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Martin Walser - Chronist der deutschen Seele: Ein SPIEGEL E-Book
Martin Walser - Chronist der deutschen Seele: Ein SPIEGEL E-Book
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eBook301 Seiten3 Stunden

Martin Walser - Chronist der deutschen Seele: Ein SPIEGEL E-Book

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Über dieses E-Book

Ein Meister der Sprache, ein politischer Kopf, ein gesellschaftlicher Seismograf: Martin Walser ist der letzte deutsche Großschriftsteller. In seinem langen Schriftstellerleben hat Martin Walser ausgekostet, was auszukosten war, den Ruhm und die Feindschaft, die politische Grobheit und die zarte Lyrik.
Im November 1957 fand Martin Walser erstmals im SPIEGEL Erwähnung. Auf schmalen 25 Zeilen war eine kurze, wohlwollende Besprechung des Romans "Ehen in Philippsburg" zu lesen, dem Autor wurde eine "stellenweise auch mutig bebilderte Sprache" attestiert. So begann die mehr als ein halbes Jahrhundert währende Beziehung zwischen dem SPIEGEL und dem Schriftsteller, der Millionen Menschen mit seinen Romanen und Schriften begeistert – nicht nur als Dichter, auch als Denker und Chronist der deutschen Seele.
In diesem E-Book enthalten sind aktuelle Texte über den "wichtigsten" deutschen Intellektuellen ("Cicero"), sowie eine Auswahl von Rezensionen seiner Werke, politische Schriften, Essays und Gespräche, die im SPIEGEL erschienen sind.
SpracheDeutsch
HerausgeberSPIEGEL-Verlag
Erscheinungsdatum15. Feb. 2018
ISBN9783877631782
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    Buchvorschau

    Martin Walser - Chronist der deutschen Seele - SPIEGEL-Verlag

    Inhaltsverzeichnis


    Einführung

    Vorwort

    „Was für ein Begleiter"

    SPIEGEL-Autor Volker Hage über seine Begegnungen mit Martin Walser

    Von Wasserburg aus

    Martin Walser wuchs in einem kleinen Ort am Bodensee auf

    Im Malhaus

    Ein Museum für den Dichter


    Der Literat

    Glänzende Skrupel

    Martin Walser über Jean-Paul Sartres „Die Wörter"

    Wortwörtliche Streichlerei

    „Das Einhorn"

    Kristlein am Kreuz

    „Der Sturz"

    Überlebensspiel

    „Ein fliehendes Pferd"

    Bleiben nur die Russen

    „Seelenarbeit"

    Gott oder Gottlieb?

    „Das Schwanenhaus"

    Eckermann

    Hellmuth Karasek über Walsers Goethe in Wien

    Muttersöhnchen

    „Die Verteidigung der Kindheit"

    „Oben ist oben"

    Interview mit Martin Walser über „Finks Krieg"

    Meßmer auf Reisen

    Walsers eigenwillige Selbstbeobachtungen


    Die Politik

    Heimatliebe

    Walser und die DKP

    Fäulnis und Verfall

    Walser und Heinrich Böll über den Vietnamkrieg

    „Warum wählen wir noch?"

    Walser über Parteien, Staat und Wirtschaft

    Vietnam

    Die Debatte im Bundestag

    Treten Sie zurück!

    Brief an DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker

    Ohne Triumph

    SPIEGEL-Gespräch mit Walser über die Deutsche Einheit


    Der Essayist

    Deutsche Sorgen

    Eine gestörte Identität

    „Goethe retten"

    Martin Walser über Victor Klemperer

    Vergangenheit

    Rudolf Augstein und Martin Walser im Gespräch

    Friendenspreis

    Eine Rede mit Folgen

    Großdebatte

    Streit über die Paulskirchenrede

    Tod eines Kritikers

    Antisemitismus-Vorwürfe gegen Walser

    Goethes Leidenschaft

    „Ein liebender Mann"

    „Nicht ohne Liebe"

    Über das Glück, Vater von Töchtern zu sein

    „Vorwurf ist das falsche Wort"

    Martin Walser und Jakob Augstein sprechen über ihre schwierige Vater-Sohn-Beziehung

    „Einsam ist man sowieso"

    SPIEGEL-Gespräch über Literatur nach Auschwitz

    Letzte Lockerung

    „Statt etwas oder Der letzte Rank"

