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Weltliteratur im SPIEGEL - Band 2: Schriftstellerporträts der Sechzigerjahre: Ein SPIEGEL E-Book
Weltliteratur im SPIEGEL - Band 2: Schriftstellerporträts der Sechzigerjahre: Ein SPIEGEL E-Book
Weltliteratur im SPIEGEL - Band 2: Schriftstellerporträts der Sechzigerjahre: Ein SPIEGEL E-Book
eBook504 Seiten8 Stunden

Weltliteratur im SPIEGEL - Band 2: Schriftstellerporträts der Sechzigerjahre: Ein SPIEGEL E-Book

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Über dieses E-Book

Weltliteratur im SPIEGEL
Band 2: Schriftstellerporträts aus dem SPIEGEL der Jahre 1960 bis 1969, ausgewählt und eingeleitet von Martin Doerry. Mit Beiträgen über die Gruppe 47, Louis Aragon, Ingeborg Bachmann, Tania Blixen, Heinrich Böll, Günter Grass, die Gebrüder Grimm, Peter Handke, Gerhart Hauptmann, Ernest Hemingway, Georg Heym, Stefan Heym, Rolf Hochhuth, Jewgenij Jewtuschenko, Uwe Johnson, James Joyce, James Krüss, Karl May, Marquis de Sade, Nathalie Sarraute, Jean-Paul Sartre und William Shakespeare.
SpracheDeutsch
HerausgeberSPIEGEL-Verlag
Erscheinungsdatum1. Okt. 2015
ISBN9783877631539
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    Buchvorschau

    Weltliteratur im SPIEGEL - Band 2 - SPIEGEL-Verlag

    Inhaltsverzeichnis

    Vorwort

    Nathalie Sarraute und der „Nouveau Roman"

    Reizbewegungen

    Tania Blixen

    Faselgeschichten

    Gebrüder Grimm

    A bis Zypressenzweig

    Ernest Hemingway

    Wem die Stunde schlägt

    Ingeborg Bachmann

    Auf der Schaukel

    James Joyce

    Odysseus in Dublin

    Heinrich Böll

    Brot und Boden

    Georg Heym

    Füße im Kraut

    Gerhart Hauptmann

    Ungeheures durchgemacht

    Jewgenij Jewtuschenko

    Mensch, du hast Mut

    Karl May

    Karl der Deutsche

    Gruppe 47

    Richters Richtfest

    Rolf Hochhuth

    Ein Kampf mit Rom

    Günter Grass

    Zunge heraus

    Uwe Johnson

    Das einfache, schwierige Leben

    William Shakespeare

    Schwan oder nicht Schwan

    James Krüss

    Gruppe 64

    Stefan Heym

    Tag X

    Uwe Johnson

    Nicht Romeo, nicht Julia

    Gruppe 47

    Ach ja, da liest ja einer

    Marquis de Sade

    Die Natur, dieses Tier

    Peter Handke

    Zarte Seelen, trockene Texte

    Martin Walser

    Wortwörtliche Streichlerei

    Peter Handke

    Tot und sauber aufgeräumt

    Jean-Paul Sartre

    Sporn im Fleisch

    Peter Handke

    Angenehme Zerstörung

    Günter Grass

    Sowas durchmachen

    Günter Grass

    „Unser Grundübel ist der Idealismus"

    Louis Aragon

    Sohn des Wahnsinns

    Impressum

    Vorwort

    Weltliteratur im SPIEGEL

    Von Günter Grass bis Peter Handke: Schriftstellerporträts der Sechzigerjahre

    Kein Jahrzehnt hat die Bundesrepublik Deutschland mehr verändert als die Sechzigerjahre. Und kein Jahrzehnt hat auch den SPIEGEL mehr geprägt als diese Epoche. In seinen Anfängen ein politisch noch schwer zu verortendes Blatt, liberal, national und antikommunistisch zugleich, entwickelte sich das Magazin erst mit der SPIEGEL-Affäre zum Sprachrohr des linksliberalen Bürgertums. Der Angriff auf den SPIEGEL, 1962 von Kanzler Konrad Adenauer („Ein Abgrund von Landesverrat!") und seinem Verteidigungsminister Franz Josef Strauß mit großer Härte, aber erfolglos durchgeführt, hat das Magazin zur Ikone der Pressefreiheit in Deutschland gemacht, zum Hort des unbestechlichen, mutigen Journalismus schlechthin. 

    Doch bis dahin hatte die Redaktion einen weiten Weg zurückgelegt. Ihr gehörten in den Anfangsjahren neben vielen jungen Talenten auch ein paar Herren mit eher dunkler, tiefbrauner Vergangenheit an. Erst zu Beginn der 60er zog ein neuer liberaler und kritischer Geist in die Redaktionsflure des Hamburger Pressehauses ein. Die Ansprüche an politische Integrität und journalistische Qualität stiegen dementsprechend. Im Vorfeld der 68er Revolte wuchs die Bereitschaft zur intellektuell-politischen Auseinandersetzung, sowohl in der Redaktion als auch in der Gesellschaft allgemein. Die Literatur dieser Zeit dokumentierte den Wandel – und sie beförderte ihn. Ein Starautor der Nachkriegsliteratur, Heinrich Böll, wurde schon 1961 auf den SPIEGEL-Titel gehoben. „Der Kölner Heinrich Böll, so hieß es in der Titel-Geschichte, „ist nächst dem Kölner Konrad Adenauer der zweitwichtigste Beitrag des katholischen Rheinlands zu dem Bild, das sich die Welt von Deutschland macht. Ausführlich wird das Werk Bölls vorgestellt, seine Kritik am restaurativen Grundzug der Adenauer-Republik gelobt. Und doch wäre es nicht der SPIEGEL dieser Zeit gewesen, wenn die – damals noch ungenannten – Autoren nicht eine Menge Spott über den Erfolgsschriftsteller ausgegossen hätten. Böll, so das Urteil, verfalle immer wieder in „wahre Orgien penetrant-nahsichtiger Realistik, er neige zu einem „Grau-in-grau-Realismus, der geradezu nervtötend sei. Wer wissen will, warum der Nobelpreisträger Heinrich Böll heute kaum noch gelesen wird, muss eigentlich nur die Titelgeschichte des Jahres 1961 studieren. 

