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Die Einmischer: Wie sich Schriftsteller heute engagieren
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eBook296 Seiten3 Stunden

Die Einmischer: Wie sich Schriftsteller heute engagieren

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Über dieses E-Book

Wie politisch sind unsere Schriftsteller? Allem Gerede vom Verstummen der engagierten Literatur zum Trotz: Schriftstellerinnen und Schriftsteller mischen sich ein. Sie thematisieren Probleme und Missstände, die von der Politik tabuisiert sind und in den großen Medien oft zu kurz kommen. Die Einmischung der Literatur leugnen kann nur, wer einem bürgerlichen Literatur­verständnis folgt und sich ganz auf den Gegenwartsroman ­fixiert. Denn seit Jahren findet sich die Befassung mit brisanten politischen Themen auch und gerade in der Spannungsliteratur, im Jugendbuch oder in der ­Poesie. Thomas Wagners Interviews zeigen die Vielfalt heutigen Engagements und der beteiligten literarischen Gattungen. Die Gespräche sind so unterschiedlich wie die künstlerischen Werke, doch sie machen eines deutlich: Inmitten der deutschsprachigen Literatur entsteht derzeit eine regelrechte Ideenwerkstatt für konkrete Utopien – sprachlich überzeugend, sachkundig und politisch vorwärtsweisend. Gespräche mit Dietmar Dath, Raul Zelik, Juli Zeh, Ilija Trojanow, Robert Menasse, Wolfgang Schorlau, Sabine und Saddek Kebir, Erasmus Schöfer, Michael Wildenhain, Sabine Kuegler, Jürgen Todenhöfer, Wladimir Kaminer, Eva Jantschitsch (»Gustav«), Kai Degenhardt, Biermösl Blosn, Erwin Riess, Christine Lehmann, Dagmar Scharsich, Michael Mäde, Matthias Frings. „Ich bin in der luxuriösen Situation, eine Art Plattform für Ansichten zu haben, und die nutze ich.“ Juli Zeh „Momentan ist alles sehr zersprengt. Gewerkschaftliche Arbeit, politische Publizistik – das müssen wir alles neu lernen, unter nicht mehr sozialpartnerschaftlichen Bedingungen, sondern wieder antagonistischen.“ Dietmar Dath „Eigentlich müsste es eine Erschütterung der herrschenden Gewissheiten geben. Stattdessen existiert so eine sozialdemokratische Schönheitsoperationsmentalität.“ Ilija Trojanow „In unserer Gesellschaft ist noch nicht angekommen, dass die Unterschei­dung in weibliche und männliche Rollen nicht sinnvoll ist und vor allem den Frauen schadet, sie zuweilen sogar das Leben kostet, wenn man das Gebaren der Kriegsherren betrachtet.“ Christine Lehmann „Das Prinzip, dass das Kapital sich immer weiter verzinsen muss, dass tatsächlich alles andere untergeordnet wird, dieses Prinzip ist verrückt, weil es nach oben keine Grenzen kennt.“ Wolfgang Schorlau „Alles wird privatisiert. Alles wird diesem Gentrifizierungswahn ausgesetzt. Ich möchte einen Ort haben, auf den diese Strukturen und Ordnungen keinen Zugriff haben.“ Eva Jantschitsch (›Gustav‹) „Ich will Herrschaftsverhältnisse kenntlich machen, die hier und heute in der Mainstream-Kunst und den Medien gerne verschleiert werden.“ Kai Degenhardt „Ich bin offen gestanden, nennen Sie mich ruhig einen Idealisten, der Meinung, dass das Publikum nicht dumm ist.“ Matthias Frings „Das schreiende Unrecht auf dieser Welt bleibt für die meisten Menschen abstrakt und wird verdrängt. Man kann ja umschalten. Wozu gibt es eine Fernbedienung. Dagegen schreibe ich an.“ Michael Mäde „Aus der DDR gerettet habe ich meine Sozialisation, mich mit anderen solidarisch fühlen zu wollen. Das war damals unser ganz großes Pfund.“ Dagmar Scharsich „Ich halte die Antiterrorpolitik gegenüber Afghanistan, Irak und anderen muslimischen Staaten für eine Sackgasse, weil sie unintelligent, uninformiert und unmoralisch ist.“ Jürgen Todenhöfer „Der Staat ist ein facettenreiches und widersprüchliches Feld, auf dem man sich illusionslos bewegen muss.“ Raul Zelik „Ich bin für eine Verfassung, die die Grundlage für das Handeln der Bürger bildet.“ Robert Menasse „In einer menschlichen Gesellschaft würde der Men
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum7. Mai 2013
ISBN9783867549448
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    Buchvorschau