    Martin Walser

    Danksagung an die deutsche Sprache


    Anhang

    Impressum

    Einführung

    Im November 1957 fand Martin Walser erstmals im SPIEGEL Erwähnung. Auf schmalen 25 Zeilen war eine kurze, wohlwollende Besprechung des Romans „Ehen in Philippsburg zu lesen, dem Autor wurde eine „stellenweise auch mutig bebilderte Sprache attestiert. So begann die mehr als ein halbes Jahrhundert währende Beziehung zwischen dem SPIEGEL und dem Großschriftsteller, der Millionen Menschen mit seinen Romanen und Schriften begeistert – nicht nur als Dichter, auch als Denker und Chronist der deutschen Seele.  

    In diesem E-Book enthalten sind aktuelle Texte über den „wichtigsten deutschen Intellektuellen („Cicero), sowie eine Auswahl von Rezensionen seiner Werke, politische Schriften, Essays und Gespräche, die im SPIEGEL erschienen sind.   

    Fehlen darf natürlich nicht Walsers Rede, die er 1998 als Friedenspreisträger in der Frankfurter Paulskirche hielt und die in Deutschland eine wuchtige Diskussion über den Umgang mit der NS-Vergangenheit auslöste. Das Echo klingt bis heute nach: In einer aktuellen Anmerkung wehrt sich Walser gegen die Einvernahme von inzwischen überholten Passagen seiner Rede durch die rechtskonservative AfD.   

    Angriffslustig und melancholisch hat SPIEGEL-Autor Volker Hage den Schriftsteller immer erlebt. Walser sei ein „in sich hineinlauschender Zeitgenosse und stets aufs Neue überraschender Geist". Als Literaturredakteur hat Hage den Dichter vom Bodensee jahrzehntelang begleitet. Nun gibt er bislang unbekannte, auch persönliche Einblicke in diese Zeit.   

    Martin Walser selbst liefert ebenfalls einen Text, in dem er sich bei dem Werkzeug bedankt, das er so virtuos, so spielerisch und so kraftvoll zu nutzen weiß: Es ist eine „Danksagung an die Sprache, die deutsche".

    Hans-Ulrich Stoldt

    Einführung

    SPIEGEL BIOGRAFIE 1/2017

    „Was für ein Begleiter"

    Ein Redakteursleben mit Martin Walser. Von Volker Hage

    Es begann mit einem Leserbrief. Er schickte ihn im Februar 1964 von Friedrichshafen nach Hamburg. Das Thema: Marcel Reich-Ranicki, der zuvor im SPIEGEL ordentlich gerupft worden war. Das gefiel dem Schriftsteller, vor allem, dass da endlich einmal ein Kritiker kritisiert werde.

    Martin Walser konnte damals nicht ahnen, dass er mit Reich-Ranicki zeitlebens zu tun haben würde, selten im Guten, häufig verbunden mit Verdruss und Verärgerung, ja Kränkung. Der Kritiker wurde zu seinem größten Widerpart.

    Noch jetzt, in Walsers soeben publiziertem Prosaband „Statt etwas oder Der letzte Rank, taucht der 2013 gestorbene Reich-Ranicki kaum verhüllt als „exemplarischer Feind auf: „Er tadelte, kritisierte und beschimpfte immer im Namen und Interesse des Großenganzen. Nicht ohne Folgen für die Psyche des so Kritisierten: „Woher sonst sollte die Tag und Nacht erlebte, die immerwährende Selbstverneinung dann herrühren, wenn nicht von ihm?

    Mit Mitte dreißig, in seinem Leserbrief, war der emporstrebende Schriftsteller kämpferischer gestimmt. „Der blinde, einsträngige Indikativ ist sein bevorzugter Modus, schrieb er dem SPIEGEL: „Urteilen, aburteilen und ein bisschen hinrichten.

    Das war Walsers erster Beitrag. Ein Jahr danach, im März 1965, trat er dann selbst als Kritiker auf. Über zwei SPIEGEL-Seiten setzte er sich lobend, keineswegs unkritisch mit einem literarischen Werk von Jean-Paul Sartre auseinander („Die Wörter"). Fortan war er regelmäßig Gast, zumeist als Zulieferer von Statements und Meinungsbeiträgen.