    Die politische Seite der Literatur rückt von nun an immer mehr in den Vordergrund. Der russische Schriftsteller Jewgenij Jewtuschenko, ein Idol der kritischen Jugend im Sowjetreich, wird mit einer Titelgeschichte verewigt; Rolf Hochhuth, der Papstkritiker und Autor politpropagandistischer Theaterstücke, schafft es mit seinem Drama „Der Stellvertreter ebenfalls aufs Cover. Auch hier allerdings bleiben die anonymen SPIEGEL-Autoren bei aller Begeisterung für den antiklerikalen Hochhuth bei der Wahrheit: Der gescholtene Papst Pius XII. werde in diesem Drama doch recht einseitig dargestellt: „Hochhuths Behauptung, dass ein Papst-Protest Hitlers Judenverfolgung aufgehalten hätte, bleibt unbeweisbare Hypothese. Literaturthemen zählen in den frühen 60ern zu den attraktivsten Titel-Motiven: Karl May, Shakespeare oder Gerhart Hauptmann werden in langen Porträts gewürdigt, immer mit einigem Respekt und doch auch zuweilen boshafter Kritik. Genüsslich wird etwa aus den Notizen Gerhart Hauptmanns zitiert, die sich in dessen Nachlass auf einem Exemplar des Thomas-Mann-Romans „Der Zauberberg fanden. Mann hatte eine Hauptfigur nach dem Vorbild Gerhart Hauptmanns gestaltet – was dem Porträtierten freilich gar nicht gefiel: „Diesem idiotischen Schwein soll ich gleichen?, notierte Hauptmann empört. Die Mischung aus nüchterner Analyse und unterhaltsamer Erzählung gehörte schon damals zum Markenzeichen des Nachrichtenmagazins. Ein gediegenes Porträt Tania Blixens, zum Beispiel, wurde 1960 mit einer kleinen Anekdote über ein Dinner angereichert, das die dänische Autorin in den USA mit den Kollegen Arthur Miller und Carson McCullers absolviert hatte: „Das Dinner verlief anders, als es die Arrangeure erwarteten, schrieb der SPIEGEL, Blixen habe sich nur für Millers Gattin Marylin Monroe interessiert und rauschend mit ihr unterhalten. „In ihrem ganzen Gespräch, so wird eine dänische Quelle zitiert, „kam das Wort Buch nicht mehr als höchstens einmal vor. Blixens Fazit: „Marilyn Monroe ist unwiderstehlich, aber „nicht so hübsch, wie ich gedacht hatte". 

    Hinzu kamen bald neue journalistische Formen, die Reportage, zum Beispiel, oder die von einem namhaften Autor gezeichnete Literaturkritik. Reinhard Baumgart rezensierte Uwe Johnson, Rolf Becker schrieb über „Das Einhorn von Martin Walser („verbalartistische Koitus-Koloraturen) und Hans Christoph Buch über Peter Handke. 

    Überhaupt: der junge Handke. Der aufgehende Stern am Literaturhimmel der Bundesrepublik wurde aufmerksam begleitet, zumeist ziemlich kritisch und doch mit einiger Anerkennung für seine geniale Selbstvermarktung. Einen Höhepunkt der Handke-Berichterstattung markiert die große Reportage über einen Ausflug der Gruppe 47 im Jahr 1966 ins amerikanische Princeton. SPIEGEL-Autor Erich Kuby war so verstört wie fasziniert vom Auftritt des Jung-Genies: „Dieser Mädchenjunge Peter, schrieb Kuby, „mit seinen zierlich über die Ohren gekämmten Haaren, mit seinem blauen Schirmmützchen, fast ist man geneigt zu sagen: mit seinem blauen Schirmmätzchen, seinen engen Höschen, seinem sanften Ostereigesicht, dieser langhaarige Schnösel Peter Handke also attackierte mit Verve die „läppische Art von Literatur", die seine älteren Kollegen in Princeton vorgetragen hätten. Kuby gab Handke Recht und konnte ihn doch kaum ertragen – auch das ein schönes Zeitdokument der Jahre vor der Studenten-Revolte. 

    Die allerdings fegte dann so ungefähr alles vom Tisch, was bis dahin im SPIEGEL literarisch gewürdigt wurde. Für einen historischen Moment wird die Literatur zur Politik (und manchmal auch umgekehrt). Titelgeschichten wurden nur noch über politisch aktive Autoren geschrieben, 1968 über den Helden der Pariser Studenten Jean-Paul Sartre, 1969 über den Willy-Brandt-Wahlhelfer Günter Grass. 

    Brandt gewann bekanntlich die Wahl. Eine neue Ära begann, erstmals bekam es der SPIEGEL mit einem sozialdemokratischen Kanzler zu tun – und mit Autoren, die schnell ihr Interesse an der Politik verloren. Aber das wäre schon das nächste Kapitel: Der SPIEGEL und die Schriftsteller der 70er Jahre. Viel Spaß bei der Lektüre!

    Martin Doerry

    SPIEGEL 18/1960

    NATHALIE SARRAUTE

    Reizbewegungen

    Nur je eine einzige Ja-Stimme entfiel bei der alljährlichen Pariser Literaturpreis-Kür im vergangenen Herbst auf die termingerecht angebotenen Avantgarde-Romane von Alain Robbe-Grillet „Dans le labyrinthe und Nathalie Sarraute „Le Planétarium. Obwohl eine Preiskrönung, die unweigerlich Auflage und Verkaufsziffer in die Höhe schnellen läßt, somit entfiel, zeigt sich schon heute, daß der negative Entscheid der konservativ eingestellten Preisrichter-Majorität vom französischen wie vom internationalen Publikum nicht akzeptiert worden ist.