    Die Einmischer - Thomas Wagner

    Thomas Wagner

    Die Einmischer

    Wie sich Schriftsteller heute engagieren

    Argument Verlag

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    Deutsche Originalausgabe

    Alle Rechte vorbehalten

    © Argument Verlag 2010

    Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg

    Telefon 040/​4018000 – Fax 040/​40180020

    www.argument.de

    Satz: Iris Konopik

    Umschlaggestaltung: Martin Grundmann, Hamburg

    Covergrafik: »take up thy pen« © Kit Malo

    ISBN 9783867549448

    Erste Auflage 2010

    1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013

    Die kanadische Illustratorin Kit Malo tummelt sich in der Kunstszene von Montreal. Eigentlich ist sie stur mit ihrem Bleistift liiert, kann aber Herausforderungen schlecht widerstehen, was zu Experimenten mit interaktiver, Live-Action- und Animationskunst, Sensor-Installationen und kuratorischen Tätigkeiten (Pop-Festivals, Visual Art Blogs) führt. 

    Von Natur aus analysierwütig, ist ihr Thema die subversive und humoristische Verarbeitung alltäglichen Lebens, wie es sich dokumentieren und neu dokumentieren lässt, um herrschende Vorstellungen von Realität, Wahrheit und Perspektive zu konfrontieren und herauszufordern.

    www.lambsamongwolves.com

    Inhaltsverzeichnis

    Cover

    Titel

    Impressum

    Einleitung - Worum es geht

    Die Gespräche

    Dietmar Dath

    Die Gegner schlafen auch mal

    Raul Zelik

    Nichts legitimiert, dass der Staat zu terroristischen Mitteln greift

    Juli Zeh

    Mit dem Fingerabdruck können Geheimdienste anrichten, was sie wollen

    Ilija Trojanow

    Das Gegenmodell heißt: völlige Umwälzung der Verhältnisse

    Robert Menasse

    Die Jasager und Mitmacher sind für mich Faschisten

    Wolfgang Schorlau

    Dank Marx verstehe ich, wie unsere Gesellschaft funktioniert

    Saddek und Sabine Kebir

    Die Nation kann nur multikulturell sein

    Erasmus Schöfer

    Widerstand braucht Literatur, um sich zu verständigen

    Michael Wildenhain

    Politische Literatur braucht einen Resonanzraum

    Sabine Kuegler

    Am wichtigsten ist, dass das Töten und die Unterdrückung aufhören

    Jürgen Todenhöfer

    Die Lösung ist: Mit dem Krieg aufhören und verhandeln!

    Wladimir Kaminer

    Die Angst, was zu verlieren

    Eva Jantschitsch (»Gustav«)

    Ein Rock’n’Roll-Leben ist strukturell nicht möglich

    Kai Degenhardt

    Wie es sein könnte

    Biermösl Blosn

    Wir haben dieses Scheißfernsehen nicht gebraucht

    Erwin Riess

    Die Donau als Ausweg

    Christine Lehmann

    Unsere Kultur hat ein Y-Chromosom

    Dagmar Scharsich

    Ich wollte die DDR erhalten und zu einem demokratischen Land machen

    Michael Mäde

    Ich hielt die DDR für den besseren deutschen Staat

    Matthias Frings

    Über Ronald M. Schernikau: Die Revolution wäre für ihn das Unterhaltendste gewesen

