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Pogrome im Zarenreich: Dynamiken kollektiver Gewalt
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eBook506 Seiten4 Stunden

Pogrome im Zarenreich: Dynamiken kollektiver Gewalt

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Über dieses E-Book

"Ein Pogrom kann man nach Belieben machen – mit zehn Opfern oder mit zehntausend, ganz nach Wunsch."
Fürst Sergej D. Urusov in der russischen Staatsduma, 1906

Russland war das Land der Pogrome, so sah es zumindest die europäische Öffentlichkeit um 1900. Deshalb bürgerte sich auch in den meisten Sprachen das russische Wort "Pogrom" für diese Form von meist antijüdischer Gewalt ein. Aber was machte die Pogrome aus? Wer waren die Akteure? Geschahen sie spontan oder organisiert? Und warum war ihre Zahl gerade im Russischen Reich so hoch?

Antworten findet Stefan Wiese in den Handlungen aller Beteiligten, also der Täter, der Opfer, der Zuschauer und der Vertreter der Staatsmacht. Jede Gruppe verfügte über spezifische Ressourcen und verfolgte eigene Ziele, jede Gruppe beobachtete die übrigen und handelte dementsprechend. Aus dieser Dynamik ergaben sich Situationen, die Gewalt ermöglichten oder verhinderten. Laut Stefan Wiese waren bei Judenpogromen Strategien und Ressourcen der Akteure wichtiger als das Erbe des Antisemitismus. Ein vergleichender Blick auf Pogromgewalt gegen Armenier, Deutsche und die Intelligenzija bestätigt das.

Stefan Wiese zeigt, was Pogrome sind, wie sie beginnen, vollzogen werden und wie sie enden; er räumt mit Vorurteilen auf, kontextualisiert die Pogrome neu, betont die Kontingenz von Raum und Gelegenheit und untersucht das Verhalten der staatlichen Organe. Mit seinem Buch über eine spezifische Form kollektiver Gewalt in den letzten Jahrzehnten des Russischen Reiches liegt eine beeindruckende, analytisch und sprachlich herausragende Phänomenologie des Pogroms vor.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum14. Sept. 2016
ISBN9783868546798
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    Buchvorschau

    Pogrome im Zarenreich - Stefan Wiese

    66.

    1 Pogrom als Improvisation

    Die Geschichte der Pogrome im Russischen Reich beginnt in Neurussland, jenem im Laufe mehrerer Kriege dem Krim-Khanat und der Hohen Pforte abgerungenen Territorium an der Küste des Schwarzen und des Asowschen Meeres.¹ In der bis dahin spärlich besiedelten Steppe wurden durch absolutistische Peuplierungspolitik russische und ukrainische Bauern heimisch gemacht. Privilegien für ausländische Siedler, die sogenannten Kolonisten, lockten vor allem Balkanchristen, Griechen aus dem Schwarzmeergebiet, Armenier und Deutsche in das neu zu erschließende Land.² Ab 1764, zu einer Zeit also, als sich Juden eigentlich gar nicht in den Grenzen des Reiches niederlassen durften, wurden, um Fürst Grigorij A. Potemkin, den Günstling Katharinas II. und ersten Generalgouverneur Neurusslands, zu zitieren, »sogar« sie von staatlichen Stellen ermutigt, Neurussland zu ihrer Heimat zu machen.³ Neurussland war ein Ort rapider wirtschaftlicher Entwicklung. Innovative Anbaumethoden, günstige naturräumliche Gegebenheiten und die nahen Schwarzmeerhäfen verwandelten die Region in die Kornkammer des Reiches.⁴ Wenig später florierte zudem im Nordwesten die Zuckerindustrie, und im Osten wuchs ein neues Zentrum der Montanindustrie heran.⁵

