und der Bolschewismus als politische und ideologische Massenkraft beseitigt.
SpracheDeutsch
HerausgeberMEHRING Verlag
Erscheinungsdatum1. Jan. 1998
ISBN9783886347728
Gab es eine Alternative? / Die Partei der Hingerichteten: Band 5

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    Buchvorschau

    Gab es eine Alternative? / Die Partei der Hingerichteten - Wadim S Rogowin

    Impressum

    Lesehinweis: »Gab es eine Alternative?«

    Der vorliegende Band ist Band 5 der sechsbändigen Edition der Publikationen Wadim S. Rogowins unter dem Titel »Gab es eine Alternative?«.

    Alle diese Bände sind sowohl einzeln als Buch oder als ePublikation sowie als Gesamtedition erhältlich.

    Band 1: »Trotzkismus«

    Print: ISBN 978-3-88634-080-4

    ePDF: ISBN 978-3-88634-880-0

    eBook/MOBI ISBN 978-3-88634-780-3

    Band 2: »Stalins Kriegskommunismus«

    Print: ISBN 978-3-88634-081-1

    ePDF: ISBN 978-3-88634-881-7

    eBook/MOBI ISBN 978-3-88634-781-0

    Band 3: »Vor dem großen Terror – Stalins Neo-NÖP«

    Print: ISBN 978-3-88634-074-3

    ePDF: ISBN 978-3-88634-874-9

    eBook/MOBI ISBN 978-3-88634-774-2

    Band 4: »1937 – Das Jahr des Terrors«

    Print: ISBN 978-3-88634-071-2

    ePDF: ISBN 978-3-88634-871-8

    eBook/MOBI ISBN 978-3-88634-771-1

    Band 5: »Die Partei der Hingerichteten«

    Print: ISBN 978-3-88634-072-9

    ePDF: ISBN 978-3-88634-872-5

    eBook/MOBI ISBN 978-3-88634-772-8

    Band 6: »Weltrevolution und Weltkrieg«

    Print: ISBN 978-3-88634-082-8

    ePDF: ISBN 978-3-88634-882-4

    eBook/MOBI ISBN 978-3-88634-782-7

    Band 1 bis 6: »Gab es eine Alternative«

    Print: ISBN 978-3-88634-099-6

    ePDF: ISBN 978-3-88634-899-2

    eBook/MOBIISBN 978-3-88634-799-5

    Einführung

    Die Verbrechen, die in den zweieinhalb Jahren der großen Säuberung (Juli 1936 – Ende 1938) verübt wurden, waren so gewaltig und ungeheuerlich, dass die Veröffentlichung der gesamten Wahrheit das poststalinsche politische Regime hätte ins Wanken bringen können. Deshalb dosierten die politischen Führer nach dem zwanzigsten Parteitag der KPdSU die »bewilligte« Wahrheit über die tragischen Ereignisse der dreißiger Jahre sorgfältig, vermischten sie mit den nicht angetasteten Stalinschen Mythen und Fälschungen, wichen mehrfach von den eigenen Enthüllungen ab und belegten ab Mitte der sechziger Jahre das Thema »Stalinscher Terror« generell mit einem Tabu.

    Das zwei Jahrzehnte anhaltende Verbot jeglicher Erinnerung daran, was als blutende Wunde im Bewusstsein der sowjetischen Menschen fortlebte, linderte den unauslöschlichen Schmerz dieser Wunde nicht, sondern verstärkte ihn nur. Die gesellschaftliche Atmosphäre, die von Versuchen geprägt war, das historische Gedächtnis des Volkes einzuschränken oder gar auszulöschen, gibt A. Twardowski in seinem Poem »Das Gedächtnis verlangt sein Recht« sehr deutlich wieder:

    »Vergesst, vergesst!« gebietet man uns schweigend.

    Ertränken will man im Strom des Vergessens

    die noch lebendigen Ereignisse. Die Wellen sollen

    darüber zusammenschlagen. Das Vergangene – vergesst es! …

    Man gebietet Vergessen und bittet gütigst,

    wir sollten uns nicht erinnern; das Gedächtnis möge versiegelt

    werden,

    damit Uneingeweihte durch diese Offenbarungen

    nicht plötzlich in Verwirrung gestürzt werden …

    Arglos wiederholen manche immer wieder,

    dass uns diese schwarze Vergangenheit,

    die einen Schatten auf uns wirft,

    angeblich nicht zu Gesichte stehe.

    Doch nichts von dem, was geschah, ist vergessen,

    die Spuren in der Welt sind nicht verwischt.

    Die Unwahrheit wird uns nur schaden,

    allein die Wahrheit steht uns zu Gesicht![[1]]

    Die Ideologen der KPdSU, die sich nicht gerade durch eine reiche historische Vorstellungskraft auszeichneten, waren von der Unerschütterlichkeit und Langlebigkeit des herrschenden politischen Regimes mit seiner abgeschotteten Ideologie überzeugt und nahmen an, wahrheitsgetreue wissenschaftliche Untersuchungen und schöngeistige Werke über den Stalinschen Terror würden das Licht der Welt frühestens nach Ablauf eines Jahrhunderts erblicken. Diesen Zeitraum räumte z.B. Suslow für die Veröffentlichung von W. Grossmanns Roman »Leben und Schicksal« ein.

    Die Wirklichkeit entwickelte sich jedoch nicht nach dem Drehbuch der kurzsichtigen und konservativen Partokraten, die in den Stalinschen Vorurteilen erstarrt waren. Die Tilgung des Themas »Massenrepressalien« aus der offiziellen sowjetischen Geschichtsschreibung überließ diese Problematik de facto den ausländischen Sowjetologen und den einheimischen Dissidenten. Da es nach dem zwanzigsten Parteitag unmöglich war, die bisherige Abschottung von der Außenwelt und die Unerbittlichkeit Andersdenkenden gegenüber zu bewahren, begann sich das geistige Vakuum im Bewusstsein der Sowjetmenschen mit einer Ideologie zu füllen, die über die Kanäle der »Samisdat« und »Tamisdat« [*]

    floss.

    Ein ernsthafter Einschnitt im Massenbewusstsein war die Veröffentlichung von Solschenizyns »Archipel GULAG« im Ausland, der auf geheimnisvollen Wegen auch in die UdSSR gelangte und hier weite Verbreitung fand. Dieses Buch wurde von den sowjetischen Lesern vor allem deshalb als Offenbarung aufgenommen, weil darin zahlreiche »menschliche Zeugnisse« gesammelt worden waren, deren Veröffentlichung unser Land verboten hatte. Es schien, dass nun endlich die gesamte Wahrheit über den Staatsterror in der UdSSR gesagt sei. Aber das von Solschenizyn ausgewählte, ausschließlich auf Memoiren basierende Genre »oral history« ergab kein vollständiges und adäquates Bild der Ereignisse in unserem Land vor Stalins Tod. Darüber hinaus hatte Solschenizyn die verwendeten Quellen häufig geändert und ihnen eine voreingenommene Interpretation gegeben, um sie seiner Konzeption anzupassen, die den Stalinschen Totalitarismus aus der Ideologie und der revolutionären Praxis der Bolschewiki ableitete.

    Zu einem erneuten gesellschaftlichen Interesse für das Thema des Stalinschen Terrors kam es in den Jahren der politischen Erschütterung, die offiziell als »Perestrojka« bezeichnet wird. Die Öffnung der sowjetischen Archive ließ erkennen, dass dort mit bürokratischer Akkuratesse alle Dokumente gesammelt waren, die aus den Kanzleien der Partei oder der Staatssicherheit stammten. Der Fetischismus in bezug auf die Erzeugnisse, die am Schreibtisch entstanden, auch am Schreibtisch eines Schergen, war in der Stalinzeit so groß, dass auf jeder Gefangenenakte die mystische Formulierung prangte: »Aufzubewahren für ewig«.

    Die Veröffentlichung von Dokumentationen und Memoirenliteratur über die große Säuberung stieß auf lebhafte Resonanz bei der Öffentlichkeit, die Ende der achtziger Jahre vollauf damit beschäftigt war, ein halbes Jahrhundert zurückliegende Ereignisse zu verarbeiten. Dadurch kam es zu einer sprunghaften Erhöhung der Auflagen bei den Periodika, die ihre Seiten nun für früher verbotene Memoiren, belletristische Werke und analytische Artikel über die Ereignisse der zwanziger und dreißiger Jahre zur Verfügung stellten. Eine weitere Entwicklung in dieser Richtung hätte es ermöglicht, ein adäquates Bild über den innerparteilichen Kampf in der KPdSU (B) und seinen terroristischen Abschluss zu geben. Sehr bald jedoch wurden die ersten ehrlichen Untersuchungen zu den tragischen Seiten der sowjetischen Geschichte von einer Mauer antikommunistischer Propaganda zum Stehen gebracht. Die »demokratische« Publizistik verlagerte ihre Anstrengungen von der Kritik am Stalinismus auf die mechanische Reproduzierung der Geschichtsversionen der ersten russischen Emigrantenwelle und der reaktionärsten westlichen Sowjetologen. Der Zweck dieser ideologischen Operationen war der gleiche wie bei den Geschichtsfälschungen der Stalinschen Schule: Das historische Gedächtnis und das soziale Bewusstsein des Sowjetvolkes sollte betrogen und vergiftet, gar ausgelöscht werden.

    Bei dieser bis heute andauernden ideologischen Hexenjagd trafen sich die Positionen der »Demokraten« und ihrer »nationalpatriotischen« Gegenspieler paradoxerweise bei der Ablehnung des Bolschewismus und der Oktoberrevolution. Der Begriff »Bolschewismus« selbst wurde zum schlimmsten Schimpfwort in der »rechten« wie auch in der »linken« Publizistik, obgleich die Schlussfolgerungen dieser ideologischen Strömungen einen diametralen Gegensatz bilden. Während die »Demokraten« den Stalinschen Totalitarismus aus dem angeblich von vornherein gegebenen »utopischen« und »verbrecherischen« Charakter der bolschewistischen Ideen ableiten, rechtfertigen und glorifizieren die »Patrioten« (eingeschlossen auch diejenigen, die sich als Kommunisten bezeichnen) den Stalinismus, indem sie ihn dem Bolschewismus gegenüberstellen.