    Über Rudolf Augstein, den er schon 1947 kannte und mit dem er später befreundet war, äußerte Walser sich erstmals 1987 im SPIEGEL. Den „Erfinder eines Hamburger Nachrichten-Magazins behandelte er nicht ohne Spott („Immer wieder kriegt er es hin, dass seine Sätze strahlen wie aus dem allerbesten Latein übersetzt), aber doch voller Bewunderung: „Er hat sich mit keiner Seite, keiner Partei, keiner Machtclique dauerhaft befreundet."

    Walser war, als er seinen ersten Leserbrief für den SPIEGEL schrieb, vom Kulturressort längst wahrgenommen worden. Sein Roman „Halbzeit wurde 1960 in einer Rezension vorgestellt, deren Tenor schon die Überschrift signalisierte: „Unentschieden. Als Kronzeuge wurde der „FAZ-Literaturchef Friedrich Sieburg zitiert, der Walser zwar „ein Genie der deutschen Sprache genannt, aber gleichzeitig über den umfänglichen Roman das originelle Urteil gesprochen hatte: „Das Ganze kommt nicht recht vom Fleck, und warum das Buch überhaupt aufhört, habe ich immer noch nicht begriffen."

    Von dieser Ambivalenz blieben auch spätere SPIEGEL-Kritiken geprägt. Nahezu Jahr für Jahr galt es, ein neues Theaterstück oder einen neuen Roman des Schriftstellers vom Bodensee vorzustellen. Immer wieder wurde dabei Walsers Sprachkraft bewundert und das künstlerische Ergebnis bemängelt. Walsers auf „Halbzeit folgender Roman „Das Einhorn, hieß es 1966, sei „so eloquent, dass es kaum noch auszuhalten ist. Der Roman selbst hält es nicht aus." Walser war mittlerweile zur Chefsache geworden, über ihn urteilten (von gelegentlichen Gastbeiträgern wie Peter Wapnewski oder Reinhard Baumgart abgesehen) abwechselnd die Redakteure Rolf Becker und Hellmuth Karasek.

    1957 Ehen in Philippsburg ist ein Roman über die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft.

    Beide waren es auch, die im Oktober 1990 an den Bodensee reisten, um das erste SPIEGEL-Gespräch mit dem Schriftsteller zu führen. Thema: die deutsche Einheit. Die Begegnung verlief nicht ohne Komplikationen. Am Tag darauf nämlich rief Walser in der Redaktion an und zog das Interview zurück. Er habe nur Unsinn geredet, war seine Begründung. Immerhin bestieg er in Friedrichshafen das nächste Flugzeug und kam nach Hamburg, wo das Gespräch noch einmal geführt wurde, das unbedingt in der nächsten Nummer erscheinen sollte. Mit der neuen Fassung sei er zwar auch nicht zufrieden gewesen, erzählte Walser später einmal, „aber etwas zufriedener".

    Tatsächlich war es ein gründliches, ein grundsätzliches Gespräch über Deutschland und die Rolle der deutschen Intellektuellen – die standen, wie Günter Grass, in jenen Tagen zu einem großen Teil der Wiedervereinigung skeptisch gegenüber. Walser dagegen erklärte, „dass für mich die Entwicklung, die jetzt zur Einigung geführt hat, das schönste Politische ist, was ich in meinem Leben erfahren habe. Gefragt, wie sich das denn mit seiner früheren Annäherung an die DKP vertrage, wiegelte er ab: „Meine engsten Freunde waren da drin, ich bin auf diversen DKP-Kulturkongressen gewesen. Das sollte heißen: Mehr war da nicht.

    Sich zur Politik zu äußern war gerade für jene Nachkriegsautoren, die wie Walser, Günter Grass oder Siegfried Lenz in sehr jungen Jahren noch am Krieg teilgenommen hatten, ein höchst ambivalentes Unterfangen. Einerseits drängte es sie alle mit gutem Grund dazu, sich in der noch jungen Bundesrepublik aktiv an den politischen Debatten zu beteiligen, andererseits sahen sie sich irgendwann in die Rolle von Intellektuellen gedrängt, die von den Medien ständig zur Stellungnahme aufgefordert wurden.

    „Ich kenne keinen Schriftsteller, der lieber nach seinen politischen Auftritten beurteilt werden möchte als nach seinen Romanen, sagte er fünf Jahre später zu mir, als ich für den SPIEGEL mit ihm sprach. „Die Forderung, dass bei einem Schriftsteller die Weltveränderungsbotschaft dabei sein müsse, ist eher eine Art von Gesellschaftsspiel.