    Im Gegenteil: Der von Robbe-Grillet und der Sarraute entfesselten Literatur-Revolution – einer radikalen, programmatischen Ummodelung der populärsten Literaturgattung Roman unter dem anfänglich verwendeten Slogan „Roman futur („Roman der Zukunft) –liefern heute sogar verbissene Verteidiger der herkömmlichen Roman-Schreibweise nur noch Rückzugsgefechte. Frankreichs jüngste literarische Richtung hat sich zu einer kompakten Schule ausgewachsen, die internationales Prestige gewinnen konnte und inzwischen zum gängigen Exportartikel geworden ist. Autoren und Kritiker verwenden denn auch für den „Roman futur, der über das Stadium, in dem er als Zukunftsmusik hätte abgetan werden können, längst hinausgelangt ist, das gemäßere Etikett „Nouveau Roman, zu deutsch: „Neuer Roman".

    Um seinen Initiator Robbe-Grillet (Jahrgang 1922) und die Senior-Pionierin Nathalie Sarraute (Jahrgang 1902) hat sich eine stattliche Gruppe von Romanschriftstellern geschart, die zumindest über das einig ist, was sie ablehnt. Immer mehr Bücher dieser Gruppe werden, wiewohl sie vom Herkömmlichen nicht immer zugunsten ihrer Verständlichkeit entschieden abweichen, ins Englische und Amerikanische, neuerdings auch ins Deutsche übersetzt.

    Allerdings war für westdeutsche Interessenten anfangs die Kenntnis der Stilprinzipien des französischen „Neuen Romans auf doktrinär-extreme Bücher von Alain Robbe-Grillet  eingeengt. Inzwischen kann der reise- und kongreßfreudige Bretone Robbe-Grillet, der dem „Nouveau Roman auch als Verleger – in seiner Eigenschaft als „Directeur littéraire der international berühmten „Editions de Minuit – die Bahn ebnet, sogar in Deutschland auf genauere Bekanntschaft mit den Methoden des „Neuen Romans rechnen. Schon bevor Robbe-Grillet unlängst auf eine „Werbetournee für die Literatur seiner Freunde ging, waren außer seinen Büchern erste Verdeutschungen der Prosa von Nathalie Sarraute, von Michel Butor, Claude Simon und – in der Schweiz – von Jean Cayrol herausgekommen*.

    Ankündigungen weiterer Übersetzungen aus der Schule des „Nouveau Roman lassen zudem bei westdeutschen Buchverlagen die Geneigtheit erkennen, sich zumindest aus Konkurrenzgründen künftig mit Renommierstücken der französischen Avantgarde auszustatten. So sicherte sich zum Beispiel der Hamburger Claassen Verlag die deutschen Rechte des Romans „Le Fiston („Das Söhnchen) von Robert Piniget. Obendrein beeilte sich der versierte Literatur-Manager Robbe-Grillet, einen Hinweis zu geben, der auf deutsche Literatur-Konsumenten dieser Jahre offenbar unwiderstehlich wirkt. Robbe-Grillet erläuterte, seine „Schule berufe sich auf das Vorbild der Roman-Revolutionäre Marcel Proust, James Joyce und Franz Kafka. Diese „Pioniere nämlich hätten „für ihre Zeit den Roman neuer Art geschaffen, wie jetzt er und seine Freunde „den Roman für unsere Zeit zu schreiben glaubten. Insoweit wollten er und seine Mitstreiter sich nicht als „Avantgarde, als Vorhut, betrachtet wissen, meinte Robbe-Grillet, sondern als „Arrièregarde, als Nachhut. Spezifizierte der Propaganda-Tourist des „Nouveau Roman: „Der Meister von Nathalie Sarraute ist Proust, der von Michel Butor ist Joyce, der meine ist Kafka."

    Mit Bedacht schränkte Robbe-Grillet allerdings das Nachfolge-Verhältnis der Autoren des „Nouveau Roman zu jenen „Pionieren und „Meistern auf den Begriff „schockartige Begegnung ein, wie sie im Leben jedes Schriftstellers vorkomme. Tatsächlich kann den Pariser Roman-Neuerern am allerwenigsten vorgeworfen werden, sie ahmten vorgeprägte literarische Muster und fremde Stile nach. Wohl aber wenden sie sich an ein Publikum, das seine Entzifferungskunst hinlänglich an Proust, Kafka und Joyce trainiert hat.

    Noch zu Lebzeiten von Joyce (der „Ulysses"-Dichter starb im Januar 1941) setzte Nathalie Sarraute, damals völlig ohne Rückhalt an Gleichgesinnten, dem literarischen Frankreich Prosastudien vor, deren Originalität Gefahr lief, von den Lesern als Zumutung empfunden zu werden:

    Überall scheinbar quollen sie hervor, ausgekrochen aus der lauen, etwas feuchten Luft, sie flossen langsam hin, als hätten die Mauern sie ausgeschwitzt oder die umgitterten Bäume, die Bänke, die schmutzigen Trottoirs, die Parks.

    In langen düsteren Trauben zogen sie sich zwischen den toten Fassaden der Häuser hin. Ab und zu bildeten sie vor den Auslagen der Kaufhäuser festere Knoten, die sich nicht bewegten und, wie leichte Stauungen, Strudel verursachten.

    Eine befremdende Stille, eine Art verzweifelter Genugtuung ging von ihnen aus. In der Weißwaren-Ausstellung betrachteten sie aufmerksam die Wäschestöße, welche Schneegebirge geschickt nachahmten, oder auch eine Puppe, deren Zähne in regelmäßigen Abständen aufleuchteten und erloschen, aufleuchteten, erloschen, aufleuchteten, erloschen – immer in gleichen Abständen wieder aufleuchteten und wieder erloschen.

    Sie sahen lange hin, ohne sich zu rühren, sie blieben da, hingegeben, vor den Schaufenstern, immer bis zum nächsten Mal den Augenblick des Weitergehns aufschiebend. Und die kleinen stillen Kinder, die ihnen die Hand gaben, warteten neben ihnen, müde vom Schauen, zerstreut, geduldig.