    Auftakt in Elisavetgrad

    Mit seinem bunten Bevölkerungsgemisch wurde Neurussland auch zum Schauplatz der ersten Judenpogrome im Russischen Reich, die auf die Jahre 1821, 1859 und 1871 datieren. Sie alle beschränkten sich auf die Stadt Odessa. Da die Täter bis 1871 vornehmlich Griechen waren, konnten die Pogrome als Besonderheit der exotischen Stadt am Schwarzen Meer gesehen werden.⁶ 1871 gab es dann unter den Tätern auch viele Russen, und diese Unruhen waren die ersten, die im Reich überhaupt größere Beachtung fanden.⁷ Wenn die Zeitgenossen in der Folge Pogrome erwarteten, dachten sie an Odessa. Sie hatten vereinzelte Vorkommnisse vor Augen, bei denen mitunter Menschen zu Tode kommen konnten, die aber keine größere Bedeutung für das Reich und seine Juden hatten. So war es auch im Frühjahr 1881. Es gab keinen Grund, mit dem zu rechnen, was kommen würde.

    Im Jahr 1881 wurden Pogrome erstmals zu einer Massenerscheinung im Russischen Reich. Alles begann in Elisavetgrad, einer Kreisstadt, die ihrer Geschichte und ihrer sozioökonomischen Struktur nach beispielhaft für viele andere neurussische Städte stehen könnte. Sie ging aus einer im Jahr 1754 gegründeten, damals grenznahen Festung hervor, in deren Schutz allmählich ein regionales Zentrum für Handel und Gewerbe heranwuchs.⁸ Doch die Zeiten änderten sich. Mit Wehmut dachte man in den 1880er Jahren daran zurück, dass einst »selbst aus Moskau« Händler in die Stadt gekommen waren.⁹ Nun aber wurden die interessanten Geschäfte in Odessa abgewickelt; die einst florierenden Jahrmärkte von Elisavetgrad »überrasch[t]en durch ihre völlige Menschenleere«.¹⁰ Es waren keine guten Zeiten für Elisavetgrad, und das Jahr 1881 sollte sich als besonders schwierig erweisen. Die letzte Ernte war schlecht ausgefallen – keine Kleinigkeit für eine Region, die fast ausschließlich vom Handel mit Getreide lebte. Ein Teil der Bevölkerung litt Hunger. Das galt auch für viele der ohnehin meist armen Juden, und Juden gab es viele in Elisavetgrad: 30 Prozent der 43300 Einwohner waren mosaischen Glaubens.¹¹ Dass in der Stadt viele Juden lebten, war im Übrigen nichts Neues. Schon 1795 wurden unter den damals 2300 Einwohnern 400 Juden gezählt (17 Prozent), im Jahr 1816 lag ihr Anteil an der Bevölkerung bereits bei 22 Prozent, um 1835 knapp 30 Prozent zu erreichen.¹² In den folgenden Jahrzehnten nahm die Zahl der Juden in Elisavetgrad zwar weiter rapide zu, aber die übrige Bevölkerung wuchs im gleichen Tempo. Dennoch wurde 1881 die Zuwanderung von Juden von den Nichtjuden Elisavetgrads als Bedrohung wahrgenommen. So sah es jedenfalls Graf Pavel I. Kutajsov, von dem später noch die Rede sein wird: »In letzter Zeit überschwemmten [die Juden] die Stadt Elisavetgrad so sehr, dass es unmöglich war, unbeschwert die Straßen entlangzugehen.«¹³

