Marcel Reich-Ranicki (1920-2013): Ein SPIEGEL E-Book
Von Volker Hage
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Rezensionen für Marcel Reich-Ranicki (1920-2013)
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Buchvorschau
Marcel Reich-Ranicki (1920-2013) - Volker Hage
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Liebe Leserinnen und Leser
Der Kritiker der Deutschen
Erinnerungen an Marcel Reich-Ranicki
„Die Liebe ist das zentrale Thema"
Zitate aus den SPIEGEL-Gesprächen mit Marcel Reich-Ranicki von 1989-2013
Der Typ vom anderen Stern
Reich-Ranicki und das Fernsehen
„Ich wollte mich durchsetzen"
SPIEGEL-Gespräch mit dem Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki über seine lebenslange Rebellion und die Leidenschaft für Verrisse
„Das Glück des Staunens"
SPIEGEL-Gespräch mit Marcel Reich-Ranicki über den Abschluss seines Kanons
„Ich bin bisweilen boshaft"
SPIEGEL-Gespräch mit Marcel Reich-Ranicki über literarische Helden, seinen Zwist mit Joachim Fest und sein Verhältnis zum Tod
Arche Noah der Bücher
Marcel Reich-Ranickis Auswahl der wichtigsten Werke deutschsprachiger Dichtung
„Literatur muss Spaß machen"
Marcel Reich-Ranicki über einen neuen Kanon lesenswerter deutschsprachiger Werke
Ritterschlag für den Außenseiter
SPIEGEL-Gespräch mit Marcel Reich-Ranicki über den Erfolg seiner Memoiren
„...und es muß gesagt werden"
Marcel Reich-Ranicki über den Grass-Roman „Ein weites Feld"
Der Herr der Bücher
Marcel Reich-Ranicki - vom Kritiker zum Fernsehstar
„Kritiker sind einsam"
SPIEGEL-Gespräch mit Marcel Reich-Ranicki über die deutsche Gegenwartsliteratur
„Ich habe manipuliert, selbstverständlich!"
SPIEGEL-Gespräch mit dem „Literaturpapst" Marcel Reich-Ranicki
Vita
Marcel Reich-Ranicki (1920 - 2013)
Impressum
Marcel Reich-Ranicki (1920 bis 2013)
„Der Kritiker der Deutschen"
SPIEGEL-Titel
und -Gespräche
aus 25 Jahren
mit einem Vorwort von Volker Hage
Vorwort
Liebe Leserinnen und Leser,
vier Titelgeschichten widmete der SPIEGEL dem am 18. September 2013 gestorbenen Marcel Reich-Ranicki. Zum ersten Mal war er im Herbst 1993 als „Der Verreißer auf dem Cover zu sehen, als gefürchteter und einflussreicher Literaturkritiker; zwei Jahre später als enttäuschter Leser des Romans „Ein weites Feld
, über den er in Form eines offenen Briefes („Mein lieber Günter Grass...) ein vernichtenes Urteil sprach; 2001 trat er dann als Jongleur mit seinem Kanon der deutschen Literatur auf („Was man lesen muss
); zuletzt war es ein Nachruf, der den großen deutschen Publizisten auf den Titel brachte, was zugleich eine Verbeugung vor dem Holocaust-Überlebenden war, der seine Erlebnisse in der Autobiographie „Mein Leben ergreifend geschildert hatte – und vor dem Erfinder der ZDF-Geprächsrunde „Das Literarische Quartett
, mit der er schließlich zum Medienstar wurde.
Mit dem SPIEGEL verband Reich-Ranicki ein intensives und wechselvolles Verhältnis. Nicht immer ging das Blatt zimperlich mit ihm um, er beklagte sogar einmal die „Infamien, die „gegen mich gerichtet waren
. Alles in allem aber herrschte Respekt, ja Zuneigung auf Gegenseitigkeit vor.