    Wie in diesem Einleitungskapitel der „Tropismen, die nach über zwanzig Jahren nun auch in Deutschland zu haben sind – der Band umfaßt 24 fortlaufend bezifferte Abschnitte ohne Überschrift von je zwei bis vier Buchseiten Länge –, hat die Pionier-Autorin des „Nouveau Roman auch sonst auf Personennamen, auf eine Story verzichtet. Statt dessen fixiert Nathalie Sarraute Momentaufnahmen aus verschiedenartigen Daseinsbereichen, belichtet bei Einzelexistenzen oder anonymen Gruppenwesen Regungen und Reaktionen, wie sie ähnlich von Naturwissenschaftlern als „Tropismen bestimmt zu werden pflegen. Die Physiologen verstehen darunter durch Außenreize wie Licht, Betastungen, Verletzungen oder chemische Einflüsse ausgelöste und gelenkte Eigenbewegungen von Pflanzen und Hohltieren, die sich gemäß der „Reizrichtung biegen und krümmen.

    Der Analogie zuliebe wählte Nathalie Sarraute für ihre sozusagen mikroskopischen Prosastudien den Buchtitel „Tropismen: Sie setzte eine Gleichartigkeit zwischen jenen unwillkürlichen „Reizbewegungen niederer Organismen voraus, mit denen die Pflanzen- und Tierphysiologen zu tun haben, und den gleich unwillkürlichen „Reizbewegungen", die das menschliche Innenleben steuern.

    Die Dichterin Sarraute versucht aus gleichsam wissenschaftlicher Sicht eine neue, exakte dichterische Perspektive zu gewinnen. Sie will „den Reichtum und die Komplexität des seelischen Lebens" (Sarraute) glaubhaft in Worte fassen, indem sie etwa detailliert beschreibt, was sich in einem Mann während eines Gesprächs mit seiner Frau abspielt:

    Sie saß zusammengekauert in einem Winkel des Fauteuils, sie wand sich, der Hals war gereckt, die Augen traten hervor: „Ja, ja, ja, ja", sagte sie, jeden Teil ihres Satzes mit einem Kopfschütteln billigend. Sie war fürchterlich, sanft und geistlos, ganz glatt, und nur ihre Augen traten hervor. Sie hatte irgend etwas Beängstigendes, Beunruhigendes, und ihre Sanftmut war eine Drohung.

    Er fühlte, daß man sie um jeden Preis wieder aufrichten, besänftigen mußte, aber daß es nur jemand mit übermenschlicher Kraft könnte, jemand, der den Mut hätte, ihr gegenüber zu bleiben, hier, bequem sitzend, behaglich ausgestreckt In einem anderen Fauteuil ... der ihren Blick auffinge und sich nicht abwendete, wenn sie sich krümmte ...

    Er begann zu sprechen, ohne Pause zu sprechen, gleichgültig von wem, gleichgültig wovon, begann sich schnell, schnell hinundherzubewegen (wie die Schlange vor der Musik? wie die Vögel vor der Boa? er wußte nicht mehr), ohne stillzuhalten, ohne eine Minute zu verlieren, schnell, schnell, solange es noch Zeit war, sie zurückzuhalten, Ihr zu schmeicheln. Sprechen, aber wovon sprechen? von wem? von sich, natürlich von sich, von den Seinen, von seinen Freunden, von seiner Familie, von ihren Geschichten, von ihren Fehlern, von ihren Geheimnissen, von allem, was man besser verbergen sollte – aber da es sie interessieren konnte, aber da es sie befriedigen konnte, durfte man nicht zögern, man mußte es ihr sagen, Ihr alles sagen, sich von allem entblößen, ihr alles geben, solange sie da sein würde, in einen Winkel des Fauteuils gekauert, ganz sanft, ganz geistlos, sich windend.

    Es stecke „eine Menge ironischer Weisheit hinter der subtilen Beschreibung, und die jeweilige Situation ist durchaus getroffen, gaben die „Bücher-Kommentare zu. Die „Süddeutsche Zeitung bescheinigte der Sarraute „einen Stil, wie man ihn hierzulande noch nicht gelesen hat, und resümierte, der „einzige Inhalt der „Tropismen sei „unser aller Inhaltslosigkeit".

    „Äußerlich geht es um nichts, innerlich um alles, konstatierte die „Frankfurter Allgemeine, rechnete indessen die Prosakünstlerin „nicht der radikalen Schule ..., sondern der zärtlichen zu und folgerte, somit greife „die Essenz ihrer (der Sarraute) Innerlichkeit nicht wie eine Säure ätzend an, sondern verbreite „Lebenserkenntnis von der skeptisch-gescheiten, zugleich aber auch selbstvertrauend-einsiedlerischen Sorte. Im „Tagesspiegel ermittelte der Berliner Literaturkritiker Günter Blöcker: „Die zierlich gedrechselten, scheinbar inhaltsarmen Texte erweisen sich als wirklichkeitshaltiger, als mancher kompakte Roman es ist."

    Gleichwohl blieb das Erstlingsbuch der 1902 in der Industriestadt Iwanowo nordöstlich von Moskau geborenen Nathalie Sarraute, als es 1939 vom Pariser Verlag Denoel einem noch nicht auf den „Nouveau Roman eingestellten Publikum unterbreitet wurde, ziemlich unbeachtet, bis die „Editions de Minuit unter der Ägide von Robbe-Grillet 1957 eine Neuausgabe veranstalteten, auf der auch die deutsche Ausgabe basiert.

    Nicht allein dieser Neuausgabe, sondern auch dem rund ein Jahrzehnt nach dem „Tropismes-Erstdruck erschienenen ersten Roman der Sarraute „Portrait d'un inconnu. („Bildnis eines Unbekannten") haftet allerdings die odiose Eigenheit an, heute nur mehr ein überholtes Anfangsstadium der Roman-Revolution quasi historisch zu beglaubigen.