    Danksagung

    Anmerkungen

    Worum es geht

    Wenn Literaturwissenschaftler Märchen erzählen, dann hört sich das so an: Es war einmal eine Zeit, in der sich die Schriftsteller ins politische Geschehen einmischten. Seit dem Zusammenbruch des Sozialismus in Europa sei dieses Engagement allerdings passé. Seitdem habe man sich nur noch gewundert, dass die Autoren der Linken fernblieben. Heute fehle selbst die Verwunderung darüber. Die Ursache der Misere sei schließlich darin zu suchen, »dass Links nicht mehr rockt« ¹ . So will es der langjährige Juror und Juryvorsitzende des Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Preises Burkhard Spinnen und findet mit dieser Argumentation ausgerechnet in dem rechtsgerichteten Romancier Thor Kunkel ² einen Geistesverwandten. Auch dieser meinte, jüngere deutsche Autoren meldeten sich heute kaum je zu Wort, wenn es um politische Fragen geht ³ . Kommentare zu wichtigen gesellschaftlichen Entwicklungen kenne er keine. Selbst die allesfressende und wiederkäuende Kulturmaschinerie werde kaum kritisiert. Jeder Fußballer, jede Viva-Moderatorin mische sich provokanter in die Tagespolitik ein als die Schriftsteller. Spinnen und Kunkel sprechen eine Ansicht aus, die unter Literaturwissenschaftlern, Feuilletonisten und selbst unter Autoren heute weit verbreitet ist.

    Mit der Wirklichkeit hat all das Gerede vom Verstummen der engagierten Literatur heute freilich kaum etwas zu tun. Wer genau hinsieht, statt den kurzlebigen Literaturmoden zu folgen, die im Rhythmus der Buchmessen und Literaturpreis-Verleihungen alljährlich ausgerufen werden, erkennt bald: Zwanzig Jahre nach dem Mauerfall ist die Literatur so breit und vielgestaltig engagiert wie schon lange nicht mehr. Jenseits von Pop-Literatur, Fräuleinwunder und einem sogenannten Neuen Feminismus melden sich Autorinnen und Autoren deutlich vernehmbar zu Wort, greifen Schriftsteller als kritische Intellektuelle kraftvoll und beherzt in die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen ein.

    Dabei schienen vor nicht allzu langer Zeit gerade jene Autoren die Diagnose vom Ende der engagierten Literatur zu bestätigen, die sich gegen den damals vorherrschenden Trend im klassischen Sinne demonstrativ parteilich zeigten und sich für den Wahlkampf der SPD einspannen ließen. Als Juli Zeh, Benjamin Lebert, Feridun Zaimoglu oder Durs Grünbein im Jahr 2005 einem Ruf von Günter Grass folgten und für die Wiederwahl des Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD) warben, wirkte das politisch eher einfallslos, angepasst, jedenfalls meilenweit entfernt von fortschrittlichen gesellschaftspolitischen Visionen. Die 1968 in Westberlin geborene Schriftstellerin Tanja Dückers vermisste bei ihren Kollegen damals einen utopischen Überschuss der Literatur, der auf nicht realisierte Möglichkeiten des Zusammenlebens verweist: »Wenn Literatur sich mit Politik beschäftigt, sollte sie nicht den Status quo bestätigen (dafür sind die Realpolitiker da), sondern den schlechten Ist-Zustand mit dem vergleichen, was möglich wäre. Gute Literatur verhält sich in diesem Sinne wie gute Musik: Sie transzendiert die Realität und vermittelt für einen Moment die Aussicht auf ein besseres Leben. Welche Utopie in der Unterstützung für Hartz IV liegen soll, ist hingegen völlig schleierhaft.«

    Auch eine im selben Jahr von der Wochenzeitung Die Zeit angeschobene Debatte über die Aufgaben des Romans schien die politische Harmlosigkeit der Gegenwartsliteratur nur zu bestätigen. Martin R. Dean, Thomas Hettche, Matthias Politycki und Michael Schindhelm stellten ein »Manifest für einen Relevanten Realismus« ⁵ vor, das sich gegen eine vermeintlich belanglose Gegenwartsliteratur positionierte, dabei aber selbst inhaltlich vage und politisch auffällig richtungslos blieb. Aber stimmte wenigstens die Diagnose des Positionspapiers? Mitnichten. Selbst unter den als infantile Pop-Literaten geschmähten Autorinnen und Autoren hatten zu diesem Zeitpunkt einige längst selbst Relevantes zu Papier gebracht. »Man denke etwa an Christian Krachts 1979 von 2001, an Juli Zehs Adler und Engel, ebenfalls von 2001, an Kathrin Rögglas wir schlafen nicht von 2004 oder an Doron Rabinovicis Ohnehin, ebenfalls von 2004.« ⁶ Der Literaturwissenschaftler Paul Michael Lützeler attestiert den Manifest-Autoren deshalb zu Recht eine »partielle Blindheit gegenüber dem zeitgenössischen Roman« ⁷ .