    Viele Stalinisten gelangen allmählich zu einem Verständnis des sozialpolitischen Inhalts der großen Säuberung, indem sie diese für einen Grenzpunkt in der Entwicklung der sowjetischen Gesellschaft halten, der den endgültigen Bruch des Stalinismus mit dem ideell-politischen Erbe der Oktoberrevolution bedeutete. Eine Konzeption dieser Art enthalten beispielsweise die Arbeiten des Emigranten A. Sinowjew, der wohl den nach Solschenizyn wichtigsten Beitrag jüngerer Zeit zur Verunglimpfung der gesamten Nachrevolutionsgeschichte leistete und sich heute in einen offenen Apologeten Stalins und des Stalinismus verwandelt hat. Sinowjew sieht die KPdSU nicht als politische Partei, die vor der Oktoberrevolution entstand und in ideologischer Hinsicht aus dem Bolschewismus erwachsen ist, sondern bezeichnet sie als Kind Stalins, das »im harten Kampf gegen die Vertreter der Leninschen Garde«[[2]]

    gegründet wurde.

    Ähnliche Gedanken, wie sie für die zeitgenössischen »Reichs-« und »Staatlichkeitsverfechter« typisch sind, werden mit noch größerem Nachdruck von dem Publizisten S. Kara-Mursa formuliert, der Russland als besondere »Gesellschaft mit eigener Tradition« betrachtet, die keine Ähnlichkeit mit der übrigen Welt hat, eine Gesellschaft, die von der Oktoberrevolution gesprengt und von Stalin wiederhergestellt wurde. Auf dieser Grundlage erklärt er den Stalinismus direkt als »Restauration nach der Revolution (mit einer grausamen Bestrafung der Revolutionäre)«.[[3]]

    Die Leser des vorliegenden Buches werden sich davon überzeugen können, dass derartige Überlegungen – allerdings qualifizierter – bereits in den dreißiger Jahren vom rechten Flügel der russischen Emigration geäußert wurden.

    Die ideologische »Renaissance des Stalinismus« war deshalb möglich, weil innerhalb des letzten Jahrzehnts die »Aufarbeitung« unserer historischen Vergangenheit nicht in Form ernsthafter historischer Untersuchungen erfolgte, sondern als oberflächliche publizistische Schimpfreden und Eskapaden, in deren Verlauf die wirklichen historischen Fakten rücksichtslos vergessen oder verzerrt wurden.

    Ein historischer Vergleich der »demokratischen« mit der »nationalpatriotischen« Auffassung bestätigt, dass Goethe mit seinem bekannten Gedanken recht hatte: »Man sagt, zwischen zwei entgegengesetzten Meinungen liege die Wahrheit mitten inne. Keineswegs! Das Problem liegt dazwischen …«[[4]]

    Die Schwierigkeit einer wissenschaftlichen Untersuchung der großen Säuberung liegt vor allem darin, dass diese Säuberung weder in ihrem Wesen noch in ihrem Ausmaß Beispiele und Analogien in der politischen Menschheitsgeschichte kennt. Das ist der Unterschied beispielsweise zum Bürgerkrieg 1918–1920, bei dem man viele Gemeinsamkeiten zu anderen großen Bürgerkriegen finden kann.

    Zu Beginn der dreißiger Jahre wollte Trotzki ein Buch mit dem Titel »1918« schreiben, in dem er den Bürgerkrieg in Sowjetrussland mit dem Krieg der Südstaaten gegen die Nordstaaten Amerikas zu vergleichen beabsichtigte. In einem Interview für die Presseagentur »Associated Press America« sagte er, die amerikanischen Leser würden erstaunt sein über die Analogien zwischen diesen Kriegen, ebenso wie er selbst erstaunt war, als er den Bürgerkrieg in den USA untersuchte.[[5]]

    Mehrere Generationen sowjetischer Menschen waren zu Recht stolz auf den Sieg des revolutionären Volkes über die vereinten Kräfte der weißen Armeen und der ausländischen Interventen, ähnlich wie die Amerikaner auch heute noch stolz sind auf den Sieg der Nordstaaten im Bürgerkrieg der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Für eine tragische Zeit in der Entwicklung der sowjetischen Gesellschaft hielten sie die Jahre der Zwangskollektivierung und der großen Säuberung – im Prinzip zweier Bürgerkriege, in denen die Zahl der Opfer weitaus größer war als im Bürgerkrieg 1918–1920.

    Während die Zwangskollektivierung von bewaffneten Gegenaktionen der Bauern begleitet war, schien die große Säuberung auf den ersten Blick ein Anfall sinnloser irrationaler Gewalt zu sein. Selbst viele ernsthafte Forscher reduzieren ihre politische Funktion ausschließlich darauf, dass sie das Volk einschüchtern und dadurch jeden Widerstand gegen das herrschende Systemverhindern sollte. Eine solche Konzeption, die zahlreiche weiße Flecken in der Geschichte der sowjetischen Gesellschaft belässt, reduziert das komplizierte und widersprüchliche Bild der historischen Ereignisse auf ein vereinfachtes Schema: der allmächtige Stalin, die sich ihm völlig unterordnende Partei und das sklavisch stumme Volk.

    Die Beseitigung der weißen Flecken und die Einführung einer neuen Komponente – des Widerstandes wahrer kommunistischer Kräfte gegen das Stalinsche Regime – in die historische Analyse führt zu der Schlussfolgerung, dass der Stalinismus diesen zunehmenden Widerstand nurb niederhalten konnte, indem er staatlichen Terror anwandte, wie er in Formen und Ausmaß bis zu diesem Zeitpunkt nicht anzutreffen war.

    Von diesen Positionen aus wurde in meinem vorhergehenden Buch »1937« beleuchtet, wie es zu der großen Säuberung kam und wie die ersten Etappen verliefen. Das Buch »Die Partei der Hingerichteten«, das eine eigenständige historische Untersuchung darstellt, ist die Fortsetzung dieser Arbeit. Hier werden die Ereignisse von Juni 1937 bis Ende 1938 analysiert und politische Subjekte sowie soziale Objekte der großen Säuberung betrachtet. Außerdem wird untersucht, wie die Säuberung von verschiedenen sozialen Gruppen in der UdSSR und politischen Kräften im Ausland wahrgenommen wurde.

    Ebenso wie in meinen vorangegangenen Arbeiten zur Geschichte des innerparteilichen Kampfes in der KPdSU (B) und in der internationalen kommunistischen Bewegung wird das Hauptaugenmerk auf den Gegensatz und den Kampf von Stalinismus und Trotzkismus gelegt. Die Logik dieses Kampfes, in dem sich die ideelle Kraft jeder dieser politischen Strömungen umgekehrt proportional zur jeweiligen materiellen Stärke verhielt, führte nicht nur zur physischen Vernichtung der Anhänger der linken Opposition, sondern auch zur Beseitigung mindestens zweier Generationen von Bolschewiki, welche die Oktoberrevolution vorbereitet und verteidigt hatten. Das Besondere dieses Vernichtungsfeldzugs gegen den Bolschewismus bestand darin, dass er von der Stalinclique unter dem Deckmantel der bolschewistischen Phraseologie und Symbolik geführt wurde. Zahllose gerichtliche und außergerichtliche Fälschungen wurden auf sozialistischen Prinzipien aufgebaut, die damals im Massenbewusstsein vorherrschend waren. Mit anderen Worten: Für die brutale Unterdrückung der großen revolutionären Bewegung von innen heraus verwendete man politische Losungen, die von der Bewegung selbst entlehnt wurden.

    Der Titel des vorliegenden Buches – »Die Partei der Hingerichteten« – wird in Analogie zu dem Ausdruck verwendet, mit dem man die Kommunistische Partei Frankreichs bezeichnete, die zur Hauptkraft des antifaschistischen Widerstands und zum Hauptobjekt des Hitlerterrors in diesem Land geworden war. Mit noch größerer Berechtigung lässt sich dieser Ausdruck auf die bolschewistische Partei anwenden, deren Mitglieder mindestens die Hälfte aller Opfer der großen Säuberung bildeten. In den Jahren 1936–1938 wurde die Leninsche Partei endgültig durch die Stalinsche ersetzt und der Bolschewismus als politische und ideologische Massenkraft beseitigt.

    * * *

    Die Grundideen dieses Buches wurden in Vorlesungen dargelegt, die der Autor 1995–1996 an Universitäten in den USA, England, Australien, Argentinien und Deutschland hielt. Die fruchtbringenden Diskussionen, die sich dabei ergaben, gestatteten die Präzisierung der Konzeption und einiger Thesen der Untersuchung. Der Autor dankt den Mitarbeitern der Universitäten sowie den Repräsentanten linker politischer Parteien und Bewegungen, die sich an der Organisierung und Durchführung dieser Vorlesungen beteiligt haben.

    Kapitel 2 und 3 wurden gemeinsam mit M.W. Golowisnin verfasst.

    [*]

    Im Unterschied zur »Samisdat«, der in illegalen Eigenverlagen im Inland erscheinenden Literatur, bezeichnet die »Tamisdat« die im Ausland herausgegebene. – D.Ü.

    Anmerkungen im Originaltext

    1

    A. Tvardovskij: Poemy, Moskva 1988, S. 327–330.

    2

    Pravda, 17.5.1995.

    3

    Pravda, 24.5.1995.

    4

    J.W.v. Goethe, Werke Band XII, Hamburg 1963, S. 422.

    5

    Bjulleten’ oppozicii, 23/1932, S. 9.

    1. KAPITEL:

    »Massenoperationen«

    Einer der wichtigsten Meilensteine bei der großen Säuberung war das ZK-Plenum im Juni 1937, das jeglichen Widerstand im Zentralkomitee der Partei gegen den Stalinschen Terror erstickte. Dieses Plenum, das den Organen des NKWD außerordentliche Vollmachten erteilte, eröffnete die Serie der sogenannten »Massenoperationen«.