    Neben Juden lebten in Elisavetgrad hauptsächlich Russen und Ukrainer. Ihr Anteil an der Bevölkerung ist erst durch die Volkszählung von 1897 verlässlich belegt, bei der in der Stadt 61448 Menschen registriert wurden, von denen 35 Prozent Russisch, 24 Prozent Ukrainisch, 38 Prozent Jiddisch und 2 Prozent Polnisch als ihre Muttersprache angaben. Außerdem gab es einige Deutsche, Tataren und Griechen.¹⁴ Das ethnische Profil der Einwohner von Elisavetgrad entsprach damit dem Durchschnitt der Städte des Gouvernements Cherson und in etwa dem der neurussischen Städte im Allgemeinen.¹⁵ Das gilt auch für die Berufe, die Juden ausübten: Unter den Betreibern von Schankwirtschaften und Suppenküchen waren sie deutlich überrepräsentiert (61 Prozent in der Stadt und sogar 81 Prozent im Gouvernement). 75 Prozent der Geschäfte in Elisavetgrad waren in jüdischer Hand. Traditionell dominierten Juden den Handel mit Getreide und Alkohol; sie besaßen 95 Prozent der Brotgeschäfte und alle sechs großen Schnapslager. Trotz der Dominanz in einigen Branchen waren die Juden bei den Ständen der Kaufleute und Handwerker nur geringfügig überrepräsentiert (34 respektive 39 Prozent).¹⁶ Offensichtlich gab es zahlreiche Juden, die zwar ein Geschäft betrieben, sich aber den Aufstieg in die Kaufmannsgilden nicht leisten konnten – ein weiterer Hinweis auf die verbreitete Armut der jüdischen Bevölkerung.¹⁷

    Als nach dem Pogrom in Elisavetgrad eine Kommission zusammenkam, um die Ursachen der Gewalt zu untersuchen, hob sie dennoch die Gefahr jüdischer Dominanz über die sogenannte »angestammte Bevölkerung« hervor. Neben der jüdischen Kontrolle über Brot und Schnaps, zwei zweifellos besonders sensiblen Gütern, wurde vor allem darauf verwiesen, dass in den Mittelschulen über zwei Drittel der Zöglinge Juden waren und dass es den jüdischen Abgeordneten der Stadtversammlung, der Duma, trotz der gesetzlichen Höchstquote von einem Drittel, oft gelinge, Entscheidungen durchzusetzen, indem sie Allianzen mit nichtjüdischen Abgeordneten schmiedeten und weit regelmäßiger als diese die Sitzungen besuchten. Der Chef der Garnison von Elisavetgrad, Andrej I. Kosič, beklagte, dass die »apathische« christliche Oberschicht den Juden die Stadt überlasse; und selbst die nicht zu freundlichen Einschätzungen der Juden neigende Kommission zur Judenfrage fasste resigniert zusammen, die Juden seien »insgesamt weiter entwickelt als die Christen«.¹⁸

    Diese Einschätzung weist auch darauf hin, dass die Juden von Elisavetgrad, wie die von Neurussland überhaupt, im Vergleich zu den Juden in den an Russland gefallenen polnischen Teilungsgebieten weniger auf Traditionen beharrten. Wo es keine über lange Zeit gewachsenen Strukturen gab, waren auch in dieser Hinsicht gute Bedingungen für einen Neubeginn gegeben. Wenn etwa die Autoren des Russkij evrej nach positiven Beispielen für die Assimilationsbereitschaft der Juden suchten, verwiesen sie auf das Progymnasium von Elisavetgrad, in dem mehrheitlich Juden nach weltlicher Bildung strebten.¹⁹ Wie richtig diese Einschätzung war, zeigte sich, als der 1880 eingeführte jüdische Religionsunterricht von den Schülern abgelehnt wurde.²⁰ Elisavetgrad war auch Ausgangspunkt einer der wichtigsten Reformbewegungen des religiösen Judentums jener Zeit, der sogenannten »Spirituellen Bibelbruderschaft«, deren Anfänge bis ins Jahr 1877 zurückreichten und die wenige Wochen vor dem Pogrom von Elisavetgrad erstmals landesweit zur Kenntnis genommen wurde.²¹ Dem Gründer der Bruderschaft, Jakov Gordon, ging es darum, traditionell jüdische Elemente mit jenen der evangelischen Stundisten und sozialistischen Ideen zu verbinden. Unter anderem sollten sich Juden von Kommerz und Kreditwesen ab- und »produktiver Arbeit« zuwenden. Die Bruderschaft wurde nie zur Massenbewegung, aber sie war ein weiterer Hinweis darauf, dass die Juden in Elisavetgrad und der Region im Aufbruch begriffen waren.²² Sie nutzten Chancen zu Partizipation und Aufstieg, wo sie sich boten. Traditionelle Bindekräfte waren hier schwächer ausgeprägt als in vielen anderen Teilen des Ansiedlungsrayons.²³

