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Nationalismus
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eBook111 Seiten1 Stunde

Nationalismus

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Über dieses E-Book

"Die Nation ist der organisierte Eigennutz eines ganzen Volkes, jener Zug an ihm, der am wenigsten menschlich ist."


Rabindranath Tagores Reden über den ­Nationalismus sind hundert Jahre alt, aber fast taufrisch. Mit ihnen protestierte Indiens Nobelpreisträger gegen "den Westen" und seine Neigung, dem Rest der Welt das eigene Gesellschafts- und ­Wirtschaftsmodell als alternativlos zu verkaufen. Hier wird alles verhandelt: das eigensüchtige Konstrukt von hinter ihren Grenzen verschanzten Nationen, ihre Gier, ihr Rassismus ­gegenüber vermeintlich minderwertigen Völkern, denen man alles nehmen darf. Auch hundert Jahre später lesen sich diese ­Ansprachen als ein Manifest, mit dem Tagore den Seinen zurief: "Empört Euch !"
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum19. Nov. 2019
ISBN9783946334668
Nationalismus
Autor

Rabindranath Tagore

Rabindranath Tagore was born in May 1861. He was a Bengali poet, Brahmo Samaj philosopher, visual artist, playwright, novelist, and composer whose works reshaped Bengali literature and music in the late 19th and early 20th centuries. He became Asia's first Nobel laureate when he won the 1913 Nobel Prize in Literature. His works included numerous novels, short-stories, collection of songs, dance-drama, political and personal essays. Some prominent examples are Gitanjali (Song Offerings) , Gora (Fair-Faced), and Ghare-Baire (The Home and the World). He died on 7th August 1941.

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    Buchvorschau

    Nationalismus - Rabindranath Tagore

    NATIONALISMUS

    IN JAPAN

    Die schlimmste Form der Sklaverei ist die Niedergeschlagenheit. Sie bannt die Menschen in ein Gefängnis der Hoffnungslosigkeit, weil sie ihr Selbstvertrauen verloren haben. Immer wieder hat man uns einreden wollen (nicht ohne eine gewisse Berechtigung), Asien lebe in der Vergangenheit – es sei ein üppiges Mausoleum, das alle seine Schätze zeige, um die Toten unsterblich zu machen. Asien, hieß es, werde niemals den Weg des Fortschritts einschlagen, allzu störrisch blicke es zurück. Wir haben diese Vorwürfe hingenommen und nach und nach selbst daran geglaubt. In Indien aber ist ein großer Teil der gebildeten Bevölkerung müde, sich dieses Vorwurfs ewig zu schämen – und nun versuchen die Menschen mit allen Mitteln, welche die Selbsttäuschung ihnen einflüstert, den Vorwurf umzumünzen in einen Vorwand zur Prahlerei. Wer freilich prahlt, versteckt nur seine Beschämung, er glaubt nicht wirklich an sich selbst.

    Während alles stillstand und wir Asiaten uns wie in einem Akt der Selbsthypnose eingeredet hatten, es könne niemals anders sein, erhob sich plötzlich Japan aus seinen Träumen, ließ mit Riesenschritten Jahrhunderte der Untätigkeit hinter sich und überholte mit Spitzenleistungen die Gegenwart. Das hat den Bann gebrochen, unter dem wir lange wie betäubt gelegen hatten – dabei hatten wir doch schon diese Betäubung für die natürliche Daseinsbedingung gewisser Rassen in gewissen geographischen Zonen gehalten. Wir hatten vergessen, dass in Asien große Reiche gegründet worden waren, dass Philosophie, Wissenschaft, Kunst und Literatur hier blühten und dass hier die Wiege aller großen Religionen der Welt stand. Insofern kann man nicht behaupten, dass der Boden und das Klima Asiens notwendigerweise für geistigen Stillstand sorgen und alle Fähigkeiten verkümmern lassen, welche die Menschen voranbringen.

    So senkte sich die Dunkelheit auf alle Länder Asiens. Die Zeit schien nicht mehr voranzurücken, und Asien ließ ab, neue Nahrung zu sich zu nehmen, es nährte sich von der eigenen Vergangenheit, was im Grunde bedeutet: sich selbst aufzufressen. Die Stille war wie der Tod, und die große Stimme schwieg, die einst Botschaften der ewigen Wahrheit verkündet hatte, Botschaften, welche die Menschen über viele Generationen hinweg vor Befleckung bewahrten, wie der Luftozean den Erdball rein hält und alles Unsaubere von ihm nimmt.

    Aber das Leben hat seinen Schlaf, seine Phasen der Untätigkeit, in denen es seine Bewegung einstellt, nichts mehr zu sich nimmt, von seinen Reserven zehrt. Dann wird es hilflos, die Muskeln erschlaffen, und es ist einfach, dieses Leben wegen seiner Reglosigkeit zu verhöhnen. Im Lebensrhythmus muss es jedoch Pausen der Erneuerung geben. Das Leben verströmt sich immer in seinen Aktivitäten, verbrennt all seine Energie. Dies aber kann nicht immer so weitergehen, stets folgt ein passives Stadium, in dem alle ausgreifenden Aktionen eingestellt werden, in dem man auf Abenteuer verzichtet, um auszuruhen und sich allmählich zu erholen.