    Am 2. Juli verabschiedete das Politbüro die Verordnung »Über die antisowjetischen Elemente«. Wie auf dem ZK-Plenum im Juni 1957 mitgeteilt wurde, fand sich im Archiv ein handschriftlicher Entwurf dieses Beschlusses von Kaganowitsch. Auf die Beschuldigung, dass er der Autor dieses Dokumentes sei, entgegnete Kaganowitsch, es sei ihm, wie das auf den Politbüro-Sitzungen oft vorkam, von Stalin diktiert worden.[[1]]

    In der Verordnung hieß es: »Es wurde bemerkt, dass ein Großteil der ehemaligen Kulaken und Kriminellen, die seinerzeit aus verschiedenen Gebieten in nördliche und sibirische Gegenden ausgesiedelt wurden und nach Ablauf der Aussiedlungsdauer in ihre Gebiete zurückkehrten, Hauptanstifter jeglicher Art von antisowjetischen Verbrechen und von Diversion sowohl in den Kolchosen und Sowchosen als auch im Verkehrswesen und in einigen Industriezweigen sind.« Auf dieser Grundlage wurden die Parteiorgane beauftragt, »alle in ihre Heimat zurückgekehrten Kulaken und Kriminellen unter Sonderaufsicht zu stellen, um die feindlichsten von ihnen unverzüglich zu verhaften und in einem von einer Dreierkommission geführten administrativen Verfahren zu erschießen. Alle anderen feindlichen Elemente sollen registriert und auf Weisung des NKWD in bestimmte Gebiete ausgesiedelt werden.«[[2]]

    Am 9. Juli bestätigte das Politbüro die Zusammensetzung der Gebiets- und Republiken-Dreierkommissionen sowie die Anzahl der ehemaligen Kulaken und Kriminellen, die in einem außergerichtlichen Verfahren mit Erschießen oder Aussiedlung bestraft werden sollten.

    Am 10. Juli schickte Chrustschow an Stalin eine Meldung: »Ich teile mit, dass insgesamt 41.305 Kriminelle und Kulakenelemente, die ihre Strafe verbüßt haben und in der Stadt sowie im Gebiet Moskau ansässig geworden sind, unter Spezialaufsicht gestellt wurden. Davon sind 33.436 Kriminelle. Aufgrund des vorliegenden Materials werden 6.500 Personen der 1. Kategorie und 26.936 der 2. Kategorie von Kriminellen zugerechnet … Es wurden 7.869 Kulaken, die ihre Strafe verbüßt haben und in der Stadt sowie im Gebiet Moskau ansässig geworden sind, unter Spezialaufsicht gestellt. Aufgrund des vorliegenden Materials werden aus dieser Gruppe 2.000 Personen der 1. Kategorie und 5.869 der 2. Kategorie zugerechnet.«[[3]]

    Am 31. Juli bestätigte das Politbüro einen NKWD-Befehl zum Beginn der Operation »zur Repressierung ehemaliger Kulaken, aktiver antisowjetischer Elemente und Krimineller«. In diesem Befehl wurden die Personengruppen, die außergerichtlich repressiert werden sollten, erweitert und umfassten nunmehr:

    Kulaken, die nach ihrer Strafverbüßung zurückgekehrt sind, aus den Lagern oder Arbeitssiedlungen geflohen sind oder sich vor der Entkulakisierung versteckt haben und weiterhin aktive antisowjetische Tätigkeit betreiben;

    Mitglieder antisowjetischer Parteien (Sozialrevolutionäre, Georgier, Mussavatisten, Daschnaken, ehemalige Weiße, Gendarmen, Schergen, Reemigranten, die aus den Repressionsorten verschwunden sind);

    die aktivsten antisowjetischen Elemente, die jetzt in Gefängnissen, Lagern, Arbeitssiedlungen und -kolonien untergebracht sind;

    Kriminelle, die eine verbrecherische Tätigkeit ausführen und mit

    einem kriminellen Milieu in Verbindung stehen.

    Der Befehl enthielt eine Aufschlüsselung bzw. ein Limit für die Repressalien, bezogen auf die einzelnen Republiken, Regionen und Gebiete. Insgesamt war vorgesehen, 258.950 Personen zu verhaften, davon sollten 72.950 als »zur ersten Kategorie zugehörig« verurteilt werden. 10.000 sollten in den Lagern erschossen werden. Diese Operation sollte innerhalb von vier Monaten abgeschlossen

    sein, und die Ermittlungen in den Fällen der Repressierten sollten »in einem beschleunigten und vereinfachten Verfahren« erfolgen. Dabei erstreckten sich die Repressalien auch auf die Familien der Repressierten. »Einzuweisen in Lager oder Arbeitssiedlungen« waren diejenigen Familien, »deren Mitglieder zu aktivem antisowjetischen Handeln imstande« waren. Die Familien von Personen, die entsprechend der 1. Kategorie repressiert wurden, mit Wohnsitz in Großstädten, Grenzgebieten oder Kurorten des Kaukasus waren »in andere Gebiete, nach ihrer Wahl«[[4]]

    auszusiedeln.

    Da die Formulierungen in diesem Befehl äußerst verschwommen waren, öffneten sie der ungezügelten Willkür Tür und Tor. Wie die »Massenoperation« im Gebiet Moskau verlief, berichtete bei den Ermittlungen der Vorsitzende der Gebiets-Sondertrojka, Semjonow: »An einem Abend behandelten wir mitunter bis zu 500 Fälle und verhandelten in Minutenabständen gegen Personen, die wir zum Tod durch Erschießen und zu unterschiedlichen Strafmaßen verurteilten … Wir schafften es nicht einmal, die Vorladungen durchzulesen, geschweige denn alle Unterlagen in der Akte einzusehen.« Ein Kollege Semjonows sagte aus: »Ich habe mehrfach Gespräche Semjonows mit Jakubowitsch nach einer Trojka-Sitzung gehört, als Semjonow zu Jakubowitsch sagte: ›Wieviel hast du denn heute abgeurteilt?‹ Worauf Jakubowitsch antwortete: ›Um die 500.‹ Darauf entgegnete Semjonow Jakubowitsch lachend: ›Wenig … Ich – 600!‹«

    Anfang 1938 überprüfte die »Trojka« des Gebiets Moskau die Fälle von 173 im Gefängnis einsitzenden Invaliden, von denen sie dann 170 zum Tod durch Erschießen verurteilte. Semjonow sagte aus: »Diese Personen haben wir nur deshalb erschossen, weil sie Invaliden waren, die in die Lager nicht aufgenommen würden.«[[5]]

    Ähnlich sah es auch in anderen Gebieten aus. Der ehemalige stellvertretende Chef der NKWD-Verwaltung für Miliz im Gebiet Iwanowo, Schrejder, erinnerte sich, dass dort für die Arbeit der Trojka folgender Ablauf galt. Es wurde ein sogenanntes »Album« eingerichtet, bei dem auf jeder Seite der jeweilige Vor-, Vaters- und Familienname des Verhafteten sowie das von ihm begangene »Verbrechen« standen. Danach setzte der Chef der NKWD-Verwaltung ein großes »R« [*]

    auf das Blatt und unterschrieb. Die übrigen Mitglieder der Trojka unterschrieben im allgemeinen die Seiten des »Albums« auch gleich – im voraus.

    Im Ergebnis dieser Verfahrensweise erschoss man von Juli 1937 bis Januar 1938 im Gebiet Iwanowo alle früheren Sozialrevolutionäre, alle Kommunisten, die – und sei es auch noch so entfernt – mit den Trotzkisten in Beziehung standen, viele ehemalige Anarchisten und Menschewiki sowie fast alle früheren Angestellten der Chinesisch-Orientalischen Eisenbahnverwaltung.[[6]]

    Neben diesen Kategorien erhielten die Sondertrojkas zur Verhandlung auch Fälle von Kriminellen, die mehrfach wegen Mordes, Banditenunwesen, Eigentumsdelikten, Flucht aus Haftanstalten u. ä. vorbestraft waren. Stalin hoffte, im Fieber des großen Terrors mit einem Schlag auch die kriminellen Rückfalltäter loszuwerden.

    Die Sekretäre der Gebietskomitees und die Chefs der NKWD-Verwaltungen, die auf den Geschmack gekommen waren, richteten mehrfach die Bitte an Moskau, man möge ihnen ihr Limit erhöhen. Diese Fragen wurden im Politbüro erörtert oder von Stalin allein entschieden, der dann die entsprechende Weisung an Jeshow weiterleitete. Infolgedessen wurde die »Massenoperation« praktisch bis Ende 1938 verlängert. In der zweiten Hälfte des Jahres 1937 sanktionierte das Politbüro die Aufstockung der festgesetzten Limits um fast 40.000 Personen. Am 31. Januar 1938 bestätigte das Politbüro eine »zusätzliche Anzahl zu repressierender früherer Kulaken, Krimineller und aktiver antisowjetischer Elemente« – 57.200 Personen. In den darauffolgenden acht Monaten wurden durch Politbürobeschlüsse für die einzelnen Republiken und Gebiete auch diese Limits um weitere 90.000 Personen erhöht. Damit fielen der fast ein ganzes Jahr dauernden »Massenoperation« mehr als 400.000 Menschen zum Opfer.[[7]]

    Die zweite »Massenoperation« war die wahllose Bekämpfung einer Reihe von Nationalitäten, vor allem solcher, die über eigene Territorien verfügten, welche zum Russischen Reich gehört hatten und nach der Oktoberrevolution zu unabhängigen Staaten geworden waren (Polen, Finnen, Letten, Litauer, Esten). Zur »Begründung« dieser Repressalien diente eine geheime Richtlinie, wonach Personen dieser Nationalitäten (ebenso wie Vertretern anderer Nationen, die ihr Staatsgebilde außerhalb der UdSSR hatten), auch wenn sie verdienstvolle Revolutionäre waren, unterstellt wurde, Spionage für »ihren« Staat betreiben zu wollen.