    Aus der Geschichte der Judenfeindlichkeit ist bekannt, dass ein hoher Grad von Akkulturation nicht unbedingt zu einem Abbau feindseliger Vorurteile führt, man denke etwa an das Deutsche oder das Habsburgerreich. Deshalb ist es interessant nachzuvollziehen, wie jeweils vor Ort vor Pogromen Debatten über die »jüdische Frage« geführt wurden. Als landesweit wichtige Problemfelder galten neben der angeblichen ökonomischen Dominanz der Juden (die ja in Neurussland und in Elisavetgrad, wie geschildert, zumindest weniger stark war als in anderen Teilen des Ansiedlungsrayons) die Frage, ob sich Juden dem Militärdienst zu entziehen suchten, die Möglichkeit von Siedlungsbeschränkungen (ausgelöst durch die Ausweisung der Juden aus Helsingfors) und die Beteiligung von Juden an Studentenunruhen in Sankt Petersburg.²⁴ In Elisavetgrad ging es offenbar nur um die Frage des Militärdienstes. Wenn man dem Korrespondenten der Zeitung Russkij evrej glauben darf, waren die örtlichen Juden in dieser Hinsicht vorbildlich.²⁵ Sucht man nach konkreten Ereignissen, spielte in Elisavetgrad nur ein Teilkomplex der »jüdischen Frage« eine nachweisbare Rolle, aber es war einer mit besonders großer Sprengkraft: die Ritualmordbeschuldigung. Vor einem knappen Jahr war der bis dahin bedeutendste Gerichtsprozess zu diesem Thema zu Ende gegangen – mit einem Freispruch. Dennoch war die nach dem Fundort der Leiche benannte »Kutaisi-Affäre« noch immer in aller Munde. Die tatsächlichen und vermeintlichen Hintergründe der Tat waren in der landesweiten Presse ausführlich debattiert worden. Antisemitische Pamphletisten wie Ippolit I. Ljutostanskij hatten große Aufmerksamkeit erfahren.²⁶ Im Dezember 1880 hatte sich ein weiterer Ritualmordverdacht, ebenfalls im Gouvernement Kutaisi, zwar rasch aufgeklärt, doch das Thema lag noch immer in der Luft.²⁷

    Das zeigte sich in Elisavetgrad, als am Morgen des 6. April, in der Karwoche und kurz vor dem Pessach-Fest, in einem Fass beim Marktstand der jüdischen Pflaumenhändlerin Basja Fechtman sechs Konservengläser voller Blut und Innereien gefunden wurden. In kurzer Zeit kamen zweitausend Menschen zusammen, weil kolportiert wurde, es handle sich um nichts anderes als die Überreste eines traditionellen Pessachopfers. Überraschenderweise klärte sich alles umgehend auf: Die Innereien stammten tatsächlich von zwei christlichen Jungen. Sie waren mit Symptomen einer Vergiftung tot aufgefunden worden waren. Um die Todesursache sicher festzustellen, hatten die Justizbehörden die Organe entnehmen lassen. Ein Gerichtsdiener war damit beauftragt worden, die Konservengläser zu verschicken, doch der Händler, bei dem Kisten zum Versand bestellt worden waren, war nicht anzutreffen. Wohl aus Nachlässigkeit versteckte der Diener die Gläser in der Nähe – eben in dem besagten Fass beim Stand der Pflaumenhändlerin. Als er die Gläser wieder abholen wollte, traf er die erregte Menschenmenge an, gab sich Mühe, alles aufzuklären, und ließ sie zusehen, wie die Gläser nun ordnungsgemäß in Kisten verstaut wurden. Alle beruhigten sich und gingen ihrer Wege.²⁸