    Für die Publicity dieses Anfangs-Romans – die nun, verspätet, von Frankreich aus auch auf die USA und England übergreift – hatte der Existentialismus-Autor Jean-Paul Sartre gesorgt: In einem Vorwort, das er dem „Portrait d'un inconnu mitgab, deklarierte Sartre das Buch als „Anti-Roman und attestierte der Autorin eine Technik des Erzählens, die „es ermöglicht, die menschliche Wirklichkeit in ihrer wahren Existenz zu treffen".

    Zumindest in Frankreich profitierte von solchem Pauschal-Lob auch das dritte der insgesamt fünf Bücher, die Nathalie Sarraute bisher vorzuweisen hat: der Roman „Martereau (1953), der nun ebenfalls in deutsch vorgelegt wurde. „Diese Romane sind, formulierte im Hinblick auf die „Martereau-Ausgabe die „Neue Zürcher Zeitung, „Verwirklichungen eines langjährigen Planes, einer weitherstammenden Vision und bringen es damit freilich auch zu einer Meisterschaft, die weit über der nervösen Vielschreiberei unserer Tage steht. In jedem Fall dürfen die Sarraute-Bücher als exemplarisch dafür gelten, um was es den Autoren des „Nouveau Roman geht.

    Spezifische Roman-Neuerung im Sarraute-Produkt Nr. 3, dem „Martereau, ist das Fehlen jenes „unpersönlichen Tons, in dem sich der Epiker herkömmlicherweise als über den Dingen stehender Chronist – vorweg oder nachträglich – beim Leser einführt. Der „Martereau-Leser muß sich ohne objektive Beschreibung in der Umwelt ihm fremder Existenzen zurechtfinden. Radikal ist er der Möglichkeit beraubt, die Hauptgestalt – die im Gegensatz zu den im Buchtitel genannten Eheleuten „Martereau keinen Namen hat – von außen zu betrachten. Dafür fordert ihm die „Martereau-Verfasserin das Kunststück ab, in die einzige Hauptfigur hineinzuschlüpfen und sie „von innen zu erkennen.

    Zu diesem Zweck ist der Roman „Martereau in der Ich-Form erzählt. Jedoch fußt Nathalie Sarraute keineswegs auf jenem altbewährten Ich -Roman-Typus, der in ihren Augen ein verkappter Er-Roman ist – in dem also der Autor der erzählenden Person viel mehr zudiktiert, als von dem vorgeblichen Ich-Erzähler zu erwarten ist, wie etwa in Grimmelshausens „Simplicissimus (1668) oder in Gottfried Kellers „Grünem Heinrich, dessen Urfassung (1854) erst später von der Er-Form in die Keller glaubwürdiger erscheinende Ich-Form (1879/80) transponiert wurde. Auch bei andersgearteten Beispielen des in der ersten Person erzählten Romans – etwa „Hunger (1890) von Knut Hamsun oder „Die Fessel (1913) von Colette – knüpft der Ich-Roman „Martereau nicht an; ebenso hat Nathalie Sarraute der Annahme vorgebeugt, sie projiziere sich selbst auf das „Ich" ihres Romans.

    In „Martereau ist das Roman-Ich ein Wesen, dem nach eigenem Bekenntnis das „Auge eines Besessenen, eines Verbohrten oder eines Visionärs (bescheidenen Ausmaßes) eignet. Das Ich-Wesen erblickt seine Mitmenschen und sein Milieu stets in mehr oder minder verzerrter Spiegelung. Es ist Medium für eigene und fremde Gemütsbewegungen, Gefühlserregungen, seelische Kompensationen und gedankliche Reflexionen. „Alle Gemälde seit dem Impressionismus seien, rechtfertigt die Sarraute ihre Methode, sozusagen „in der ersten Person gemalt.

    Was am erzählenden „Ich des Romans „Martereau zunächst am deutlichsten wahrnehmbar wird, ist eine überaus empfindliche Reizbarkeit gegenüber Launen, Emotionen, unterschwelligen Seelenregungen und kaschierenden Redensarten. Erst nachdem der Leser als vorherrschenden Wesenszug des anonymen Roman-Ich das fortwährende, willfährige Eingehen auf die Mitwelt herausgefunden hat, wird ihm klar, daß der Ich-Erzähler ein verhältnismäßig junger Sonderling mit kunstgewerblichen Ambitionen sein muß, der infolge einer – ungenannten – Krankheit auf die Gastfreundschaft und Hilfe ihm widerwärtiger, naher Verwandter angewiesen bleibt.

    Später stellt sich heraus, daß der Onkel dieses Roman-Ichs, ein robuster Geschäftsmann, dem kränklichen Neffen den Vertrieb selbstentworfener Sessel und Sofas ermöglicht, diese Unterstützung jedoch mit einer Geringschätzung verquickt, deren sich der junge Mann vergebens zu erwehren sucht. Realer Kern der banalen Romanfabel ist das Scheitern der entscheidenden Anstrengung, die der Neffe unternimmt, um den Onkel, dessen Frau und Tochter zu nötigen, ihn als vollwertig anzuerkennen.

    Das Drama solcher familiären Auseinandersetzungen vergegenwärtigt sich allein in einem das ganze Buch füllenden Selbstgespräch des Ich-Erzählers. In wörtlich zitierten, kürzeren oder längeren Unterhaltungen registriert der Ich-Erzähler, was seine Verwandten –und dann auch Monsieur und Madame Martereau – sowohl untereinander als auch mit ihm aushandeln. Daneben vermerkt der Erzähler den jeweiligen Stand des Hörigkeitsverhältnisses, das den Onkel an die Tante kettet, sowie das zeitweise aufkommende Zerwürfnis zwischen Onkel und Tante auf der einen und dem Ehepaar Martereau auf der anderen Seite.

    Vor allem aber protokolliert der Ich-Erzähler die psychischen Reflexe, die das Gebaren und der Redefluß seiner Verwandten und sein zeitweiliger Umgang mit dem Ehepaar Martereau in ihm selbst auslösen. Unermüdlich ist er darauf erpicht, die anderen zu durchschauen, sie als Heuchler zu entlarven und den wahren „Sinn ihrer Regungen zu entziffern. Denn das Zusammenleben von Onkel, Tante, Cousine und Ich-Erzähler funktioniert – was den familiären „Stimmungsspiegel betrifft – wie ein System von kommunizierenden (miteinander verbundenen) Röhren, von dem der Neffe und Cousin, mag er noch so sehr unter dem Egoismus der anderen drei stöhnen, nicht ausgeschlossen werden möchte.