    Die ethnischen Säuberungen erfolgten auf der Grundlage von NKWD-Befehlen, die durch Verordnungen des Politbüros bestätigt wurden. So verabschiedete das Politbüro am 31. Januar 1938 die folgende Verordnung: »Dem Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten wird die Erlaubnis erteilt, die Operation zur Zerschlagung der Gruppen von Spionen und Diversanten, bestehend aus Polen, Letten, Deutschen, Esten, Finnen, Griechen, Iranern, Harbin-Leuten, [**]

    Chinesen und Rumänen, die sowohl ausländische als auch sowjetische Staatsbürger sein können, nach Maßgabe der entsprechenden Befehle des NKWD der UdSSR bis zum 15.04.1938 zu verlängern. Bis zum 15. April 1938 ist die bestehende außergerichtliche Verfahrensweise bei diesen Operationen zu belassen … Das NKWD wird aufgefordert, bis zum 15. April eine analoge Operation durchzuführen und bulgarische sowie mazedonische Kader zu zerschlagen (so steht es im Text – W. R.) …«[[8]]

    Diese »Massenoperationen«, aus denen de facto ein ethnischer Völkermord geworden war, zeichneten sich durch besondere Willkür aus. So wurden in Rostow Letten und Polen nach Listen verhaftet, die aufgrund von Informationen aus der Adress-Auskunftsstelle zusammengestellt worden waren. Im Februar 1938 wurden hier 300 Iraner verhaftet – sämtliche Mitglieder der Schuhputzer-Genossenschaft.[[9]]

    In den Aussagen des Vorsitzenden der NKWD-Sondertrojka für das Gebiet Moskau, Semjonow, hieß es: »Während der Massenoperationen 1937–1938 zur Festsetzung von Polen, Letten, Deutschen u. a. Nationalitäten wurden die Verhaftungen vorgenommen, ohne dass belastendes Material vorlag … Man verhaftete und erschoss ganze Familien, es waren Frauen dabei, die nicht lesen und schreiben konnten, Minderjährige, sogar Schwangere, und alle wurden als Spione erschossen, ohne jegliche Beweismittel, allein deshalb, weil sie einer bestimmten Nationalität angehörten.«[[10]]

    Besonders wütete man unter den Kommunisten dieser Nationalitäten. Nach den Worten eines der engsten Spießgesellen Jeshows, Radsiwilowskis, erging an die örtlichen NKWD-Organe folgende Weisung Jeshows: »Machen Sie mit diesen Leuten kein großes Federlesen, sie werden nach dem ›Album-Verfahren‹ abgefertigt. Es muss bewiesen werden, dass die Letten, Polen, Deutschen u.a., die der KPdSU (B) angehören, Spione und Diversanten sind.«[[11]]

    Die zahlreichste Kategorie unter den repressierten »National-Vertretern« waren Polen und Letten. Ihre Bekämpfung erfolgte parallel zur Beseitigung der sozialen und kulturellen Rechte dieser Nationalitäten. Beispielsweise hatte es Anfang der dreißiger Jahre in der Ukraine und in Belorussland 670 polnische Schulen, zwei polnische Hochschulen und drei Theater gegeben, in polnischer Sprache waren eine zentrale, sechs Republik- und 16 Rayonzeitungen erschienen. Sie alle wurden 1937/38 geschlossen. In Moskau schloss man das Theater, den Klub und die Schule der Letten.[[12]]

    Bereits 1936 wurden 35.820 Polen repressiert. Chrustschow erinnerte sich: »Als 1936, 1937 und 1938 eine richtige ›Hexenjagd‹ in Gang gekommen war, hatte es ein Pole schwer, seine Stellung zu behalten, und von einer Beförderung in eine leitende Stellung konnte überhaupt keine Rede mehr sein. Allen Polen wurde in der UdSSR mit Misstrauen begegnet.«[[13]]

    Eine große Zahl von Letten befand sich deshalb in der UdSSR, weil sich nach dem Bürgerkrieg in Lettland ein halbfaschistisches Regime herausgebildet hatte, das einen erbarmungslosen Kampf gegen Revolutionäre führte. Dadurch kam es zu einem bedeutenden Zustrom politischer Emigranten aus Lettland in die Sowjetunion. In der UdSSR waren auch alle Kämpfer der Lettischen Schützendivision geblieben, die eine große Rolle bei der Verteidigung der Sowjetmacht gespielt hatte.

    Im Dezember 1937 wurde ein NKWD-Befehl über großangelegte Verhaftungen unter den Letten erlassen. Die meisten Verhafteten wurden Opfer von Gruppenerschießungen. Allein vom 5. Januar bis zum 20. Juli 1938 wurden 15 Erschießungen durchgeführt, bei denen 3.680 Letten den Tod fanden.[[14]]

    In der »Jurasow-Kartei«[[15]]

    sind mehr als tausend repressierte Letten erfasst, von denen die meisten 1937–1938 erschossen wurden. Darunter gibt es nicht wenige einfache Arbeiter, Kolchosbauern, Ingenieure und Lehrer. Hauptsächlich vertreten waren jedoch die qualifizierten Schichten der Intelligenz – Professoren, Journalisten, Literaten, Wirtschaftsleiter, Diplomaten, Offiziere, Tschekisten. Mehr als die Hälfte aller in der Kartei Erfassten waren Mitglieder der KPdSU (B), mehr als ein Drittel Bolschewiki, die schon in der Illegalität gearbeitet hatten, Teilnehmer der Revolution von 1905–1907, Mitglieder der Gesellschaften von Katorga-Verurteilten und Verbannten, Delegierte von Parteitagen der KPdSU (B). Fast alle wurden erschossen, angeklagt der Spionage für das bürgerliche Lettland.

    Letten, Litauer und Esten, die keinen hohen Sozialstatus besaßen, wurden aus Moskau, Leningrad und anderen Großstädten in Orte mit Sondersiedlungen ausgesiedelt.

    Mehrere tausend Finnen wurden allein im Gebiet Leningrad repressiert, wo zugleich auch alle dortigen finnischen Schulen, Fachschulen, Kulturhäuser, Kirchen, Zeitungen, Verlage sowie die finnische Abteilung am Herzen-Institut geschlossen wurden.[[16]]

    1937–1938 wurden die ersten Massendeportationen ganzer Nationen durchgeführt. Die größte war die Aussiedlung der Koreaner aus dem Fernen Osten.

    Am 10. Juni 1924 hatte der Vorsitzende des Rates der Volkskommissare, Rykow, die »Satzung des Bundes der auf dem Hoheitsgebiet der UdSSR lebenden Koreaner« unterzeichnet, wonach die koreanische Gemeinde umfassende juristische Rechte und Möglichkeiten bei der Entwicklung ihre Nationalkultur erhalten sollte.[[17]]

    In der Fernöstlichen Region war ein Nationalrayon der Koreaner mit 55 koreanischen Dorfsowjets gebildet worden.[[18]]

    Im April 1937 erschien in der »Prawda« ein Artikel, in dem es hieß, dass der japanische Geheimdienst in das Gebiet des Fernen Ostens seine zahlreichen koreanischen und chinesischen Agenten geschickt habe, die sich »als gebürtige Einwohner dieses Gebietes ausgeben«[[19]]

    9

    Am 21. August 1937 wurde die Geheimverordnung des Rates der Volkskommissare und des ZK »Über die Aussiedlung der koreanischen Bevölkerung aus den Grenzgebieten des Fernen Ostens« verabschiedet. Sie beauftragte das NKWD, bis zum 1. Januar 1938 die Koreaner aus der Fernöstlichen Region nach Kasachstan und Usbekistan umzusiedeln. Aus den Ausgesiedelten wurden »Spezialansiedler«, denen es untersagt war, in ihre Heimatorte zurückzukehren.[[20]]

    Dieser Beschluss basierte darauf, dass die Koreaner der Massenspionage beschuldigt wurden sowie auf ihrer angeblichen Bereitschaft, auf der Seite Japans zu kämpfen, falls dieses die UdSSR überfiele.

    Am 11. September richtete Stalin an das Parteikomitee der Fernöstlichen Region ein Telegramm: »Aus allem erkennt man, dass die Zeit herangereift ist, die Koreaner auszusiedeln … Wir fordern Sie auf, sofort strenge und eilige Maßnahmen zu ergreifen, um den Terminplan präzise auszuführen.«[[21]]

    Im Verlaufe der Deportation, die im Oktober 1937 abgeschlossen war, wurden aus der Fernöstlichen Region etwa 172.000 Koreaner ausgesiedelt. 25.000 Koreaner und 11.000 Chinesen wurden verhaftet.[[22]]

    Auch aus den Kaukasus-Republiken wurden einige nationale Minderheiten deportiert, vor allem die dort lebenden Kurden. Bis 1937 gab es in Armenien ein kurdisches Nationaltheater, in Armenien und Georgien gab es kurdische Schulen, es wurden nationale Zeitungen herausgegeben. Alle diese Einrichtungen mussten 1937/38 schließen, als ein Großteil der Kurden in die mittelasiatischen Republiken und nach Kasachsten umgesiedelt wurde. Aus Aserbaidschan wurden die Iraner nach Kasachstan zwangsumgesiedelt.[[23]]

    Die »Massenoperationen« liefen unter strenger Geheimhaltung ab, denn die Repressalien gegen Menschen, die schon einmal bestraft worden waren, konnten ebenso wie der ethnische Völkermord auch durch die raffinierteste Sophistik nicht gerechtfertigt werden.

    Die in den Jahren der großen Säuberung repressierten Parteilosen bildeten etwa die Hälfte der Opfer bei den »Massenoperationen«. Für die Kommunisten gab es spezielle »Limits« (s. Kapitel 25), doch den Maßnahmen gegen sie gingen in der Regel Parteistrafen und längere Ermittlungen voraus. Diese Maßnahmen erreichten ein solches Ausmaß, dass Stalin im Januar 1938 ein Tarnmanöver unternahm, das den Eindruck erwecken sollte, das Zentralkomitee sei über die massenhaften Parteiausschlüsse beunruhigt und wolle sie stoppen.

    [*]

    Abgekürzt: »Rasstrel« – Erschießen. – D.Ü.

    [**]

    Mit Harbin-Leuten waren Personen gemeint, die freiwillig in die UdSSR zurückgekehrt waren, nachdem die sowjetische Regierung die Chinesisch-Orientalische Eisenbahn an Japan verkauft hatte.

    Anmerkungen im Originaltext

    1

    Istorièeskij archiv, 2/1994, S. 49–50.

    2

    Trud, 4.6.1992.

    3

    Istorièeskij archiv, 4/1993, S. 81.