    Im Nachhinein kann man nur staunen: Warum regte sich kein Widerspruch gegen die Erklärungen des Gerichtsdieners? Warum ließen die vielen Menschen, von denen zumindest einige bereits Rache an den Juden gefordert hatten, so leicht wieder von dem Vorwurf ab? Nur anderthalb Wochen später ereignete sich dann in der Stadt ein Pogrom, aber an den angeblichen Ritualmord dachte dann offenbar niemand mehr. Jedenfalls stellen die Quellen diesen Zusammenhang nicht her. Warum realisierte sich das Potenzial nicht, das der schreckliche Fund am Marktstand der jüdischen Händlerin darstellte? Eine Antwort wäre, dass Pogrome ein komplexes Geschehen waren, bei dem vieles zusammenkommen musste. Offenbar fehlte »etwas« – aber was, darüber kann man angesichts der schmalen Quellenüberlieferung zu diesem Vorfall nur spekulieren. Eine Aussage lässt sich aber durchaus treffen. Der Zusammenhang zwischen dem Inbegriff der Judenfeindlichkeit, der Blutlegende, und Pogromgewalt war im Russischen Reich nicht besonders eng.²⁹ Das oft als Musterbeispiel für diese Form von Gewalt behandelte Pogrom von Kišinev war in dieser Hinsicht eine große Ausnahme. Nicht nur kamen fast alle Pogrome ohne jegliche Referenz auf einen Ritualmord aus, in Elisavetgrad folgte zudem auf vergleichsweise plausible Ritualmord-Indizien kein Pogrom, und das, obwohl die späteren Ereignisse zeigten, dass die Stadt ein gewaltiges Potenzial für antijüdische Gewalt barg.

    Die eigentliche Vorgeschichte des Pogroms von Elisavetgrad und damit der gesamten Pogromwelle von 1881/82 beginnt mit dem 1. März 1881, mit dem Attentat auf Zar Alexander II. Der Tod des Autokraten durch die Hand von Terroristen war eine Zäsur, denn er erschütterte all jene, die auf die Stabilität des Staatswesens vertrauten.³⁰ Damit ist nicht nur die politische Elite gemeint; der »Zarenmythos« war keine Erfindung patriotischer Intellektueller. Für einen großen Teil zumindest der russischen Unterschichten war der Zar eine quasisakrale Figur voller Verständnis und gutem Willen für seine treuen Untertanen. Sein Tod war ein gravierendes Ereignis, das nach Erklärungen verlangte.

    In der älteren Forschung ist zu lesen, dass die antisemitische Presse den Zarenmord den Juden in die Schuhe geschoben habe. So schilderten es auch nach den Pogromen viele Vertreter der jüdischen Gemeinden in ihren Stellungnahmen zu den Ursachen der Gewalt. In der Tat widmeten Zeitungen wie Novoe vremja dem Umstand, dass unter den Verschwörern auch eine Jüdin war, große Aufmerksamkeit. Gessja Gel’fman, so ihr Name, war zwar an der eigentlichen Bluttat nur indirekt beteiligt: Ihre Rolle hatte darin bestanden, ein konspiratives Quartier anzumieten. Andererseits stach ihr Fall heraus, weil sie zwar wie die anderen Verschwörer zum Tode verurteilt, die Vollstreckung des Urteils jedoch aufgrund von Gel’fmans Schwangerschaft bis zu ihrer Niederkunft aufgeschoben wurde. Deshalb kursierten Gerüchte, »die Juden« hätten es so eingerichtet, dass man Gel’fman nicht hängen, sondern letztlich entkommen lassen werde.³¹ Darüber hinaus wurden in der Presse Hinweise gestreut, dass nicht nur eine Jüdin, sondern mehrere, wenn nicht »die Juden« insgesamt hinter dem Attentat steckten. Welche von beiden Varianten der kollektiven Täterschaft zutreffend war, ließen die Autoren oft absichtlich im Unklaren. So wurde das Attentat etwa als »Werk jüdischer Hände« bezeichnet oder es hieß, dass in Odessa zum Osterfest antijüdische Gewalt vorbereitet werde, um die Beteiligung »einiger« oder »der« Juden (das ließ die Formulierung offen) am Attentat zu rächen.³² Der letztgenannte Bericht stammte aus der in Odessa erscheinenden Zeitung Novorossijskij telegraf. Zwar distanzierte sich die Zeitung von dem Aufruf zur Gewalt, das von den Juden ausgehende Übel beschränke sich auf wirtschaftliche Ausbeutung. Doch die jüdische Presse, die Juden von Elisavetgrad und auch Graf Kutajsov schrieben diesem Zeitungsartikel später eine Schlüsselrolle für das Ausbrechen des Pogroms zu.³³