    Heute ist die engagierte Literatur nicht mehr »unmodern«, wie Alban Nikolai Herbst noch jüngst behauptete. ⁸ Ein Großteil der professionell mit Literatur befassten Kulturarbeiter sieht das freilich noch anderes. Ursächlich dafür ist nicht zuletzt der Umstand, dass alle bisherigen Debatten um eine Renaissance der politisch engagierten Literatur in zweierlei Hinsicht defizitär waren. Zum einen stand die »klassische« Form des Romans im Mittelpunkt. Aktuelle politische Tendenzen im Bereich der Spannungsliteratur, des Krimis, der Science-Fiction, des Jugendbuchs oder der Poesie blieben ausgeklammert. Dabei war gerade hier längst zu finden, was im Gegenwartsroman vermisst wurde: die literarische Befassung mit brisanten politischen Themen. Das trifft auf die populären Politthriller eines Wolfgang Schorlau genauso zu wie auf die Jugendbücher Michael Wildenhains. Selbst die politische Lyrik ist auf die literarische Bühne zurückgekehrt, was die Rotbuch-Anthologie Alles außer Tiernahrung (2009) eindrucksvoll dokumentiert. Zum anderen war der Blick auf die Bücher selbst fokussiert. Kaum jemand fragte nach dem Engagement der Autoren als Intellektuelle. Dadurch erschien die Literatur deutlich unpolitischer, als sie es nach 1989 tatsächlich war. Gegenläufige Tendenzen blieben unterhalb der medialen Wahrnehmungsschwelle.

    Wer die Intellektuellen sind

    Schriftsteller füllen heute zunehmend eine Leerstelle der demokratischen Öffentlichkeit: die des Intellektuellen, der sich für das Wohl des Gemeinwesens einsetzt. »Ein Intellektueller gibt politische Orientierung und erörtert öffentlich generelle Fragen.« ⁹ Jean-Paul Sartre war es, der am 1.   10.   1945 die erste Ausgabe seiner Zeitschrift Les Temps Modernes mit dem Appell eröffnete, die Schriftsteller sollten Verantwortung übernehmen und für die öffentlichen Belange eintreten. »Der Hunger in der Welt, die atomare Bedrohung, die Entfremdung des Menschen – ich wundere mich, dass sie nicht unsere ganze Literatur färben«, konkretisierte er zwanzig Jahre später, was er von den Autoren erwartete. ¹⁰ In Westdeutschland wandte sich die »Gruppe 47« zunächst gegen die Reste faschistischer Propagandasprache und den autoritären Untertanengeist im Adenauerstaat. Die Autoren protestierten gegen die Wiederbewaffnung und den Vietnamkrieg oder unterstützten die Befreiungsbewegungen in der »Dritten Welt«. Später ging es um die Haftbedingungen der

    RAF-Gefangenen

    , Atomenergie und die Stationierung amerikanischer Nuklearwaffen.

    Die kritischen Interventionen von Heinrich Böll, Martin Walser, Günter Grass und Max Frisch beeinflussten im Westen das politische Bewusstsein ganzer Generationen. Bertolt Brecht erprobte mit seinem Theaterkollektiv in der DDR Elemente einer radikal demokratischen Gesellschaft, die auch im Realsozialismus noch ihrer Verwirklichung harrte. Die Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss und Brechts eingreifendes Denken beflügelten die Diskussionen auf beiden Seiten des »Eisernen Vorhangs«. Als dieser 1989 fiel, schienen der Sozialismus und mit ihm die Zukunftshoffnungen vieler Intellektueller auf Nimmerwiedersehen ins Reich der Utopie verbannt. Manche Kommentatoren meinten, dass damit auch die Schriftsteller ihre Rolle als Kritiker der herrschenden Verhältnisse für immer eingebüßt haben würden. Die Figur des kritischen Intellektuellen galt als tot. Die Grabesrede hielten die französischen Poststrukturalisten. Von Deleuze über Foucault bis Baudrillard erklärten sie, wenig Sinn in dem Anspruch zu sehen, mit ihrer Deutungsarbeit für alle zu sprechen, wenngleich sie es selbst weiterhin taten. ¹¹