Früh schon, Ende der fünfziger Jahre, gab es in Hamburg einen persönlichen Kontakt zwischen dem Kritiker und dem SPIEGEL-Gründer. „Ich verneige mich vor Rudolf Augstein, schrieb Reich-Ranicki später, aus Anlass des 50-jährigen Bestehens des Magazins im Jahre 1997. Und er bekräftigte seine hohe Meinung 2002 noch einmal in einem Nachruf: „Augstein ist der größte Journalist, den ich in meinem Leben kennengelernt habe.
Der SPIEGEL war immer wieder eine Gastbühne für den Kritiker, der von 1960 bis 1973 für die „Zeit schrieb und danach als leitender Redakteur den Literaturteil der „Frankfurter Allgemeinen
zu einem der wichtigsten im Land machte. Von 1969 an erschienen SPIEGEL-Kritiken in unregelmäßigen Abständen. Reich-Ranicki schrieb über Gegenwartsautoren wie Grass, Monika Maron oder Christa Wolf, über die Tagebücher Thomas Manns und Robert Musils Romanwerk.
Und um die deutschen Schriftsteller ein wenig zu reizen, schrieb er ihnen ins Stammbuch: „Jedes SPIEGEL-Heft ist unterhaltsamer und wichtiger als beinahe alle heutzutage gedruckten deutschen Romane. Das größte Lob aber, das Marcel Reich-Ranicki dem SPIEGEL spendete, war besonders vor dem Lebenshintergrund dieses Mannes von geradezu historischer Dimension: „In einem Deutschland, in dem es keinen SPIEGEL gäbe, möchte ich nicht leben.
Hamburg, September 2013
Volker Hage, DER SPIEGEL
SPIEGEL-Titel 39/2013
Der Kritiker der Deutschen
Erinnerungen an Marcel Reich-Ranicki
Am Ende seines Lebens war er still geworden. Die Worte, mit denen er einst so effektvoll vor jedwedem Publikum jonglierte, wollten ihm nicht mehr leicht über die Lippen kommen. Auch auf sein Gedächtnis konnte er sich schließlich nicht mehr verlassen, das doch über all die Jahre so unverwundbar schien. Jede Anekdote hatte gesessen, bei keinem Zitat aus der Literatur hatte er auch nur einen Augenblick gezögert.
Als wir vor wenigen Tagen telefonierten, schien das Schlimmste hinter ihm zu liegen. Eine Lungenentzündung hatte er mühsam überstanden. Er wurde in ein Pflegeheim, das Frankfurter Nellinistift, verlegt. In seine Wohnung konnte er nicht mehr zurück, auch lesen kaum noch, die Musik war ihm kein Trost mehr.
„Haben Sie eine Idee, was ich noch tun könnte?, fragte er mich. „Ich muss mich mit etwas beschäftigen.
Das Telefonieren fiel ihm schwer. Schon seit gut einem Jahr waren die Gespräche kurz mit ihm, der einst so leidenschaftlich telefoniert hatte. Die Erschöpfung war deutlich. „Also, sagte er nach wenigen Minuten. „Auf bald, mein Lieber.
Am vergangenen Mittwoch ist Marcel Reich-Ranicki gestorben. 1920 geboren in Wloclawek in Polen, wurde er Deutschlands größter und berühmtester Literaturkritiker. Er war ein Bestsellerautor und ein Fernsehstar. Ein Mann, dem alle zuhörten, auch wenn vor allem Schriftstellern nur selten gefiel, was sie da hörten oder lasen.
Tatsächlich war Reich-Ranickis Geschichte viel größer: Er war der Holocaust-Überlebende, der den Deutschen das Buch schenkte, das ihnen die Anschauung der Verbrechen lieferte, ohne eine Ohrfeige zu sein. Es hieß „Mein Leben" und war ein Angebot, sich in die Tiefe des Schreckens begleiten zu lassen. Er hatte mit seiner Frau Teofila das Ghetto in Warschau überlebt und sich dennoch entschlossen, in Deutschland zu leben und deutsche Literatur weiterhin zu lieben. Seine Biografie und seine Prominenz machten ihn zu einem permanenten Spiegel deutscher Schuld und genauso auch zur Stimme des deutschen Gewissens. Marcel Reich-Ranicki war die personifizierte Versöhnung. Und dass er sich womöglich über einen solchen Satz fürchterlich aufgeregt hätte, auch das gehört dazu.