    Andererseits nahmen längst nicht alle Zeitungen die angeblich »jüdische Spur« auf. Das galt nicht nur für die liberalen und aus konservativer Sicht immer im Verdacht übermäßiger Judenfreundlichkeit stehenden Zeitungen, wie das einzige Lokalblatt Elisavetgradskij vestnik. Gerade auch konservative und kirchliche Autoren betonten die »Schuld«, die das russische Volk und besonders seine Oberschicht am Zarenmord treffe. Der prominente Journalist und Herausgeber des konservativen Blattes Graždanin, Fürst Vladimir P. Meščerskij, notierte etwa: »Schande, Schande, ewige Schande über uns, das russische Volk.«³⁴ Als Beispiel aus Neurussland mag die konservativ-patriotische Zeitung des Bistums Cherson dienen, die betonte, dass »die Zarenmörder aus unseren Reihen kamen, aus der Mitte des russischen Volkes«.³⁵

    Für die Masse der Bevölkerung hatte der Zarenmord aber ohnehin eine ganz andere Bedeutung. Die Vorwürfe gegen die Juden, die in der Presse und auch in Teilen der Bevölkerung erhoben wurden, gewannen erst aus der Rückschau an Relevanz, weil sie den Zeitgenossen halfen, eine befriedigende Erklärung für die Judenpogrome zu finden. Vor den Pogromen zirkulierten ganz unterschiedliche Spekulationen über die Attentäter, und nur wenige schrieben die Verantwortung den Juden zu. Viel häufiger wurde vermutet, dass der Zar von Vertretern des Adelsstandes umgebracht worden war, weil er eine Umverteilung des Landes zugunsten der Bauern befürwortet oder weil er gegen angebliche Pläne des Adels für eine neue Leibeigenschaft Einspruch erhoben habe.³⁶ Die Bauern brachten also ihre Hoffnungen und Ängste ins Spiel und verbanden sie mit dem Mythos vom wohlwollenden Zaren und den bösen »Bojaren«. Darüber hinaus entsprach die Vermutung, dass, wenn ein Zar ermordet wurde, ein Adelskomplott dahinterstecken müsse, ja durchaus der historischen Erfahrung – man denke nur an die Palastrevolten des 18. Jahrhunderts. Erst im Nachhinein trat die antijüdische Dimension in den Vordergrund.³⁷ Der Mord an Alexander II. war also keineswegs das Motiv oder auch nur der Anlass für die Judenpogrome. Es gab überdies, wie schon John Klier gezeigt hat, keine antisemitische Pressekampagne, welche die Juden als Zarenmörder präsentierte.³⁸ Trotzdem spielte das Attentat für das Ausbrechen der Gewalt in Elisavetgrad eine große, wenn auch indirekte Rolle: Es war der Grund, warum das Osterfest im Jahr 1881 anders begangen wurde als üblich.