    Dieses Treffen im August 1995 verdankte sich weniger einem aktuellen Anlass als einer alten Verabredung zwischen uns. Mein erster Besuch in Nußdorf am Bodensee, die erste persönliche Begegnung mit Walser, hatte genau zehn Jahre zuvor stattgefunden, damals noch für das „FAZ-Magazin", mehr oder weniger zufällig an Goethes Geburtstag, am 28. August. Es war ein angenehmer und ergiebiger Besuch gewesen, offenbar für beide Seiten. Jedenfalls hatten wir uns in freundlicher Abschiedsstimmung vorgenommen, fortan alle zehn Jahre genau an diesem Tag ein Gespräch zu führen. So kam es denn auch, zumindest dieses eine Mal.

    Ich hatte lange einen großen Bogen um ihn gemacht, auch als Leser. Als er 1964 seinen Brief an den SPIEGEL schickte, war ich 14. Immerhin las ich gegen Ende der Schulzeit „Ehen in Philippsburg", seinen ersten Roman, nicht für den Deutschunterricht, das wäre noch undenkbar gewesen, allein schon einer drastischen Abtreibungsszene wegen, sondern weil der Autor längst einen Namen hatte.

    Als Redakteur hatte ich zum ersten Mal 1980 mit Walser zu tun. Damals war in der „FAZ eine Serie geplant, die den Arbeitstitel „Literarische Fensterblicke trug. Schriftsteller sollten gebeten werden, die unmittelbare Umgebung ihrer Arbeitsstelle zu beschreiben. Die Serie kam allerdings nie zustande. Walser stand nicht allein mit seiner Absage, die freilich besonders feinsinnig formuliert war: „Entschuldigen Sie bitte, wenn ich meine Straße nicht ausliefere. Es handelt sich um eine von wenigen bewohnte Straße, sie ist, glaube ich, verletzlich."

    1966 Das Einhorn ist der zweite Teil einer Trilogie, ein Roman über die Liebe und fehlende Sprache dafür.

    Als junger Literaturredakteur durfte ich 1976 aus nächster Nähe erleben, wie der „FAZ-Literaturchef Reich-Ranicki einen Totalverriss von Walsers Roman „Jenseits der Liebe ins Blatt hob. Die Rezension begann mit den Worten: „Ein belangloser, ein schlechter, ein miserabler Roman. Es lohnt sich nicht, auch nur ein Kapitel, auch nur eine einzige Seite dieses Buches zu lesen." Das war dermaßen überspitzt formuliert, dass die wenigen Kollegen in der Redaktion, denen das Manuskript vorher zugänglich war, dringend vom Druck abrieten.

    Reich-Ranicki war natürlich nicht zu beirren. Vielmehr ließ er uns wissen, im Grunde gehe es ihm gar nicht um den Roman, sondern um die politische Haltung des Autors, um dessen Flirt mit der DKP, der zu nichts Gutem führen könne. Er kenne sich schließlich mit kommunistischen Gewaltsystemen aus. „Es geht mir um das Verhältnis der Intellektuellen zur Bundesrepublik, erläuterte er in kleiner Runde. „Ich habe kein Interesse daran, dass noch einmal eine Demokratie untergeht, weil sich keiner für sie eingesetzt hat.

    Für den Romancier war die Wucht dieser Kritikerschelte ein Trauma, das bis in die Gegenwart andauert, auch wenn Walser sich heute zu einem abgeklärten Verhältnis durchzuringen versucht. „Wer immer sich einbildet, mein Feind sein zu müssen, er darf zur Kenntnis nehmen, dass ich nicht mehr einholbar bin", heißt es da in seinem neuesten Werk. Er habe sich in jahrzehntelanger Anstrengung aus der Erreichbarkeit entfernt.

    Als ich 1986 von der „FAZ zur „Zeit wechselte, dort für den Literaturteil zuständig, ging einer meiner ersten Briefe an den Bodensee, mit der Bitte um Mitarbeit. Zurück kam eine Gratulation und eine freundliche Absage im schönsten Walser-Ton: „Wenn es sich machen lässt, möchte ich, ohne Rezensionen zu schreiben, durchkommen. Und es folgte noch ein typischer Satz: „Verlangen Sie lieber von mir, ich soll etwa beschreiben, was ein aus Versehen auf einer Müllkippe gelandeter, noch ganz brauchbarer Füllfederhalter denkt, wenn er im blauen Himmel über sich Wildenten fortfliegen sieht ... Solch poetische Post lohnt allein jede Anfrage.