    »In den 1990er Jahren pfiffen dann auch die kleineren intellektuellen Spatzen von den Flachdächern der Konzerne, die Zeit der Intellektuellen sei vorbei, ja sie hätten uns ins Unglück gestürzt mit ihren Utopien.« ¹² Auch die Strukturen der Öffentlichkeit haben sich in dieser Zeit dramatisch verändert. Die öffentliche Rolle des Schriftstellers stand in der Bundesrepublik Deutschland vor 1989 noch in enger Beziehung zum Bildungsauftrag eines öffentlichrechtlichen Rundfunks, dessen Monopol gerade erst zu bröckeln begann. Mit dem von der Regierung Helmut Kohl durchgesetzten Siegeszug der Konzernmedien nahm die Präsenz der Schriftsteller und der »klassischen« Intellektuellen in Radio und Fernsehen deutlich ab. Andere nahmen ihre Stelle ein. »Wie der Übergang vom Stummfilm zum Tonfilm eine neue Generation von Stars hervorgebracht hat, so hat das Fernsehen den telegenen Intellektuellen und die Talkshow hervorgebracht. Der vom Katheder verkündende ›Geist‹ ist marginalisiert, wenn auch nicht ganz verschwunden.« ¹³ Die Printmedien verringerten ihren Platz für kritische Interventionen und luden lieber sogenannte Experten zu Stellungnahmen ein. Anstelle von Schriftstellern beantworten seit den neunziger Jahren zunehmend Unternehmensberater die Frage, in welcher Gesellschaft wir künftig leben wollen.

    Linksliberale Positionen verloren in den Feuilleton-Redaktionen spürbar an Gewicht und rechte Intellektuelle gewannen Deutungsmacht. Als Daniel Kehlmann seine Eröffnungsrede zum Brecht-Festival des Jahres 2008 in Augsburg für eine Generalabrechnung mit der Gesellschaftskritik linker Intellektueller am Beispiel Bert Brechts nutzte ¹⁴ , fühlte sich im Feuilleton kaum jemand provoziert. Während rechtsgerichtete Schriftsteller wie der selbsterklärte Reaktionär Martin Mosebach ¹⁵ und der katholische Herrendenker Nicolás Gómes Dávila (1913   –   1994) viel Lob im Kulturbetrieb ernteten ¹⁶ , ließen die in den vergangenen Jahren unter dem Stichwort »Politischer Roman« geführten Feuilleton-Debatten linke Autoren weitgehend außen vor.

    Nach dem vorläufigen Ende des Sozialismus und dem Siegeszug des Neoliberalismus in Europa waren die kritischen Intellektuellen und sozial engagierten Künstler aus der herrschenden Weltsicht nahezu verschwunden. Und mit ihnen verschwanden die Begriffe, mit denen die dramatische Ungleichheitsentwicklung hätte analysiert, die Parolen, mit denen Freiheitskämpfe hätten ausgefochten werden, und die Organisationen, in denen sich Widerstand hätte formieren können. »Das war die Zeit, in der das Kapital sich von Spekulationsblase zu Spekulationsblase fiktiv aufblähte, während die intellektuellen Konjunkturritter die Welt als Schneeballsystem imaginierten. Damit hat die große Krise Schluss gemacht. Sie hat die Abschaffungen abgeschafft. Wahrheit und Wirklichkeit haben sich zurückgemeldet.« ¹⁷

    Die in globalem Maßstab ständig wachsende Ungleichheit, die Folgen des Klimawandels, drohende Verteilungskämpfe um Trinkwasser, Bodenschätze, fossile Energieträger und nicht zuletzt die kaum überstandene Weltwirtschaftskrise machen die Notwendigkeit von politischen Alternativen unübersehbar. Konkrete Utopien in diesem Sinne vorzuschlagen und öffentlich zu vermitteln, das ist in der bürgerlichen Öffentlichkeit traditionell die Aufgabe von Intellektuellen. Doch ausgerechnet zu einer Zeit, wo politische Zukunftsvisionen wieder vermehrt nachgefragt werden, ist diese Position im Feld des öffentlichen Diskurses mehr oder weniger verwaist. Parteien und Gewerkschaften haben längst darauf verzichtet, eigene Geistesarbeiter heranzubilden. Die Universitäten spannen junge Sozial- und Geisteswissenschaftler heute viel zu sehr in den Alltagsbetrieb und in Karrierezwänge ein, als dass diese noch daran denken könnten, sich öffentlich einzumischen. Zwischen Lehrverpflichtungen, Drittmitteleinwerbung, Gremienarbeit und wissenschaftsinternen Publikationszwängen verlieren sie beinahe zwangsläufig den Blick für die großen Zusammenhänge. Journalisten, die gar nicht so selten den Ehrgeiz entwickeln, selbst in die Fußstapfen der großen Intellektuellen zu treten, geben sich häufig damit zufrieden, im Auftrag von Think-Tanks als Lautsprecher der Konzerninteressen zu fungieren. Wirklich innovative Ideen oder fortschrittliche gesellschaftliche Entwürfe sucht man bei ihnen in der Regel vergeblich.