    Selbstverständlich folgte auf den Tod des Zaren eine Zeit der Staatstrauer, die sich zunächst gut in den orthodoxen Festkalender einfügte, denn die »große Fastenzeit« vor Ostern war von jeher eine Zeit der inneren Einkehr und Trauer. Ostern selbst wurde jedoch als Fest der Freude begangen. Wenn der Ostergottesdienst vorüber und die Prozessionen mit Ikonen und Kirchenfahnen absolviert waren, wurde ausgelassen gefeiert. Das Osterfest läutete den Beginn des sommerlichen guljan’e ein, des gemeinsamen »Spazierens« der jungen Männer und Frauen. In den Städten und Dörfern wurden Riesenräder und große Schaukeln aufgebaut. Volkstheater, die sogenannten balagany, lockten die Besucher an, es gab Schnaps und Schlägereien.³⁹

    Im zentralrussischen Dorf prügelten sich meist die jungen Männer benachbarter Dörfer, in den Städten die Einheimischen mit den Auswärtigen (die oft eigens zu diesem Zweck in die Stadt kamen). Immer war die Differenz zwischen »uns« und den »Fremden« bestimmend. Die Gewalt folgte Regeln, deren Sinn offenbar darin bestand, einerseits den Männern eine Gelegenheit zu geben, durch Gewalttaten Prestige zu erwerben, andererseits aber ernsthafte Verletzungen und damit einen Verlust der Arbeitskraft zu vermeiden. Dazu gehörten vorgelagerte Droh- und Schmährituale sowie das Verbot bestimmter gefährlicher Formen der Gewalt. So galt es als unehrenhaft, am Boden Liegende oder Blutende zu schlagen.⁴⁰

    Es scheint, dass diese Tradition im Südwesten des Reiches eine gewisse Transformation erfuhr. Jedenfalls lassen sich die kleineren österlichen Ausschreitungen, die es namentlich in Neurussland in der Osterwoche praktisch alljährlich gab, so deuten. Es ist nicht viel darüber bekannt, was bei diesen Anlässen vor 1881 geschah. Oft blieb es bei bloßen Drohungen oder bei Handlungen wie dem Einschlagen von Fensterscheiben, die selbst primär als Drohung zu verstehen waren.⁴¹ Auch außerhalb der Osterzeit kam es regelmäßig zu Schlägereien, bei denen Juden durchaus nicht nur Opfer waren. »Es ist unmöglich, über einen Basar zu gehen, ohne dass es eine Schlägerei zwischen Juden und Christen gibt, wobei mal die eine, mal die andere Seite die Oberhand gewinnt.«⁴² Insofern gab es also limitierte Gewalt gegen eine nun ethnischreligiös konzipierte Gruppe der »Anderen«. Dass sich die Opfer manchmal nicht dem Kampf stellten, hinderte die Täter nicht, Wagemut und Körperkraft zur Schau zu stellen und so Prestige zu erringen. Diese Proto-Pogrome waren etwas anderes als die traditionellen Schlägereien in Zentralrussland, aber sie hatten sehr wahrscheinlich in ebendieser Form der Gewalt ihren Ursprung.

    Das Osterfest des Jahres 1881 verlief anders als sonst. Die Zeit der Staatstrauer war noch nicht vorbei, und deshalb wurden die Vergnügungen, die Schaukeln und Schaubuden abgesagt. Stattdessen patrouillierten Soldaten in den Straßen. Überwachung statt Ausgelassenheit, Bajonette statt Theater. Die Stimmung in der Stadt war schlecht, und bald verbreiteten sich Gerüchte, dies sei den Juden zu verdanken. Es hieß, die Juden hätten die Behörden bestochen, ihnen die Vergnügungen »abgekauft«. Für »500 Rubel« hätten sie die Polizei auf ihre Seite gebracht. Diese Gerüchte wurden als so gefährlich eingestuft, dass der Polizeimeister von Elisavetgrad Bogdanovič ein Dementi drucken und in der Stadt plakatieren ließ.⁴³ Normalerweise wurden im späten Zarenreich Gerüchte von den Behörden nicht so ernst genommen. Bogdanovič und den anderen Staatsvertretern war jedoch bewusst, dass die öffentliche Ordnung gefährdet war, denn seit dem Attentat hatte sich die Lage in Elisavetgrad immer weiter zugespitzt.