Er war mein erster Chef. Ein anstrengender Chef für einen jungen Redakteur. Wir trafen uns erstmals im Sommer 1975 in Frankfurt. Reich-Ranicki war damals leitender Redakteur bei der „Frankfurter Allgemeinen", Mitte fünfzig und machtbewusst. Er hatte vor, den besten Literaturteil des Landes zu machen.
Das Vorstellungsgespräch fand in einer schlichten Gaststätte statt, gleich gegenüber dem Redaktionsgebäude in der Hellerhofstraße. Auf Äußerlichkeiten legte Reich-Ranicki wenig Wert. „Wenn Sie ein richtiger Literaturkritiker werden wollen, sagte er, „brauchen Sie eine perverse Leidenschaft: die Leidenschaft für Literatur.
Pause. „Und die ist pervers, weil die Literatur schlecht ist."
Im Grunde war er in Frankfurt selbst noch ein Anfänger. Nie zuvor hatte er in einer Redaktion gearbeitet, viele Jahre lang hatte er darauf gehofft, ein Angebot zu erhalten. Bei der „Zeit, für die er von 1960 bis 1973 als ständiger Literaturkritiker gearbeitet hatte, war er kein einziges Mal zu einer Konferenz eingeladen worden. Die Manuskripte wurden per Taxi bei ihm zu Hause abgeholt. Zwar dankte ihm die „Zeit
- 20 Jahre nach seinem Weggang - dafür, dass er zu denen gehört hatte, „die den Auflagenanstieg des Blattes beschleunigen halfen. Zugleich aber wurde das distanzierte Verhalten der Kollegen im Feuilleton mit dem Zweifel begründet, „ob sie einen so machtbewussten, rabulistischen Mann aushalten würden
.
Bei der „Frankfurter Allgemeinen, der „Zeitung für Deutschland
, hatte er endlich seine publizistische Heimat gefunden. Beide Seiten profitierten davon.
Wenn er attackiert wurde, spornte ihn das erst richtig an, besonders wenn er antisemitische Untertöne heraushörte. So reichte er einen Leserbrief, in dem ihm aus Anlass eines Handke-Verrisses „zersetzende Kritik vorgeworfen wurde, mit Vergnügen an die Kollegen weiter. Vorher wollte er jedoch wissen, welche Überschrift beim Abdruck des Briefes die bessere sei: „Zersetzende Kritik
oder nur „Zersetzend? Wir waren uns einig: die knappe Version. „O ja
, sagte er, „zersetzend, das bin ich, zersetzend, das gefällt mir, und zwar programmatisch!"
Beliebt war er allerdings auch bei den Frankfurter Kollegen nicht durchweg. Er wich keinem Konflikt aus, schon gar nicht, wenn es dabei um Kompetenzfragen ging.
Alles, was auch nur entfernt mit dem Thema Literatur zu tun hatte, sollte über seinen Schreibtisch gehen. Nicht jedem gefiel das. So kam es im Kulturressort zu einem heftigen Streit, als hinter seinem Rücken eine Glosse erschienen war. „Ich werde auch nicht zögern, rief er in die Runde, „mich von der Zeitung zu distanzieren, wenn es sein muss!
Schrecken konnte ihn wenig. Er hatte andere Schrecken erfahren und überlebt.
Die große Ära der deutschen Nachkriegsliteratur hatte mit ihm begonnen. Am 1. Januar 1960 veröffentlichte Reich-Ranicki in der „Zeit die Rezension eines Romans, der den Titel „Die Blechtrommel
trug. Und sie begann mit einem Verriss.