    Später, Anfang 1988, war auf einer Postkarte Walsers von einem geplanten Essay die Rede, der den Titel „Das deutsche Karussell tragen sollte. Das Beste an der Mitteilung: „Ein Aufsatz, den ich, wenn Sie wollen, ausarbeite. Das war nun keine Frage: Wir wollten.

    Einige Wochen später kam schriftlich die Abwandlung des Plans: Er habe nun gerade eine Einladung zu der Vortragsreihe „Reden über unser Land in den Münchner Kammerspielen erhalten, schrieb Walser. „Und diesmal probier ich's, also ist das Deutschland-Ding erst im Winter '88/'89 zu veröffentlichen.

    Es war Mitte Oktober, als mich abends daheim ein Telegramm von ihm erreichte: „Münchner Rede umständehalber jetzt nicht zu drucken. An einem der folgenden Tage dann ein Brief: „Vielleicht wird mein Hin- und Herzögern ein bisschen verständlicher, wenn Sie den Gegenstand, der es bewirkt, kennen. Und als Ergänzung: „Nur Ihnen geschickt, bitte." Beigelegt war das Manuskript der Rede.

    1978 Ein fliehendes Pferd ist die Geschichte zweier Paare mittleren Alters, die sich am Bodensee treffen.

    Da war nun Überzeugungsarbeit angesagt. Dass Walser sich mit seinen Gedanken zur deutschen Teilung, mit deren Endgültigkeit er sich nicht abfinden wollte, wieder einmal reichlich Empörung und Ärger einhandeln würde, war keine Frage. Schließlich hatte er schon gut zehn Jahre zuvor, im August 1977, wegen einer Rede in Bergen-Enkheim massiv Gegenwind bekommen, wegen seines dort geäußerten Wunsches, „die Wunde namens Deutschland offen zu halten: „Wir dürfen, sage ich vor Kühnheit zitternd, die BRD so wenig anerkennen wie die DDR. Vor Kühnheit zitternd – diese Formel sollte Walser Jahre später in seiner berühmten Paulskirchenrede noch einmal aufgreifen.

    In der Münchner Rede nun warb er erneut dafür, die Teilung Deutschlands nicht auf ewig als Strafe für deutsche Schandtaten im Zweiten Weltkrieg zu betrachten. Es war klar: Wieder fanden sich Formulierungen, die – isoliert genommen und Walsers vieles in der Schwebe lassenden Duktus entkleidet – gegen ihn gerichtet werden würden. Also versuchte ich ihn am Telefon davon zu überzeugen, dass nur ein vollständiger Abdruck vor böswilligen Interpretationen schützen könne. Es wäre dann, so lautete mein Argument, für jeden überprüfbar, in welchem Zusammenhang und mit welcher Redehaltung das formuliert sei.

    Mag sein, dass Walser nur auf ein wenig Beharrlichkeit und Unterstützung gewartet hatte. Jedenfalls stimmte er dem Abdruck zu. Und so erschien seine Rede über Deutschland, nachdem er sie am 30. Oktober 1988 in München vorgetragen hatte, Anfang November komplett in der „Zeit".

    Um zu verdeutlichen, wie sehr das damals als Provokation empfunden wurde, sei eine Szene aus der „Zeit"-Redaktion kolportiert. Während der folgenden Ressortkonferenz tauchte ein politischer Redakteur auf und erklärte der verdutzten Mannschaft, dass der Abdruck dieser Rede eine Blamage für die Zeitung sei und die politische Ahnungslosigkeit der Kulturleute belege. Es handle sich bei Walser um reine Schwärmerei, wurden wir belehrt. Auf Jahre hinaus, so erklärte der Kollege, der später für wenige Jahre Chefredakteur des Blattes werden sollte, stehe die Wiedervereinigung nicht auf der Tagesordnung. Das war, wie gesagt, 1988.

    Noch empörter reagierte damals der Schriftsteller Jurek Becker, der als Kind den Holocaust überlebt hatte. Er schrieb für die „Zeit eine flammende Entgegnung unter der Überschrift: „Gedächtnis verloren – Verstand verloren. Das war nun einer der Fälle, wo der Redakteur hilflos dazwischensteht: Ein Autor bekriegt einen anderen – und beide schätzt man überaus.