    Nach dem Zarenmord verfestigte sich bei den Einwohnern von Elisavetgrad allmählich die Auffassung, dass etwas bevorstehe, das weit gravierender war als die üblichen Auseinandersetzungen zwischen Juden und Christen. Die Gerüchte, im Folgenden werden sie auch als »Ankündigungsgerüchte« bezeichnet, hatten ihren Ursprung in Odessa. An keinem anderen Ort lag es nahe, mit einem Ausbruch antijüdischer Gewalt zu rechnen, denn die Ausschreitungen von 1871 waren noch präsent. Schon bald hieß es aber auch in Elisavetgrad, »das Volk beabsichtige, das zehnjährige Jubiläum des Judenschlagens in Odessa zu feiern«.⁴⁴ Dies war zunächst nicht mehr als Gerede, wie es auch in anderen Jahren zu hören gewesen war. Doch indem sich verschiedene Bevölkerungsgruppen aus jeweils sehr unterschiedlichen Motiven und auf sehr unterschiedliche Art und Weise auf die möglicherweise bevorstehenden Ereignisse einstellten, verstärkten sie sich gegenseitig in ihren Erwartungen. So trugen selbst Akteure, die die Gewalt zu verhindern suchten, dazu bei, dass die Erwartung eines Pogroms in Elisavetgrad immer plausibler wurde.

    Als in Elisavetgrad in den Wochen nach dem 1. März Gerüchte aufkamen, zu Ostern würden die Juden geschlagen, wurden sie zunächst nicht allzu ernst genommen. Man hatte Erfahrungen mit handgreiflichen Auseinandersetzungen, sie waren beinahe alltäglich und überdies nicht völlig einseitig.⁴⁵ Doch auch Gewalt geringeren Ausmaßes fürchten jene zu Recht, die ihr zum Opfer fallen können. Deshalb ist es möglicherweise zutreffend, wenn nach dem Pogrom Vertreter der Behörden behaupteten, das Gerücht über die bevorstehenden Ausschreitungen sei anfangs nur von den Juden Elisavetgrads ernst genommen worden, wenn auch nicht von allen.⁴⁶ Es ist plausibel, dass das Gerücht die voraussichtlichen Opfer mehr bewegte als die potenziellen Täter. Doch auch diese begannen, über die bevorstehenden Ereignisse zu sprechen. Im Nachhinein interpretierten die Opfer solches Gerede oft im Sinn einer langfristigen Vorbereitung der Täter. Doch der Ablauf des Pogroms von Elisavetgrad weist keine Anzeichen einer gezielten vorausgegangenen Planung auf. Es gab »Christen«, die Juden gegenüber Andeutungen über die angeblich kommende Gewalt machten. Das heißt jedoch nicht, dass sie über die Zukunft besser informiert waren als andere; es bedeutete nur, dass sie es als »profitabel« erachteten, mit der Furcht ihres Gegenübers zu spielen. So konnte es Befriedigung verschaffen, Menschen »Angst einzujagen«, mit denen man vielleicht einmal in Konflikt geraten war. Anderen war klar, dass die Juden in der aktuellen Situation jeder Konfrontation aus dem Weg gehen würden, und sie nutzten die Gelegenheit, um sie grob zu beschimpfen und zu erniedrigen.⁴⁷ Auch Neid mag eine Rolle gespielt haben, wenn etwa der Elisavetgrader Kaufmann Vaščenko, dem Namen nach wohl Ukrainer, drei Tage vor Ostern einen Juden beim Kauf eines teuren Gemäldes beobachtete und mit den Worten ansprach: »Wozu brauchen Sie das, in drei Tagen werdet ihr doch ohnehin alle niedergemacht?«⁴⁸ Es gab aber auch Fälle, in denen materieller Profit aus der Pogromangst geschlagen wurde, indem »Christen« Schutzgeld erpressten oder Handelspartner unter Druck setzten.⁴⁹ Je näher Ostern kam, umso mehr häuften sich in Elisavetgrad solche und ähnliche

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