    Ärger nämlich als das – keineswegs unverdiente – Mißtrauen seiner Verwandten quält ihn die Furcht, Onkel und Tante könnten ihn eines Tages als lästig empfinden und „abhängen". Er sucht daher Kontakt und Ausgleich auf der Plattform erprobter Allerweltsansichten und Gemeinplätze. Seine Angst, die Verwandten könnten an ihm als Unterhalter bei Tisch und als Stimmungs-Blitzableiter eines Tages kein Gefallen mehr finden, schürt seinen Eifer, sich nützlich zu machen. Er verdächtigt schließlich den Biedermann Martereau – den der Onkel als Strohmann bei einer Steuerverschleierung benutzt –der Gaunerei und flüstert dem Onkel ein, Martereau sei im Begriff, ihn zu übertölpeln. Der Onkel bewundert den Scharfsinn des Neffen, doch währt die Bewunderung nur kurze Zeit – die Verdächtigungen fallen in sich zusammen.

    Zwischen dem Ehepaar Martereau und den Verwandten sieht der Ich-Erzähler die alte Eintracht wiederhergestellt. Er wird von Madame und Monsieur Martereau mit Verachtung gestraft, gilt vor dem Kollektivgewissen der anderen als Verräter und wird nun erst recht unter die „Herrschaft des Gemeinplatzes geduckt. Der junge Mann läßt das auch „brav und scheu geschehen – ein Spielball der „Koexistenz widersprüchlicher Gefühle".

    Diese äußerlich bescheidenen Anstrengungen läßt die Sarraute vom Roman-Ich Seite für Seite heruntererzählen. Der Onkel heißt ausschließlich „Er, die Tante einfach „Sie, die Cousine ebenfalls nur „Sie. In der Mehrzahl bedeutet das Fürwort „Sie je nachdem Onkel und Tante, Tante und Cousine oder alle drei. Auch Monsieur und Madame Martereau figurieren gemeinsam als „Sie", sind jedoch dank des ihnen zugebilligten Familiennamens noch am leichtesten zu identifizieren.

    Die Namenlosigkeit soll das Durchschnittliche, Gewöhnliche, Gemeine der „von innen her getesteten Existenzen betonen, ihre Häufigkeit, die Austauschbarkeit ihrer Eigenschaften. Der Verzicht auf individuelle Benennung signalisiert, daß im Grunde alle Romanfiguren der „Herrschaft des Gemeinplatzes unterworfen sind –ausgenommen in einigem Grade Monsieur und Madame Martereau, als Außenstehende, mit denen die Familie nur zeitweise Verkehr pflegt.

    Bezeichnend ist ferner, daß der Buchtitel „Martereau", abweichend vom traditionellen Schema, die Hauptfigur des Romans verdeckt, statt auf sie hinzudeuten oder sie zu nominieren. Vollends symptomatisch für die Revolutions-Absicht ist, daß die Autorin Sarraute gegenseitiges Mißtrauen als Romanthema wählte.

    Es wäre allerdings abwegig, hierin eine persönliche Konfession der Autorin zu erblicken, wie sie sich etwa aus der „Menschlichen Komödie des womöglich prominentesten aller Roman-Autoren, Honoré de Balzac (1799-1850), noch heute ablesen läßt. Für den Romancier der „Comédie humaine ermittelte der Literarhistoriker Gaëtan Picon: „Der Mensch Balzac füllt sein Werk wie ein Gefäß – gleichwie das Wasser das Becken füllt, in das es rinnt."

    Dieser Subjektivismus des Roman-Genies Balzac ist indessen gerade das, was die Schule des französischen „Neuen Romans für nicht mehr nachahmbar erachtet. Ihre Autoren erstreben eine „objektive Romanliteratur. Die Lebensdaten der Schriftstellerin Nathalie Sarraute bieten denn auch keinerlei Anhalt für den Verdacht, sie könnten zu „Martereau" Romanstoff geliefert haben. Seit nahezu 35 Jahren ist Nathalie Sarraute, wohnhaft in der Nähe der Champs-Elysées, mit dem Pariser Juristen Raymond Sarraute verheiratet. Sie hat zwei verheiratete Töchter und einen Sohn. Sie besuchte das Lycée Fénelon, studierte in Paris, Oxford und Berlin Literatur- und Rechtswissenschaft und erwarb in beiden Disziplinen den akademischen Grad einer Lizentiatin.

    Dagegen spielt das Thema des gegenseitigen Mißtrauens eine wesentliche Rolle im theoretischen Programm der Roman-Revolutionäre. Zur gleichen Zeit (1956), in der Robbe-Grillet sein Manifest „Une Voie pour le roman futur („Freie Bahn für den Roman der Zukunft) veröffentlichte, begründete die Sarraute in ihrem Essayband „L'Ère du soupçon („Das Zeitalter des Mißtrauens) die konsequente Absage an die traditionelle Literatur: „Wir sind in das Zeitalter des Mißtrauens eingetreten."

    Mißtrauen trübe heutzutage zumal das ursprüngliche Vertrauensverhältnis zwischen Romanleser und -verfasser, unterstellt Nathalie Sarraute. Genährt werde das beiderseitige Mißtrauen dadurch, daß die „Gestalten, wie der alte Roman sie verstand (und wie sie mit dem ganzen alten Apparat in Szene gesetzt wurden), die moderne psychologische Realität nicht mehr einzuschließen vermögen".

    Der Leser neige dazu, auch Romangestalten fortschrittlicher Prägung – „um der Bequemlichkeit des alltäglichen Lebens willen und „als Folge einer langen Übung – nach konventioneller Romankonsumenten-Manier und eigenem Geschmack zu typisieren und mit ihnen „die in seinem Gedächtnis aufbewahrte riesige Sammlung von Wachsfiguren" zu vergrößern.