    Doch die neoliberale Hegemonie hat erste Risse bekommen. Innenpolitisch ist mit der Linkspartei eine Kraft entstanden, die das sozialdemokratische Erbe antritt und die öffentlichen Foren für kritisches Denken deutlich vermehrt. An den Universitäten entstehen Marx-Lesekreise. Und immer mehr Schriftsteller nutzen die neu geschaffenen Möglichkeiten, sich für das linke Projekt zu engagieren. Tendenz steigend. Mit dem Aufwind, den sowohl die globalisierungskritische Bewegung als auch die parteipolitische Linke seit einigen Jahren erfahren, werden ihre Themen auch von den großen Medien wieder aufgegriffen. Die Ratlosigkeit vorgeblicher Experten angesichts der Weltwirtschaftskrise hat diese Tendenz noch befördert. Schriftsteller werden wieder häufiger eingeladen, das Für und Wider politischer Vorschläge aus ihrer Sicht zu kommentieren und eigene Impulse zu geben. Sie sind keine Experten, die zahlenden Auftraggebern Gutachterwissen präsentieren, sondern Bürger, die das allgemeine Wohl im Auge haben. Die Spielräume für kritische Interventionen sind wieder etwas größer geworden. Als Thea Dorn, Krimi-Autorin, Fernsehmoderatorin und vermeintliche Hoffnungsträgerin eines erneuerten Feminismus ¹⁸ , 25 prominente Künstler und Schriftsteller, die den möglichst raschen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan forderten ¹⁹ , als Repräsentanten eines neuen »Vulgärpazifismus« ²⁰ diffamierte, gab man dem marxistischen Schriftsteller Dietmar Dath in der Zeit genügend Raum für eine kluge Replik. ²¹

    Was sich engagieren heute bedeutet

    Von 2007 bis 2010 habe ich Gespräche mit engagierten Schriftstellern und Liedschreibern geführt, die den Grundstock bilden für dieses Interviewbuch. ²² Die Gespräche geben unter anderem Auskunft darüber, wie diese Autoren heute zum Begriff des Engagements stehen. Für den österreichischen Romancier Robert Menasse hat sich die öffentliche Rolle des Schriftstellers nach dem Ende des Kalten Kriegs in einer Hinsicht deutlich geändert. Heute sei das Engagement nicht auf die Unterstützung kommunistischer oder sozialistischer Parteien beschränkt. Es sollte zur Grundausstattung jedes denkenden Menschen gehören. »Aber eben nicht in diesem parteipolitischen, sondern in einem umfassenderen Sinne, der nichts anderes bedeutet, als unausgesetzt das Defizit abzuschreiten zwischen gesellschaftlicher Realität und gesellschaftlichem Selbstbild.« ²³ Die oft gestellte Frage, warum ein Dichter im Hinblick auf gesellschaftliche und politische Fragen eine qualifiziertere Meinung haben soll als andere Staatsbürger, beantwortete Menasse wie folgt: »Die Frage ist vielmehr, ob es in der Welt der individuellen Interessen doch auch Individuen gibt, die zumindest theoretisch die Möglichkeiten haben, die Welt ohne Klassen-, Standes- und Schichtinteressen zu sehen, und die Chance, das, was sie tun und denken, öffentlich so zu kommunizieren, dass es über alle soziologischen Grenzen hinweg von allgemeinem Interesse ist. Der Einzige, der aufgrund seiner Lebens- und Produktionsbedingungen die Möglichkeit dazu hat, ist der Künstler, der freie Geist, der frei ist von allen Abhängigkeiten und Zwängen, wie sie für alle anderen Berufe gelten.« ²⁴