    4

    Trud, 4.6.1992; Reabilitacija. Politièeskie processy 30–50-x godov, Moskva 1991, S. 13.

    5

    Soprotivlenie v GULAGe. Vospominanija. Pis’ma. Dokumenty, Moskva 1992, S. 115, 120, 127.

    6

    M.B. Šrejder: NKVD iznutri. Zapiskièekista, Moskva 1995, S. 71.

    7

    O.V. Chlevnjuk: Politbjuro. Mechanizmy politièeskoj vlasti v 30-e gody, Moskva 1996, S. 189–191.

    8

    Moskovskie novosti, 21.06.1992, S. 19.

    9

    S.A. Kislizyn: Skazavšie »Net« (Epizody iz istorii politièeskoj bor’by v sovetskom obšèestve v konce 20-x – pervoj polovine 30-x gg.), Rostov-na-Donu 1992, S. 62.

    10

    Soprotivlenie v GULAGe, S. 118.

    11

    Ebenda, S. 119.

    12

    Tak eto bylo.T. I, Moskva 1993, S. 86.

    13

    Voprosy istorii, 4/1994, S. 65.

    14

    Daugava, 12/1989, S. 118–119.

    15

    Daugava, 4–12/1989.

    16

    Tak eto bylo. T. III, S. 283.

    17

    Belaja kniga o deportacii korejskogo naselenija v 30–40-e gody. Kn. I, Moskva 1992, S. 32–36.

    18

    Voprosy istorii, 5/1994, S. 141.

    19

    Pravda, 23.4.1937.

    20

    Belaja kniga o deportacii korejskogo naselenija v 30–40-e gody. Kn. I, S. 64.

    21

    Izvestija, 10.6.1992.

    22

    Voprosy istorii, 5/1994, S. 144; Tak eto bylo. T. III, S. 277.

    23

    Tak eto bylo. T. I, S. 87, 96–97.

    2. KAPITEL:

    Das Januar-Plenum des ZK:

    »Über die Fehler der Parteiorganisationen«

    Das turnusgemäße Plenum des ZK fand am 11., 14., 18. und 20. Januar statt. Daran nahmen 28 der 71 ZK-Mitglieder teil, die vom siebzehnten Parteitag gewählt worden waren. Von ihnen waren mehr als die Hälfte Mitglieder oder Kandidaten des Politbüros.

    Das »Bulletin der Opposition« erinnerte an Molotows Worte zur Tagung des Obersten Sowjets: »Bei allen wichtigen Fragen wird sich der Rat der Volkskommissare an das ZK wenden« und schrieb: »Molotow vergisst zu präzisieren, von welchem ZK die Rede ist. Das ›Stalinsche‹ ZK, das vom siebzehnten Parteitag gewählt wurde, existiert in natura schon nicht mehr. Nicht einmal das Quorum gibt es. Molotow meint doch sicher nicht die Mehrheit des ZK, die heutzutage in der GPU sitzt oder erschossen ist?«[[1]]

    Der wichtigste Punkt in der Tagesordnung des Plenums war die Frage »Über die Fehler der Parteiorganisationen beim Ausschluss von Kommunisten aus der Partei, über die formal-bürokratische Haltung gegenüber den Einsprüchen der aus der KPdSU (B) Ausgeschlossenen und über die Maßnahmen zur Abschaffung dieser Mängel«. Den Bericht erstattete Malenkow, der nicht einmal Kandidat des ZK war. Dies war ein Präzedenzfall in der Parteigeschichte, der zuvor nicht aufgetreten war und sich später auch nicht wiederholte.

    Im Bericht hieß es, 1937 seien etwa 100.000 Kommunisten aus der Partei ausgeschlossen worden (im ersten Halbjahr 24.000 und im zweiten Halbjahr 76.000) und in den Parteikomitees lägen mindestens 65.000 unbearbeitete Einsprüche, größtenteils von Personen, die man bereits in der Zeit ausgeschlossen hatte, als die Parteiausweise umgetauscht und überprüft wurden (1935–1936). Malenkow berichtete, dass in einigen Gebieten die Parteikontrollkommission beim ZK der KPdSU (B) nach Bearbeitung der Einsprüche bei 40–75% den Ausschluss rückgängig gemacht habe.[[2]]

    Zum Beweis dafür, dass die massenhaften Parteiausschlüsse von »Volksfeinden« inspiriert worden seien, zitierte Malenkow mehrere verhaftete Verleumder, die ihre Handlungen mit dem Bestreben erklärten, bei den Kommunisten Unzufriedenheit und Verbitterung auszulösen. Besonders eindrucksvoll waren die Aussagen eines gewissen Tregub aus Kiew, der berichtete, er und seine Freunde hätten in Parteiversammlungen andere verleumdet und Anzeigen an alle Partei- und Staatsinstanzen geschrieben. Obwohl im Bericht ein solches Verhalten damit erklärt wurde, dass der Betreffende »seine eigenen Verbrechen gegenüber der Partei vertuschen wollte«, charakterisierten Tregubs Worte weniger seine persönlichen Absichten, als vielmehr die ungeheuerliche Atmosphäre des Jahres 1937. »Ich beispielsweise habe in einer Parteiversammlung des Werkzeugmaschinenwerkes gesprochen«, sagte Tregub, »habe mit Fingern auf die dort anwesenden Kommunisten gezeigt, die einen ›Trotzkisten‹, die nächsten ›Bucharinanhänger‹ und die dritten ›Schädlinge‹ genannt, habe den vierten politisches Misstrauen ausgesprochen und wieder anderen Kontakte zu Feinden vorgeworfen, und schließlich habe ich eine Liste von mindestens 15–20 Personen geschrieben. Im Werkzeugmaschinenwerk habe ich erreicht, dass in der Parteiorganisation mit ihren 80–85 Mitgliedern mindestens 60 unter Verdacht stehen und überprüft werden … Aus Angst vor Verleumdung haben ehrliche Arbeiter das Werk verlassen. Andere haben Maßnahmen ergriffen, um Angriffen unsererseits aus dem Weg zu gehen, das reichte bis zu Liebedienerei uns gegenüber … Woroshejkin und ich gingen nun auch zu Parteiversammlungen anderer Organisationen und hatten eine vorab aufgestellte Liste dabei mit den Namen von Leuten, die wir beschuldigen wollten. Wir tauchten unerwartet bei Parteiversammlungen von Organisationen auf, mit denen wir nichts zu tun hatten, drängten uns außerhalb der Reihe ans Rednerpult und stempelten, ohne dass wir die Leute auch nur im entferntesten kannten, Kommunisten zu Volksfeinden. Woroshejkin und mich kannten schon alle. Bei unserem Erscheinen kam es in der Versammlung nicht nur zu Bestürzung – aus Angst flüchteten die Parteimitglieder nach und nach unbemerkt aus dem Raum, denn nicht selten kam es vor, dass auf den vorgefertigten Listen noch Namen ergänzt wurden, die einem direkt in der Versammlung zufällig einfielen. Die Parteiorganisationen wurden also sowieso durch ihre örtlichen Enthüller terrorisiert, und unser Erscheinen … bestätigte gewissermaßen, dass deren Beschuldigungen stimmten.«

    Kalinin, Woroschilow, Stalin, Shdanow, Andrejew, Petrowski, Kaganowitsch, Chrustschow, Mikojan und Tschubar auf der ersten Tagung des Obersten Sowjets der UdSSR

    Kalinin, Woroschilow, Stalin, Shdanow, Andrejew, Petrowski, Kaganowitsch, Chrustschow, Mikojan und Tschubar auf der ersten Tagung des Obersten Sowjets der UdSSR

    Zuträgerei wurde nicht nur nicht verheimlicht, sondern als Heldenhaftigkeit angesehen. Davon zeugt folgendes Bekenntnis Tregubs: »Wenn ich die Listen an das NKWD schickte, machte ich es so, dass alle wussten: Ich hatte eine ganze Liste ans NKWD geschickt.«[[3]]

    Malenkow nannte in seinem Bericht zahlreiche Beispiele von Be­schul­digungen, aufgrund derer einfache Kommunisten aus der Partei ausgeschlossen wurden. Aminew beispielsweise wurde nur deshalb ausgeschlossen und verlor seinen Arbeitsplatz, weil sein Bruder wegen Kontakten zu Volksfeinden aus dem Komsomol ausgeschlossen worden war. Nach Aminew verloren auch alle seine Verwandten ihre Arbeit. Kustschew wurde ausgeschlossen und entlassen, weil er im Politzirkel nach drei »richtigen« Antworten auf Fragen nach der Möglichkeit der Errichtung des »vollständigen Sozialismus« und des »vollständigen Kommunismus« in einem einzelnen Land, auf die vierte scholastische Frage »Werden wir den endgültigen Kommunismus errichten können?« geantwortet hatte: »Endgültig werden wir ihn ohne eine Weltrevolution wohl kaum errichten können. Aber ich werde in den ›Fragen des Leninismus‹ nachlesen, was Gen. Stalin dazu sagt.« Nach Kustschew verlor auch seine Frau ihre Arbeit, einfach weil sie zu ihm gehörte. Bykow, der bei seiner Parteiorganisation eine Erklärung abgegeben hatte, man solle seinen Bruder verhaften, mit dem er »keinerlei Verbindung hatte«, wurde sogleich aus der Partei ausgeschlossen. Als er den Parteisekretär nach den Ursachen fragte, antwortete dieser: »Verstehst du, wir müssen dich ausschließen. Sammle du nur Informationen und erhebe Einspruch.«[[4]]

    Ähnliche Beispiele führte auch der veröffentlichte Beschluss des Plenums an. Es wurde berichtet, dass in einem Betrieb im Gebiet Kursk die Vorsitzende der Betriebsgewerkschaftsleitung aus der Partei ausgeschlossen und verhaftet wurde, nur weil ein parteiloser Arbeiter, den sie auf eine Rede bei einer Wahlversammlung vorbereitet hatte, sich bei dieser Rede verhedderte und vergaß, den Namen des Kandidaten für den Obersten Sowjet zu nennen. In einem anderen Gebiet berichtete eine Arbeiterin, die in der Angelegenheit »einer verhafteten Trotzkistin« ins NKWD vorgeladen worden war, dem Chef der Sonderabteilung des Betriebes davon und wurde daraufhin wegen »Verbindung zu Trotzkisten« entlassen. Dem Mann ihrer Schwester wurde gekündigt, weil er »die Verbindungen seiner Frau zu Trotzkisten nicht gemeldet hatte«.[[5]]