    Somit müsse der Autor eines „Nouveau Roman, wolle er seine Romanfiguren vom Leser nicht schematisch unter dessen literarische Reminiszenzen eingereiht sehen, radikal jenes „bequeme Verfahren aufgeben, das die Epiker bisher kultivierten. Es habe darin bestanden, daß der Romancier „sparsam Teilchen von sich selbst mit Wahrscheinlichkeit bekleidet und sie – natürlich ein bißchen auf gut Glück – auf seine Helden verteilt, von wo sie der Leser seinerseits durch eine Art Abschälarbeit wieder ablöst, um sie wie bei einem Lottospiel in die entsprechenden Kästchen zu setzen, die er in sich selbst vorfindet".

    Gegen derlei „Abschälarbeit will Nathalie Sarraute in ihrem neuesten – ebenfalls in diesem Jahr deutsch erscheinenden – Roman „Das Planetarium gründliche Maßregeln getroffen haben. Die Vorgänge kreisen um ein junges Ehepaar, um die Anschaffung von Möbeln und den Erwerb der Wohnung einer alleinstehenden Tante; der astronomische Titel ist rein metaphorisch.

    Mit dem Blick auf die Regeln des „Nouveau Roman lobte schon jetzt der Romancier- und Revolutions-Kollege Michel Butor: „Der Roman von Nathalie Sarraute hilft verstehen, wie es kommt, daß es noch immer Romane gibt.

    *Nathalie Sarraute: „Tropismen; Verlag Günther Neske, Pfullingen; 96 Seiten; 8,50 Mark. Nathalie Sarraute: „Martereau; Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln; 244 Seiten; 9,80 Mark. Claude Simon: „Der Wind; R. Piper Verlag, München; 308 Seiten; 15,80 Mark. Jean Cayrol: „Der Umzug; Verlag Otto Walter, Olten; 228 Seiten; 14,80 Mark. Jean Cayrol: „Die Fremdkörper"; Verlag Otto Walter, Olten; 200 Seiten; 14,80 Mark.

    SPIEGEL 32/1960

    TANIA BLIXEN

    Faselgeschichten

    Babette, exquisite Köchin in einem feudalen Restaurant, hat während der Kommune-Aufstände nach dem Französisch-Deutschen Krieg von 1870/71 ihr Herz für ihre Klasse entdeckt und den Kommunarden die Gewehre laden helfen, mit denen Babettes aristokratische Gäste – und nicht nur die – erschossen werden.

    Nach dem Ende des Aufstands entkommt Babette aus Paris, findet in Norwegen eine neue Stellung bei zwei alten Damen, die wenig Sinn für Kochkünste haben, und fühlt sich um die Bewunderung betrogen, die ihre frühere Kundschaft über delikat zubereitete Speisen äußerte. So beschwert sich Babette bei den Norwegerinnen: „Sie müssen verstehen, Mesdames, sagte sie schließlich, „diese Leute gehörten zu mir, es waren meine Leute. Sie waren dazu erzogen und geübt, mit größerem Aufwand (zu speisen), als Sie, meine lieben Damen, auch nur begreifen können.

    Babettes paradoxe Klage über den Verlust ihrer alten Bewunderer, die sie hatte umbringen helfen – der tragikomische Seelenkonflikt einer Köchin aus Leidenschaft und Revolutionärin aus Standesbewußtsein –, ist repräsentativ für die Art, in der die 75jährige dänische Autorin Tania Blixen – vollständig: Karen Baronesse Blixen-Finecke – in ihren Geschichten Probleme und Schicksale anzulegen pflegt.

    In einem beinahe 30jährigen Schriftstellerleben hatte ihr diese Art des Erzählens überall Erfolg eingetragen, nur nicht in Deutschland. Erst das neueste Buch der Blixen, das kürzlich in deutscher Sprache erschienen ist und in dem auch Babettes Geschichte erzählt wird – die „Schicksalsanekdoten* – scheint Wandel zu schaffen. Die „Schicksalsanekdoten fanden weit über den kleinen Kreis stereotyper Blixen-Verehrer hinaus auch in Deutschland Widerhall und hoben die Autorin in der Bundesrepublik zum erstenmal in die Sphäre der Erfolgsautoren; ihr Buch tauchte sogar in der Bestseller-Liste der Hamburger „Zeit" auf.

    Bis zu den „Schicksalsanekdoten" war Tania Blixen die einzige skandinavische Autorin von Weltruf, die weder durch deutsche Vermittlung ihren Weg zur Weltliteratur machte noch in Deutschland anerkannt und gelesen wurde. Auch Hemingways oft zitierter Ausspruch, daß Tania Blixen den Literatur-Nobelpreis eher verdient habe als er, hatte die Zurückhaltung der deutschen Leser gegenüber der Dänin nicht ändern können.

    In den Vereinigten Staaten dagegen hatte sich die dänische Baronin Blixen gleich mit ihrem ersten Buch, „Seven Gothic Tales (1934), durchgesetzt, und als Tania Blixen im Winter 1958/59 nach Amerika fuhr, wurde ihr Besuch zu einer Art öffentlichem Ereignis: „Es waren nicht nur meine Bücher, die sie gelesen hatten, sondern viele kannten mich vom Aussehen her. Ich konnte im Theater oder auf der Straße nicht gehen, ohne angesprochen zu werden. Kann einem Schriftsteller etwas Hübscheres widerfahren? Es war ein merkwürdiges Erlebnis.

    Höhepunkt des öffentlichen Triumphs war damals ein festliches Diner, bei dem die europäische Aristokratin mit der kräftigen Nase neben den amerikanischen Dramatiker Arthur Miller („Hexenjagd) und dessen Stargattin Marilyn Monroe gesetzt wurde. Um die Differenz zwischen den beiden gegensätzlichen Frauen zu mildern, war die amerikanische Schriftstellerin Carson McCullers („Das Herz ist ein einsamer Jäger), berühmt dafür, ebenso handfest schreiben wie trinken zu können, hinzugezogen worden.