    Auch Menasses deutscher Kollege Dietmar Dath sieht eine einschneidende Änderung nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus. Zuvor hätten im Westen die Autoren von der Abteilung Dritter Weg die Debatten geprägt. »Dieses Kontingent von nachdenklichen Menschen war damals wichtig. Sie mussten irgendwie links sein, also das Gute im Menschen wollen, etwas gegen Franz Josef Strauß und bestimmte Unternehmer sagen, aber auf jeden Fall nicht für die bösen Russen sein. Dafür gab es eine Menge Geld, Aufmerksamkeit und Mikrofone, die man nicht den ganzen Tag vollbrüllen konnte mit: Fresst! Kauft! Arbeitet!« ²⁵ Von nichts anderem sei damals geredet worden »als von einem Dritten Weg zwischen dem bösen Ostblock und dem liberalen, aber kalten und unmenschlichen Westen. Diese kritischen Intellektuellen, das war die Abteilung Dritter Weg« ²⁶ . Dath misst dem kritischen Intellektuellen heute zwar keine Bedeutung mehr zu, die über den Exotenwert eines Experten für bestimmte Spezialfragen, zum Beispiel für den Kommunismus, hinausgeht. Doch auch diese »Rolle des Experten der Rote-Mützen-Sekte im ökumenischen Konzert der komischen Sekten« kann seiner Ansicht nach genutzt werden, um ein gutes Argument öffentlich wirksam zu platzieren: »Denn selbst da könnte einmal jemand sagen: Dieser Zeuge Jehovas da ist eigentlich ganz vernünftig«.

    Einige Schriftsteller reflektierten im Verlauf der Gespräche über die Wirkungschancen ihres Engagements. Denn diese sind abhängig von dem politischen Resonanzraum, den die Literatur historisch jeweils hat. »Wenn es eine soziale Widerstandsbewegung gibt, braucht diese auch Literatur, um sich zu verständigen, um andere zu gewinnen und um sich nach außen zu vermitteln. Das kann eine Literatur sein, die große gesellschaftliche Zusammenhänge in Romanen oder Essays sichtbar macht und Möglichkeiten des Widerstands beispielhaft zeigt. Oder eine aktuell eingreifende, wie bestimmte Brecht-Stücke oder

    -Gedichte

    oder solche Kampftexte, wie ich sie früher geschrieben habe«, sagt der Kölner Schriftsteller Erasmus Schöfer ²⁷ . Sein Berliner Kollege Michael Wildenhain sieht das ähnlich: »Brecht, insbesondere mit seinen Lehrstücken, ist nicht vorstellbar ohne die Situation Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre, ohne eine sehr starke kommunistische Partei und die entsprechenden Publikationsorgane, die sich um sie rankten. Es gab also einen Resonanzraum für die Literatur, aus dem das Echo herausschallte. Heiner Müller ist nicht vorstellbar ohne die DDR. Er wurde zwar auch sehr stark im Westen rezipiert, aber nur vor dem Hintergrund dieses real existierenden Resonanzraumes. Ich glaube, politische Literatur braucht immer diesen Resonanzraum. Wenn dieser schmal und dünn ist wie im Moment, dann wird es schwer.« ²⁸ Unter diesen Voraussetzungen liegt es für einen oppositionell orientierten Autor nahe, sich selbst als Archivar eines widerständigen Wissens zu definieren, das von späteren Generationen genutzt werden kann. Michael Wildenhain hofft daher, dass seine Bücher einen Flaschenpostcharakter entfalten können. Gerade Romane könnten zu zeitgeschichtlichen Dokumenten werden, die in literarischer Form eine Wahrhaftigkeit erreichen, die sonst nur schwer möglich sei. Erasmus Schöfer hält mit seinem Romanzyklus Die Kinder des Sysifos auf diese Weise das demokratische Erbe des Aufbruchs von 1968 bewusst.

    Der Schriftsteller Ilija Trojanow kann wie sein Kölner Kollege mit einer l’art pour l’art nichts anfangen. »Ich will andere Menschen erreichen, erfreuen, beglücken, bewegen und verändern. Wenn ich auch nur im Entferntesten daran zweifeln würde, dass das möglich ist, würde ich nicht schreiben bzw. nicht publizieren. […] Ich habe nur ein Talent. Ich kann ganz gut mit dem Wort umgehen. Das ist sozusagen meine einzige Waffe, und die benutze ich auch.« ²⁹ Juli Zeh wiederum mischt sich ein, weil sie die privilegierte Möglichkeit hat, in Zeitungen zu

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