Wohl niemand hätte damals voraussehen können, dass hier zwei ehrgeizige Menschen aufeinandergestoßen waren, ein Schriftsteller und sein Kritiker, die nicht mehr voneinander lassen und über Jahrzehnte hin das Bild der deutschen Literatur bestimmen würden.
Marcel Reich-Ranicki und Günter Grass: Die erste kurze Begegnung des Kritikers mit dem Romanautor hatte im Frühjahr 1958 in Polen stattgefunden. Nun, Ende Oktober, trafen sie sich auf einer Tagung der Gruppe 47 wieder. Grass, damals gerade 31 geworden, fragte den Mann mit den dicken Brillengläsern und der Halbglatze: „Was sind Sie denn nun eigentlich - ein Pole, ein Deutscher oder wie?"
Der Kritiker, 38 Jahre alt, war kurz zuvor in die Bundesrepublik gekommen und hatte soeben die deutsche Staatsbürgerschaft erworben. Seine Antwort: „Ich bin ein halber Pole, ein halber Deutscher und ein ganzer Jude."
Das war von jener Treffsicherheit, die ihn in Deutschland berühmt machen sollte. Doch die Frage, ob Deutschland für ihn überhaupt eine Heimat sein oder werden könnte, ließ ihn zeitlebens nicht los. Nicht zufällig setzte Reich-Ranicki den Dialog mit Grass Jahrzehnte danach an den Anfang seiner Autobiografie „Mein Leben".
Wer sich in den sechziger Jahren als Schüler oder Student für die deutsche Gegenwartsliteratur interessierte, für den war Marcel Reich-Ranicki eine Instanz. Im damals ungeheuer einflussreichen Feuilleton der „Zeit" publizierte er - bisweilen seitenfüllend - Rezensionen, die die literarische Nation bewegten, auch wenn viele, besonders Autoren, es gern abstritten.
Er war bekannt, freilich noch lange nicht prominent. Er hatte einen Namen, aber kaum jemand konnte den richtig buchstabieren. Er hatte ein Profil, doch für die meisten seiner Leser kein Gesicht.
Das änderte sich. Reich-Ranicki selbst gab 1970 das Stichwort aus: „Lauter Verrisse nannte er eine Sammlung seiner Kritiken. Verrisse wurden sein Markenzeichen. Noch Jahrzehnte später zeigte sich ein Echo davon im Motiv einer SPIEGEL-Titelseite: der Kritiker als „Verreißer
.
Es ist heute schwer nachvollziehbar, dass bis in die achtziger Jahre hinein kaum Details aus Reich-Ranickis Lebensgeschichte bekannt waren. Interessierte es in diesem Land niemand, wieso ein Mann, der Ende der fünfziger Jahre aus Polen gekommen war, ein derart geschliffenes Deutsch schrieb und sich so gut mit der deutschen Literatur auskannte? Ahnte man, dass hinter dem Schweigen Dinge verborgen waren, die man als Deutscher lieber nicht hören wollte?
Dabei hatte Reich-Ranicki mehr als nur eine Andeutung gemacht. So schrieb er im Zusammenhang mit dem Bau der Berliner Mauer 1961 in der „Zeit: „Wer beide Mauern gesehen hat, die Warschauer und die Berliner (und es gibt noch einige Überlebende, die hierzu Gelegenheit hatten), der musste eine bestürzende Ähnlichkeit dieser Bauwerke feststellen - trotz noch so großer Unterschiede der historischen Situation und auch der konkreten Funktion der Grenzmauern.
Es gab Überlebende! Deutlicher konnte er es eigentlich nicht sagen. Aber erst 17 Jahre später trat Reich-Ranicki erstmals im deutschen Fernsehen als Überlebender der Shoah in Erscheinung, als Teilnehmer jener Gesprächsrunde, die Anfang 1979 die erste Ausstrahlung der amerikanischen TV-Serie „Holocaust begleitete. „Es war Aufgabe der Deutschen, diesen Film zu machen
, sagte er damals. „Und es ist höchst