    Die Diskussionsredner versuchten die Ursachen derartiger Maßnahmen, die unter den unsinnigsten Vorwänden erfolgten, zu finden. Kosior erklärte die Tatsache, dass es in der Ukraine zahlreiche Fälle gab, in denen es »aufgrund eines einzigen, nichtssagenden anonymen Schreibens« zum Parteiausschluss gekommen war, so: »Wir haben eine äußerst stürmische Zeit durchlebt, als massenhaft, in großen und bedeutenden Gruppen Feinde ans Licht gebracht und aus der Partei geworfen wurden, als die Entlarvung und Anzeige des Feindes Vorrang vor allen anderen Fragen hatte.«Kosior bekannte, dass selbst er, ein Mitglied des Politbüros, häufig davor zurückschrecke, einen Auszuschließenden zu verteidigen, obwohl »die Fakten, aufgrund derer man ihn ausschließt, unbedeutend sind … Bei uns ist es auf örtlicher Ebene so: Es geht, sagen wir, das Gerücht um,man würde ein bestimmtes Parteimitglied demnächst verhaften, weil es enge Kontakte zu bereits Verhafteten hatte. In der Parteiorganisation stellt man dann folgende Überlegungen an: Bevor man ihn verhaftet, müssen wir ihn noch aus der Partei ausschließen, weil man uns sonst fragt,wo wir gewesen wären, warum wir das übersehen hätten.«[[6]]

    Auf dem Plenum ging es um unberechtigte Parteiausschlüsse, aber nicht um unberechtigte Verhaftungen. Die Verhaftungen rechtfertigten, nach den Worten der Redner, die Parteiausschlüsse. Mehr noch, Bagirow erklärte, er könne »Fakten anführen, dass auch jetzt einige in Haft sein müssten, sich aber auf freiem Fuß befinden«, worauf selbst Malenkow es für erforderlich ansah, mit dem Einwurf zu reagieren: »Gen. Bagirow, es sind eben keine Verhafteten, wenn sie sich auf freiem Fuß befinden.[[7]]

    Bagirow kam auf die Denunziationen zu sprechen und berichtete, dass in Baku eine gewisse Morosowa tätig sei, eine »Frau, die nicht richtig lesen und schreiben« könne, die mit Hilfe anderer »Feinde« Anzeigen zusammenschmiere, so dass »es nicht einen einzigen verantwortlichen Funktionär gibt (Bagirow eingeschlossen – W.R.), gegen den sie keine Anzeige geschrieben hätte«. In diesem Zusammenhang kam es zu folgendem Dialog zwischen Bagirow und Stalin:

    Stalin: Die Verfasser der Anzeigen haben den Parteiführern einen Schrecken eingejagt.

    Bagirow: Wenn es so wäre, dann hätten wir völlig den Kopf verloren. (Allgemeines Gelächter.)

    Stalin: Sie haben Angst vor den Verfassern der Anzeigen.[[8]]

    Obwohl auf dem Plenum solch verwerfliche Tatsachen zur Sprache kamen, verlief es in den für ZK-Plenartagungen üblichen optimistischen Tönen. Besonders positiv wurde die Situation von Kaganowitsch dargestellt: »Ich denke, man kann ohne Übertreibung sagen, dass das vergangene Jahr – ein Jahr der Ausmerzung von Parteifeinden und Volksfeinden – für die ehrlichen Bolschewiki … ein Jahr war, in dem sie so viel bolschewistische Erziehung genossen haben und gestählt wurden, wie es normalerweise in Jahrzehnten nicht möglich gewesen wäre.« Kaganowitsch nannte es »unseren großen Stalinschen Sieg«, dass im letzten Jahr mehr als 100.000 neue leitende Kräfte eingesetzt wurden.[[9]]

    Ebenso optimistisch beurteilte Jaroslawski die Perspektiven der »Kaderpolitik«: »Es ist schließlich nicht unmöglich, Tausende und aber Tausende Menschen aufrücken zu lassen, durch welche die in unseren Reihen aufgetauchten Feinde ersetzt werden.«[[10]]

    Dass es einen Plan gab, die verhafteten Kommunisten radikal durch »junge Kader« zu ersetzen, zeigt die Rede Kosarews, in der zum Ausdruck kam, dass im Juni 1937 ein Beschluss gefasst wurde, mehr als 140.000 Komsomolzen, »die im Kampf gegen die Feinde erprobt waren«,[[11]]

    für die Partei zu gewinnen.

    Auf dem Plenum wurden zwei weitere Fragen erörtert – die neue Zusammensetzung des Rates der Volkskommissare, die von der etwa zur gleichen Zeit stattfindenden Tagung des Obersten Sowjets bestätigt werden musste, und das Schädlingstum in der Landwirtschaft. Zu den Veränderungen im Rat der Volkskommissare sprach Molotow, der vorschlug, den Rat durch neue stellvertretende Vorsitzende, nämlich Tschubar (erster Vorsitzender), Kosior und Mikojan, zu »festigen«. Da »der Vorsitzende der Staatlichen Plankommission bekanntlich nicht mehr in Freiheit« sei, teilte Molotow mit, dass der 35jährige Wosnesenski in diese Funktion aufrücke. Die gleiche radikale »Verjüngung« sollte bei der Ernennung von neuen Volkskommissaren erfolgen. Volkskommissar für Außenhandel wurde beispielsweise Tschwjalew, der zuvor einige Monate lang als Prorektor für Lehre und Forschung an der Akademie für Außenhandel fungierte.[[12]]

    Einen Bericht über das Schädlingstum auf dem Lande erstattete Eiche, der zwei Monate zuvor zum Volkskommissar für Landwirtschaft ernannt worden war. Seine Mitteilung, dass die Landwirtschaft »besonders stark mit Partei- und Volksfeinden durchsetzt« sei, fand die Zustimmung Stalins, der noch bekräftigte: »Sie steht an vorderer Stelle.« Eiches Bericht, der in den zentralen Zeitungen veröffentlicht wurde, sollte eine Lücke in der Kette des aufgedeckten Schädlingstums ausfüllen und zeigen, dass in der Landwirtschaft nicht weniger Schädlinge tätig waren als in der Industrie. Stalin wertete Eiches Bemühungen positiv und erklärte, als dem Redner bedeutet wurde, das seine Zeit abgelaufen sei: »Man kann ihn noch reden lassen, sein Bericht ist sehr gut.«[[13]]

    Die Verordnung des Plenums zum Hauptpunkt der Tagesordnung wurde bereits am 19. Januar in der Presse veröffentlicht. Sie vermittelte eine ausreichende Vorstellung über das Ausmaß der neuen Parteisäuberung, die hinsichtlich der Zahl ihrer Opfer alle vorhergehenden offiziellen Säuberungen übertraf. Beispielsweise stellte der Erste Sekretär des Stadt-Parteikomitees in Kiew den Kommunisten fortwährend die Frage: »Haben Sie denn wenigstens gegen irgend jemanden eine Anzeige geschrieben?« Daraufhin wurden gegen 50% der Mitglieder der Stadtparteiorganisation »kompromittierende Erklärungen« abgegeben. In einigen Dorfschulen der Ukraine konnten die Hauptfächer nicht mehr unterrichtet werden, da die meisten Lehrer entlassen worden waren.

    Besonders beeindruckend war die Mitteilung, dass im Kollegium der Parteikontrollkommission des Gebietes Kuibyschew »viele Personen erscheinen, die von den Rayonkomitees der KPdSU als Volksfeinde aus der Partei ausgeschlossen wurden und nun verlangen, man möge sie entweder verhaften oder die Schande von ihnen nehmen (kursiv durch mich – W.R.)«.

    Die Verordnung – mit Beispielen für Gesetzlosigkeit und Willkür – erweckte den Eindruck, als träten in der Regel nur bei den Parteistrafen Ungerechtigkeiten auf, aber nicht bei den Verhaftungen. Zur Untermauerung der weit verbreiteten These, dass sich die NKWD-Organe »nicht irren«, sollte die Mitteilung dienen, dass in einigen Gebieten zahlreiche Kommunisten als Volksfeinde aus der Partei ausgeschlossen wurden, während die NKWD-Organe »keinerlei Anhaltspunkte für eine Verhaftung dieser Ausgeschlossenen« fänden.

    In der Verordnung wurde daran erinnert, dass bereits das Schreiben des ZK vom 24. April 1936 »Über die Fehler bei der Bearbeitung von Einsprüchen von Personen, die während der Überprüfung und des Umtauschs der Parteiausweise aus der Partei ausgeschlossen wurden« ein Verbot enthielt, Ausgeschlossene zu entlassen. Dennoch kündigte man weiterhin in vielen Organisationen, noch bevor man die Einsprüche durchgesehen hatte, nicht nur den Ausgeschlossenen selbst die Arbeit und die Wohnung, sondern auch Personen, »die mit ihnen in Verbindung standen«, also Bekannten, Verwandten usw.

    Die Verordnung nannte zwei Gruppen von Denunzianten. Zur ersten zählte man »einzelne karrierebesessene Kommunisten, die bestrebt sind, sich durch Parteiausschlüsse und Repressalien gegen Parteimitglieder hervorzutun und aufzusteigen, die bemüht sind, sich gegen mögliche Beschuldigungen, sie seien ungenügend wachsam, durch wahllose Repressalien gegen Parteimitglieder abzusichern«. Dieser real existierenden Kategorie von Denunzianten wurde eine zweite, erfundene Kategorie »raffiniert getarnter Feinde« hinzugefügt, die angeblich versuchten, »unsere bolschewistischen Kader zu zerschlagen, in unseren Reihen Unsicherheit und ein Übermaß an Misstrauen zu säen sowie die Aufmerksamkeit der Parteiorganisation von der Entlarvung wirklicher Volksfeinde abzulenken«. Diese »Schädlinge und Doppelzüngler«, die »zu provokatorischen Zwecken … erreichen wollen, dass ehrliche und anständige Kommunisten aus den Reihen der KPdSU (B) ausgeschlossen werden, die auf diese Weise den Schlag von sich selbst abwenden und weiterhin Parteimitglied bleiben«, brachten der Verordnung zufolge eine weitere Kategorie von Feinden hervor: Menschen, die über die wahllosen Repressalien unzufrieden und verbittert waren und »von den trotzkistischen Doppelzünglern … schlau vereinnahmt und geschickt mit in den Sumpf des trotzkistischen Schädlingstums gezogen« wurden. Die Verordnung zielte de facto nicht auf eine Abschwächung, sondern auf eine Zunahme des innerparteilichen Terrors ab, indem sie forderte, die »freiwilligen und unfreiwilligen Volksfeinde (kursiv durch mich – W.R.)« zu »entlarven und endgültig zu vernichten«.