    Doch das Diner verlief anders, als die Arrangeure erwarteten: Zwischen den drei Dichtern fand nur ein kurzer gegenseitiger Austausch von Lob für die eigenen und Tadel für die Werke anderer Schriftsteller statt; dann widmete Tania Blixen sich ausschließlich Marilyn Monroe; die beiden Frauen schieden als Freundinnen.

    Konstatierte der Berichterstatter der „Berlingske Tidende: „In ihrem ganzen Gespräch kam das Wort Buch nicht mehr als höchstens einmal vor. Tania Blixen: „Wir hatten eine riesig vergnügliche Unterhaltung über Jugend, Alter und Teenager. Und: „Marilyn Monroe ist ganz unwiderstehlich. Sie ist nicht so hübsch, wie ich gedacht hatte ...

    Dem englischen Sprachbereich, der ihr am Ende für Schriftsteller seltene Publicity-Triumphe bereitete, hatte sich Karen Blixen von Anfang an zugewandt. Karen, am 17. April 1885 als Tochter des Offiziers und Gutsbesitzers Wilhelm Dinesen in Rungsted auf Seeland geboren und auf dem väterlichen Gut erzogen, hatte kurz vor dem ersten Weltkrieg den Baron Blixen-Finecke geheiratet und war mit ihm nach Britisch-Ostafrika (Kenia) ausgewandert. Fast zwanzig Jahre lang bewirtschaftete sie dort eine Kaffeefarm, zwei Drittel der Zeit allein, da sie sich kurz nach dem Ersten Weltkrieg von ihrem Mann trennte, der wieder nach Europa zurückfuhr.

    Als infolge der Weltwirtschaftskrise der Kaffeepreis zu Beginn der dreißiger Jahre ins Bodenlose fiel, zog sich Tania Blixen von Afrika auf das Stammgut der Familie nach Dänemark zurück. Dort begann sie, „um mich abzulenken, zu schreiben, wie ich es in der Regenzeit auch schon in Kenia hie und da getan hatte ... Was blieb mir denn, ich hatte nichts gelernt und außerdem kein Geld".

    Sie schrieb sieben Geschichten auf und schickte das Manuskript nicht an einen dänischen, sondern an einen englischen Verleger. Mit gutem Grund: Die Geschichten waren nicht dänisch, sondern englisch geschrieben. Als Tania Blixen Jahre später von einem dänischen Journalisten gefragt wurde, warum sie ihre Erzählungen in englischer Sprache niedergeschrieben habe, antwortete sie: „In der ganzen dänischen Literatur gibt es nicht ein Buch dieser Art, auf englisch gibt es viele, und sie werden herb gelesen, die Engländer lieben so ein Faselbuch."

    Mit „Faselbuch meinte sie ihren Erzählungsband „Gothic Tales. Die Blixen: „Ich weiß kein anderes Wort für Bücher, in denen alles mögliche Phantastische passierte."

    Bereits in diesem Band, dem Faselbuch „Gothic Tales", ist das Thema zu erkennen, um das es der Blixen in allen ihren Erzählungen geht: die unpathetische, zuweilen humoristische, zuweilen etwas feierliche Erläuterung der Besonderheit jedes menschlichen Schicksals, dem keiner entgehe. Sich diesem Schicksal stellen, ohne die Contenance zu verlieren, ist höchste Tugend, vis-à-vis diesem Schicksal die Beherrschung verlieren oder ihm gar zu entkommen versuchen, ist schlimmstes Vergehen.

    Tania Blixens Welt ist ein schönes Jammertal: es anständig, korrekt, ja edelmännisch hinter sich zu bringen, die einzige Aufgabe. Hohe Pflicht: zunächst und zuallererst Haltung bewahren.

    Dieser Pflichtübung hat die Blixen gleich in einer ihrer ersten Erzählungen, „Die Sintflut von Norderney", eine Gruppe von Leuten konfrontiert. Durch eine Sturmflut sind Badegäste auf dem Heuboden eines Hauses vom Meer eingeschlossen. In ihrer prekären Lage – sie werden nicht gerettet – stilisieren die Eingeschlossenen ihren letzten Auftritt in dieser Welt zu einer korrekten gesellschaftlichen Zusammenkunft.

    „Madame, wendet sich ein Gast an ein Fräulein Malin, „mir ist von Ihnen erzählt worden, daß sich jedermann bei Ihren Empfängen wohl fühle und auch jeder voll Eifer bestrebt sei, sich von der besten Seite zu zeigen. Das möchten wir auch heute nacht so halten. Ich bitte Sie, hier die Hausfrauenpflichten zu übernehmen und in diesem Heubarn Ihre Künste zu üben!

    Diese höfliche Bitte erfüllt das Fräulein Malin denn auch, und zwar „vollendet gut; sie „bewirtet ihre Gäste mit dem seltenen Luxus der Verlassenheit, Finsternis und Gefahr, sie hatte überdies den Tod selbst zu ihrer Bereitschaft stehen als die große Überraschung der Nacht, die ihr keine andere Gastgeberin streitig machen konnte. Das Motto: „Frei lebt, wer sterben kann."

    Solche Maximen werden von der Blixen stets ohne pädagogische Attitüde und erst recht ohne Anspruch auf poetisches Sendungsbewußtsein vorgetragen. Die Dänin Blixen wehrt sich dagegen, eine „professionelle Schriftstellerin genannt zu werden. „Schriftsteller – was ist das? Ist das eine Stellung? Kann man sagen: Nun will ich ein Buch schreiben, es soll von dem und dem handeln? ... Ich denke doch nicht. Ich bewundere Emile Zola, der sich täglich hinsetzen und vier Seiten schreiben konnte – aber ich verstehe ihn nicht. Ein anderer skandinavischer Autor, Knut Hamsun, hatte seiner Frau Marie eingestanden: „Die Schriftstellerei verachte ich zutiefst." Tania Blixen formulierte etwas Ähnliches. Sie „kann nicht sagen, wie man heutzutage einen Nutzen im Schreiben erkennen könnte. Selbstverständlich ist es für einen

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