    Becker, der damals in Westberlin lebte, schrieb nämlich: „Nationalistisches Geschwafel wird ja nicht dadurch erträglicher, dass der Redner zuvor einige schöne Bücher geschrieben hat. Umgekehrt: Ich muss mich dagegen wehren, dass mir diese Bücher nicht plötzlich in einem neuen Licht erscheinen. Auch er, der Schriftsteller aus der DDR, missbilligte die „Forderung nach Wiedervereinigung.

    Danach war es auf lange Zeit unmöglich, von Walser einen neuen Beitrag zu erhalten. Ein Versuch von mir im Mai 1989 führte immerhin wiederum zu einer Postkarte mit einem herrlich verschlungenen Walser-Satz. Er sei „ganz abgewandt, hieß es da, und „auch von einem Kopfweh belegt, das länger gehen will; vielleicht auch nur, um meine Abgewandtheit zu unterstützen; das tut es wirklich. Und er unterzeichnete mit „unbrauchbar, aber herzlich".

    1980 Das Schwanenhaus erzählt die Geschichte des Kampfes um ein idyllisches Haus am See.

    Im Jahr darauf war es dann die Arbeit an seinem Roman „Die Verteidigung der Kindheit, mit der er eine Anfrage ablehnte, und zwar postwendend – „gleich zurück: Ich kann nicht heraus aus meinem Projekt. Das war nun allerdings ein Argument, dem sich kein Literaturredakteur verschließen könnte, wenn zudem noch von einer schwierigen Schreibphase die Rede ist: „Jetzt muss ich also aufpassen und bitte, mich für entschuldigt zu halten." Doch er freue sich auf ein mögliches Treffen in Berlin.

    Damit war eine Veranstaltung des Deutschlandfunks im Literarischen Colloquium gemeint. Im November 1990, inzwischen war die Einheit Deutschlands Realität, war es gelungen, Walser zu einer Diskussion mit Jurek Becker zu bewegen. Zu viert saßen wir auf dem Podium, der Rundfunkredakteur Hajo Steinert als Moderator. Zur Einstimmung las Walser Passagen aus einer neuen Arbeit mit dem Titel „Vormittag eines Schriftstellers, worin er das nach der Vereinigung „neu angefachte Diskussionsgeflacker beklagte. Wie solle man da ruhig bleiben, fragte er, „wenn immer noch ein Kollege beweist, Deutschland müsse in zwei Staaten existieren"?

    Walser machte in den 15 Minuten seiner Lesung vor allem deutlich, wie sehr er es bereue, sich immer wieder auf den Meinungsstreit einzulassen. „Eine Meinung ist für einen Erzähler ein Kurzschluss, rief er geradezu in den voll besetzten Saal. „Wenn du allein bist, brauchst du keine Meinungen.

    Natürlich kam er auf seine Münchner Rede 1988 und die Reaktionen darauf zu sprechen. Er habe doch damals nur versucht zu zeigen, „wie es dir zumute war angesichts des geteilten Landes und „dass du dich an diese Teilung nicht gewöhnen könntest. Seitdem erfahre er Beschimpfungen jeder Art, und es werde kein Vorwurf ausgelassen, „von intellektueller bis moralischer Unzurechnungsfähigkeit. Dass er von einem „Geschichtsgefühl gesprochen habe, „produzierte in den Statthaltern der Gegenmeinung die Gewissheit, dass sie, im Unterschied zu mir, denken können".

    Damit war nun auch sein Gegenüber angesprochen.

    Becker konzedierte, „damals böse und wütend reagiert zu haben: „Ich dachte, das ist die Angelegenheit der Landsmannschaften, der CDU, der Konservativen, und jetzt dringt das in meine Welt vor. Wo gibt es denn so was? Das mag ein Grund gewesen sein für übertriebenes Ausholen.

    Walser entgegnete: „Ich war irrsinnig überrascht, weil ich das nicht für möglich gehalten hätte unter uns Kollegen. An Ihnen habe ich erleben dürfen, wie weit einer gehen kann, der sich im Recht fühlt. Sie haben gesagt, ich hätte den Verstand verloren. Das ist ja nicht weiter schlimm. Aber Sie stellten die Frage in Ihrem Zorn, ob Sie nicht vielleicht alle meine

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