    Ebenso wie bei den vorhergehenden Massenkampagnen zur Korrektur der »Überspitzungen« wurde auch diesmal den örtlichen Apparatschiki die Schuld für die Ausschreitungen zugeschrieben, die »entgegen den mehrmaligen Weisungen und Verwarnungen des ZK der KPdSU (B)« »den Parteiausschluss von Kommunisten mit verbrecherischer Oberflächlichkeit behandelt« hätten. Den einfachen Kommunisten, die eine »herzlose bürokratische Einstellung« erleben mussten, wurden »einige Leiter« gegenübergestellt, die »den Ausschluss von Tausenden und aber Tausenden Menschen aus der Partei für eine Lappalie hielten«.[[14]]

    Anmerkungen im Originaltext

    1

    Bjulleten’ oppozicii, 62–63/1938, S. 21.

    2

    RCChIDNI, f. 17, op. 2, d. 633, l. 3–4.

    3

    Ebenda, S. 32–37.

    4

    RCChIDNI, f. 17, op. 2, d. 634, l. 21–23.

    5

    KPSS v rezoljucijach i rešenijach … T. 5, Moskva 1971, S. 306.

    6

    RCChIDNI, f. 17, op. 2, d. 633, l. 125–126, 132–133.

    7

    Ebenda, S. 42, 62.

    8

    Ebenda, S. 65–68.

    9

    Ebenda, S. 165–166, 184.

    10

    RCChIDNI, f. 17, op. 2, d. 634, l. 166.

    11

    Ebenda, S. 183.

    12

    RCChIDNI, f. 17, op. 2, d. 636, l. 98–100.

    13

    RCChIDNI, f. 17, op. 2, d. 782, l. 79, 98.

    14

    KPSS v rezoljucijach i rešenijach … T. 5. Moskva 1971, S. 304–312.

    3. KAPITEL:

    Das Januar-Plenum des ZK: Der Fall Postyschew

    Hauptsündenbock auf diesem Plenum war Postyschew, den Stalin zuvor schon einige Stufen des Abstiegs und der Demütigungen hatte gehen lassen. Anfang 1937 war Postyschew als Erster Sekretär des Gebiets- und des Stadtparteikomitees Kiew und dann auch als Sekretär des ZK der KP (B) der Ukraine abgesetzt worden. Am 30. März des gleichen Jahres wählte man ihn zum Ersten Sekretär des Stadtparteikomitees Kuibyschew und im Juni zum Ersten Sekretär des Gebietskomitees Kuibyschew.

    Die Versetzung nach Kuibyschew ließ das weitere Schicksal Postyschews unschwer erahnen. Im Juni 1937 schrieb Trotzki: »Postyschew war dank seiner eifrigen Beteiligung am Kampf gegen den Trotzkismus zum Sekretär des ZK aufgestiegen. In der Ukraine unternahm er im Jahre 1933 eine Säuberung des Partei- und Staatsapparats von ›Nationalisten‹ und trieb mit seiner Hetze wegen ›Begünstigung der Nationalisten‹ den ukrainischen Volkskommissar Skrypnik zum Selbstmord … Vier Jahre später zeigte es sich, dass Postyschew, der nach seinen Heldentaten als Diktator in der Ukraine belassen wurde, sich der Begünstigung der Nationalisten selbst schuldig gemacht hatte; als in Ungnade gefallener Würdenträger wurde er vor kurzem ins Wolgagebiet versetzt. Man kann annehmen: nicht für lange. Nicht nur Wunden, auch Kratzer vernarben nicht mehr. Ob Postyschew zum Selbstmord greifen oder Reuebekenntnisse über nicht begangene Verbrechen ablegen wird, Rettung gibt es für ihn in keinem Falle.«[[1]]

    Auf seinem neuen Posten war Postyschew um Rehabilitierung bemüht, indem er seine »Wachsamkeit« vervielfachte. Als Anlass für die wütenden Maßnahmen gegen den Parteiapparat nahm er den Besuch des ZK-Sekretärs Andrejew in Kuibyschew im August 1937. Andrejew sagte zu Postyschew: »Das Zentralkomitee ist der Meinung, dass bei Ihnen kein Kampf gegen die Feinde geführt wird und dass Sie die Parteiorganisation von Kuibyschew zur Entlarvung der Feinde mobilmachen müssen.« Nach diesem Ansporn wurde – wie der Zweite Sekretär des Gebietskomitees Kuibyschew, Ignatow (ein Rekrut des Jahres 1937, der 20 Jahre später Mitglied des Chrustschowschen Politbüros wurde), sagte – »Postyschews Führungsstil ein anderer, er begann immer und überall herumzuschreien, es gäbe keine anständigen Menschen mehr … Schrie, es gäbe immer und überall nur noch Feinde.« Außerdem »liefen bei uns zwei Wochen lang alle Sekretäre der Stadtbezirkskomitees und der ganze Apparat dieser Komitees mit der Lupe in Kuibyschew umher. Postyschew beispielsweise bestellte den Vertreter eines Stadtbezirkskomitees zu sich und begann Hefte zu inspizieren, bei allen Heften riss man den Umschlag ab, denn dort hatte man irgendwo ein Hakenkreuz gefunden; schließlich ging das so weit, dass man die Elchmotive auf den Keksen als faschistisches Symbol erklärte, und auf den Lutschbonbons war eine Blume – auch ein faschistisches Symbol.«[[2]]

    Die Suche nach faschistischen Symbolen oder nach der Silhouette Trotzkis auf Buchhüllen und Heften war keine Erfindung Postyschews. Derartige »Untersuchungen« nahm man auch an anderen Orten in großem Umfang vor, und manchmal bezog man in die Suche nach feindlichen Sinnbildern sogar Schüler ein.

    P.P. Postyschew

    Porträt von P. P. Postyschew

    Postyschews erbarmungsloser Terror gegen die Parteikader war selbst für das Jahr 1937 ohne alle Maße. So verhaftete man zum Beispiel eine Woche nach den Wahlen zum Kuibyschewer Stadtkomitee von den 41 Mitgliedern 17. Auf Anweisung Postyschews (und in seinem Beisein) wurde auf einer Sitzung des Stadtsowjets von Kuibyschew 34 Abgeordneten das Mandat entzogen. Allein in den letzten fünf Monaten des Jahres 1937 wurden im Gebiet Kuibyschew 3.300 Kommunisten aus der Partei ausgeschlossen.[[3]]

    Umsich die Verhaftung der wichtigsten Leute genehmigen zu lassen, wandte sich Postyschew direkt an Stalin. Am 29. November 1937 richtete er an Stalin ein verschlüsseltes Schreiben, in dem er bat, der Verhaftung des Chefs der NKWD-Abteilung Pensa wegen »eines konterrevolutionären Gesprächs« zuzustimmen. Das »konterrevolutionäre Gespräch« hatte folgenden Inhalt: »Wir schließen viele aus der Partei aus«, »hätte doch Genosse Stalin den zweiten Artikel über Schwindelgefühle vor Erfolgen nicht geschrieben.« Dieses Schreiben erhielt umgehend den Vermerk: »Für die Verhaftung. Stalin.«[[4]]

    Eine Neuregelung Postyschews, die ihm bereits vor dem Plenum zur Last gelegt wurde, war die Auflösung von mehr als 30 Rayonkomitees mit der Begründung, dass die meisten ihrer Leiter Volksfeinde seien. Diese Aktion wurde so hastig durchgeführt, dass selbst die Vollzugsmeldungen an das ZK keine adäquate Vorstellung über das Ausmaß des Pogroms gegen die Parteikomitees vermittelten. Wie Malenkow sagte: »Niemand im Gebietskomitee konnte genau sagen, wie viele Rayonkomitees denn eigentlich aufgelöst wurden. Anfangs sagte man – 13, dann – 20, und als man ihnen sagte, dass es 30 seien, wunderten sie sich. Und nun stellt sich heraus, dass 34 aufgelöst wurden.[[5]]

    Am 9. Januar verabschiedete das Politbüro eine Verordnung, in welcher der Beschluss des Gebietskomitees Kuibyschew über die massenhafte Auflösung der Rayonkomitees als »politisch schädlich« und »provokatorisch« gewertet wurde. »Für die wahllose Anwendung einer in der Parteiführung so außergewöhnlichen Maßnahme wie der Auflösung der Parteikomitees ohne jeglichen Grund und ohne Wissen des ZK der KPdSU (B)« wurde Postyschew eine strenge Parteirüge ausgesprochen, er wurde seines Postens enthoben und »dem ZK zur Verfügung gestellt«.[[6]]

    In dieser Situation trat Postyschew ans Rednerpult des Januar-Plenums. Sein Bericht über den Terror gegen die Parteikader wirkte selbst in den Augen vieler versierter ZK-Mitglieder so ungeheuerlich, dass es während des Vortrags immer wieder Fragen hagelte: Waren denn wirklich alle Parteiarbeiter im Gebiet Feinde? Sogar berüchtigte Schergen wie Jeshow, Berija und Bagirow kritisierten Postyschew und reagierten entrüstet auf dessen Erläuterungen.

    Eine Vorstellung von Postyschews Rede, die sich de facto zu einem Verhör gestaltete, gibt folgender Ausschnitt aus dem Stenogramm:

    Postyschew: Die Führung dort (im Gebiet Kuibyschew), sowohl die Partei- als auch die Staatsführung, war feindlich, beginnend mit der Gebiets- und endend auf der Rayonebene.