    Der Geist verfährt sparsam – er bildet gern Gewohnheiten heraus und bewegt sich in eingefahrenen Geleisen, was ihm die Mühe erspart, jeden Schritt neu zu überdenken. Einmal herausgebildete Ideale machen ihn träge. Er hat Angst, das, was er sich angeeignet hat, durch neuerliche Mühen aufs Spiel zu setzen. Er will völlige Sicherheit genießen, indem er seinen Besitz hinter den Verteidigungsmauern der Gewohnheit birgt. Das heißt aber eigentlich, dass er auf den vollen Genuss seines Besitzes verzichtet. Es ist eine Art Geiz. Die lebendigen Ideale dürfen den Kontakt mit dem stets wachsenden und veränderlichen Leben nicht verlieren. Ihre wahre Freiheit finden sie nicht innerhalb der Grenzmauern der Sicherheit, sondern auf der weiten Landstraße des Abenteuers, mitsamt den vielen Risiken neuer Erfahrungen.

    Eines Morgens schaute die Welt überrascht auf, als Japan die Mauern seiner alten Gewohnheiten in einer einzigen Nacht durchbrach und triumphierend aus ihnen heraustrat. Dies geschah in so unglaublich kurzer Zeit, dass es eher wie ein Kostümwechsel wirkte als wie der Aufbau neuer Strukturen. Japan zeigte die zuversichtliche Kraft der Reife und gleichzeitig die Frische, das unendliche Potential eines neuen Lebens. Man äußerte die Befürchtung, dies sei nur ein bizarrer historischer Zufall, ein Gaukelspiel der Epoche, eine Seifenblase: makellos gerundet und glänzend, aber hohl und substanzlos. Doch Japan hat eindeutig bewiesen, dass seine plötzlich enthüllte Macht kein kurzlebiges Phänomen ist, kein Zufallsprodukt, das aus dem Dunkel kommt und gleich wieder dem Vergessen anheimfällt.

    In Wahrheit ist Japan alt und jung zugleich. Japan besitzt das Erbe der alten Kultur des Ostens – jener Kultur, die den Menschen lehrt, wahren Reichtum und wahre Macht in der Seele zu suchen, der Kultur, die dem Menschen trotz aller Verluste und Gefahren Selbstbeherrschung schenkt, die lehrt, sich ohne Kalkül und ohne Hoffnung auf Gewinn aufzuopfern, des Todes nicht zu achten und all die vielen Verpflichtungen auf sich zu nehmen, die wir den anderen Menschen als soziale Wesen schulden. Kurz, Japan ist aus dem uralten Osten hervorgegangen wie eine Lotosblüte, die in ungezwungener Anmut emporwächst und mit der Tiefe verbunden bleibt, der sie entspringt.

    Japan, Kind des alten Ostens, hat aber auch furchtlos alle Gaben der Moderne für sich beansprucht. Es hat seine Kühnheit bewiesen, indem es mit alten Gewohnheiten gebrochen hat, nutzlosen Anhäufungen jenes trägen Geistes, der Sicherheit hinter Schloss und Riegel sucht. So ist Japan in Verbindung mit der neuen Zeit getreten und hat die Verantwortung einer modernen Zivilisation mit Eifer und Geschick auf sich genommen.

    Das ist es, was das übrige Asien ermutigt hat. Wir haben gesehen, dass Leben und Kraft in uns sind; es muss nur die tote Kruste aufgesprengt werden. Wir haben gesehen, dass es Tod bedeutet, Schutz bei den Toten zu suchen, und dass Leben nur heißen kann, das ganze Risiko des Lebens einzugehen.

    Ich kann nicht glauben, dass Japan das geworden ist, was es nun ist, indem es den Westen bloß nachgeahmt hat. Das Leben lässt sich nicht nachahmen, Stärke lässt sich nicht lange imitieren – denn eine Imitation ist lediglich ein Zeichen von Schwäche. Sie hindert unsere wahre Natur, sie ist uns immer im Wege. Es ist, als bekleideten wir unser Skelett mit der Haut eines anderen, was zu ständigen Konflikten zwischen Knochen und Haut führen muss.

    In Wahrheit gehört die Wissenschaft nicht zur Natur des Menschen, sie ist nur Wissen und Übung. Wer die Gesetze des materiellen Universums kennt, verändert damit nicht seine tiefere Menschennatur. Man kann sich Wissen von anderen leihen, nicht aber ein Temperament.

    Solange wir noch im Nachahmungsstadium unseres Lernprozesses sind, können wir zwischen dem Wesentlichen und dem Unwesentlichen nicht unterscheiden, zwischen dem, was übertragbar ist und was nicht. Es ist so etwas wie der Glaube des primitiven Geistes an die magischen Qualitäten der zufälligen äußeren Form einer großen Wahrheit. Wir haben Angst, etwas Wichtiges und Wirksames zu verlieren, wenn wir den Kern ohne seine Hülse essen. Doch während unsere Gier darauf zielt, alles unterschiedslos zu verschlingen, kann unsere Natur nur das assimilieren, was ein lebender Organismus wirklich benötigt. Überall wird das Leben seine Wahl treffen und etwas annehmen oder ablehnen, wie es seiner inneren Verfassung entspricht. Der lebende Organismus wird nicht wie seine Nahrung; er verwandelt die Nahrung in seinen eigenen Körper. So erstarkt er, und nicht durch bloße Akkumulation oder durch Aufgabe seiner persönlichen

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