    Mikojan: Alle?

    Postyschew: … Was ist denn daran verwunderlich? … Ich habe nachgerechnet, und es kommt heraus, dass 12 Jahre lang Feinde in der Parteiführung saßen. Auf Staatsebene das gleiche. Sie saßen da und wählten sich ihre Kader aus. Bei uns im Gebiets-Exekutivkomitee beispielsweise gab es bis in das technische Personal hinein die schlimmsten Feinde; sie haben ihre Schädlingstätigkeit zugegeben und benehmen sich unverschämt; beginnend mit dem Vorsitzenden des Gebiets-Exekutivkomitees, über dessen Stellvertreter und die Berater bis hin zu den Sekretären – alles Feinde. Absolut alle Abteilungen des Gebiets-Exekutivkomitees waren von Feinden durchsetzt … Und nun nehmen Sie die Vorsitzenden der Rayonexekutivkomitees her – alles Feinde. 60 Vorsitzende der Rayonexekutivkomitees – alles Feinde. Die überwiegende Mehrheit der Zweiten Sekretäre – von den Ersten ganz zu schweigen – sind Feinde, aber nicht einfach Feinde, sondern dort saßen auch viele Spione: Polen, Letten, man hatte sämtliches Lumpengesindel zusammengesucht …

    Bulganin: Gab es denn wenigstens auch ehrliche Leute dort? … Es klingt doch, als würde es keinen einzigen ehrlichen Menschen geben.

    Postyschew: Ich spreche von den führenden Köpfen. Unter denen, unter den Sekretären der Rayonkomitees oder den Vorsitzenden der Rayonexekutivkomitees gab es fast keinen ehrlichen Menschen. Aber was verwundert Sie denn dabei?

    Molotow: Übertreiben Sie nicht etwas, Gen. Postyschew?

    Postyschew: Nein, ich übertreibe nicht. Nehmen Sie doch zum Beispiel das Gebiets-Exekutivkomitee. Die Leute, die dort sitzen. Beweismaterial liegt vor, und sie legen Geständnisse ab, sie machen selbst Aussagen über ihre feindliche Arbeit und ihre Spionage.

    Molotow: Die Materialien müssen überprüft werden.

    Mikojan: Es kommt heraus, dass auf der unteren Ebene, in allen Rayonkomitees Feinde sitzen …

    Berija: Es kann doch wohl nicht sein, dass alle Teilnehmer an den Plenartagungen der Rayonkomitees Feinde waren? …

    Kaganowitsch: Man kann das nicht damit begründen, dass alle Gauner gewesen sein sollen.[[7]]

    Postyschew, der wusste, dass sich im ganzen Land eine totale Säuberungswelle gegen die Parteikader ausbreitete, und dem noch vor kurzem Liberalismus angelastet worden war, konnte nicht verstehen, warum man ihm jetzt genau das Gegenteil vorwarf: zu großen Eifer bei der »Ausmerzung der Volksfeinde«. Daher der Kehrreim, der sich durch seine gesamte Rede zog: »Was wundert Sie denn dabei?«

    Stalin jedoch, der zwar die völlige Vernichtung des früheren Partei- und Staatsapparates beabsichtigte, erschien die massenhafte Auflösung der Parteikomitees dennoch gefährlich, weil sie einen ebenso massenhaften Protest der Kommunisten hätte auslösen können. Deshalb machte Stalin bei den darauffolgenden Rednern, die Postyschews Initiative erwähnten, drohende Einwürfe: »So wird die Organisation erschossen. Sich selbst gegenüber haben sie eine milde Einstellung, aber die Rayonorganisationen erschießen sie … Das bedeutet, dass die Parteimassen gegen das ZK aufgewiegelt werden, anders kann man das nicht verstehen.«[[8]]

    Danach hielt es fast jeder für erforderlich, einen Stein auf Postyschew zu werfen. Besonders wütende Beschuldigungen enthielt Kaganowitschs Rede. Er erklärte, der Übereifer Postyschews sei die Fortsetzung seines mangelnden Eifers in Kiew. »Gen. Postyschews Blindheit in Kiew«, sagte Kaganowitsch, »grenzt an ein Verbrechen, weil er den Feind nicht einmal dann gesehen hat, als es schon alle Spatzen vom Dach pfiffen … Seine Hauptsünde besteht darin, dass er nicht unterscheiden kann, wer Freund ist und wer Feind. Das ist sein Grundübel. Wenn er in Kiew den Feind nicht vom Freund unterscheiden konnte, wenn er den Feind für einen Freund gehalten hat, so hat ihn dieser Fehler dazu geführt, dass er in Kuibyschew den Freund nicht vom Feind unterscheiden kann und Freunde als Feinde klassifiziert.«

    Kaganowitsch berichtete, dass vor dem Plenum die Absicht bestanden habe, Postyschew zum Vorsitzenden der Staatlichen Kontrollkommission zu ernennen, aber nach dessen Rede auf dem Plenum werde »das Zentralkomitee ihm wohl kaum einen solchen Posten anvertrauen«.[[9]]

    Anschließend bereute der völlig demoralisierte und eingeschüchterte Postyschew demütig seine Fehler: »Wie ich diese Rede halten konnte, verstehe ich selbst nicht mehr«, sagte er, » … ich habe sehr viele Fehler begangen. Ich habe sie nicht erkannt. Vielleicht habe ich sie auch jetzt noch nicht bis zum Schluss begriffen. Ich will nur eines sagen: Ich habe eine falsche, unparteiliche Rede gehalten, und ich bitte das ZK-Plenum, mir dafür zu verzeihen.«

    Die Diskussion zum »Fall Postyschew« endete mit einem kurzen Beitrag Stalins: »Bei uns hier im ZK bzw. im Politbüro, ganz wie Sie wollen, hat sich die Meinung herausgebildet, dass man nach all dem Vorgefallenen in bezug auf Gen. Postyschew etwas unternehmen muss. Und die Meinung ist die, dass man ihn als Kandidaten für das Politbüro streichen, aber als ZK-Mitglied belassen sollte.«[[10]]

    Dieser Beschluss wurde sogleich gefasst.

    Dieser kleine Aufschub in Postyschews Schicksal währte nur ungefähr einen Monat. Am 10. Februar fasste das Politbüro erneut einen Beschluss: »Angesichts belastender Materialien, die vom NKWD und der Parteiorganisation Kuibyschew eingegangen sind, ist der Fall des Gen. Postyschew an die Parteikontrollkommission beim ZK der KPdSU (B) zur Prüfung zu übergeben.«[[11]]

    Am 17. Februar schickte das Politbüro an die ZK-Mitglieder den Kommissionsbeschluss, in dem Postyschew beschuldigt wurde, nicht nur ehrliche Kommunisten bekämpft, sondern auch an die Rayonkomitees auf dem Lande »provokatorische und schädliche Direktiven« verschickt zu haben. So hatte er beispielsweise angewiesen, die Kühe der Kolchosbauern sollten während der Saat und der Ernte zu Feldarbeiten eingesetzt werden. Postyschew wurde auch »zu großes Vertrauen gegenüber den ›Volksfeinden‹ und deren Unterstützung« zur Last gelegt. Gestützt auf Aussagen mehrerer Personen aus Postyschews Umkreis, traf die Kommission die »Feststellung«, er habe »zumindest gewusst, dass es eine konterrevolutionäre Organisation aus Rechten und Trotzkisten gab, er war informiert, dass seine engsten Mitarbeiter dort mitwirkten, Schädlingsarbeit leisteten und provokatorisch tätig waren«.[[12]]

    Auf der Grundlage dieser Beschuldigungen wurde Postyschew durch Befragung aus dem ZK und der Partei ausgeschlossen und in der Nacht zum 22. Februar verhaftet. Ein Jahr später verurteilte man ihn zur Höchststrafe und erschoss ihn noch am gleichen Tag.

    In den Augen der einfachen Parteimitglieder schienen die Beschlüsse des Januar-Plenums eine gewisse Lockerung des Terrors zu sein. 1938 wurden jedoch nicht weniger Leute erschossen als im Jahr zuvor, das gewöhnlich als Kulmination der großen Säuberung gilt. Das Signal zur weiteren Ausdehnung der Massenrepressalien gab der dritte Moskauer Prozess, der eine innerparteiliche Verschwörung zum Inhalt hatte, die noch weitaus größer war als alle Verschwörungen, von denen in den vorhergehenden Prozessen die Rede war.

    Anmerkungen im Originaltext

    1

    Leo Trotzki: Stalins Verbrechen, Berlin 1990, S. 295–296.

    2

    Stalinskoe politbjuro v 30-e gody, Moskva 1995, S. 164.

    3

    RCChIDNI, f. 17, op. 2, d. 640, l. 1–3.

    4

    Izvestija, 10.6.1992.

    5

    Stalinskoe politbjuro v 30-e gody, S. 162.

    6

    RCChIDNI, f. 17, op. 3, d. 994, l. 55.

    7

    Stalinskoe politbjuro v 30-e gody, S. 160–162.

    8

    Ebenda, S. 164.

    9

    RCChIDNI, f. 17, op. 2, d. 633, l. 171–172, 186.

    10

    Stalinskoe politbjuro v 30-e gody, S. 166–167.

    11

    RCChIDNI, f. 17, op. 3, d. 995, l. 4.

    12

    RCChIDNI, f. 17, op. 2, d. 640, l. 1–3.

    4. KAPITEL:

    Die Vorbereitung auf den dritten Prozess

    Den dritten öffentlichen Prozess bereitete man viel länger vor als die beiden vorhergehenden. Die Hauptangeklagten befanden sich mehr als ein Jahr in Untersuchungshaft – eine Zeit, die ausreichte, um die unwahrscheinlichsten Aussagen aus ihnen herauszuholen.

    Die Angeklagten des Prozesses (21 Personen) bildeten vier Hauptgruppen. Zur ersten gehörten die beiden früheren Mitglieder des Politbüros, die ehemaligen Führer der rechten Opposition Bucharin und Rykow. Zur zweiten gehörten drei ehemalige bekannte Trotzkisten. Zwei davon (Krestinski und Rosengolz) hatten bereits 1926–1927 mit der linken Opposition gebrochen und waren bis zu

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