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Welterzähler - Literaturnobelpreisträger im Porträt: Ein SPIEGEL E-Book
Welterzähler - Literaturnobelpreisträger im Porträt: Ein SPIEGEL E-Book
Welterzähler - Literaturnobelpreisträger im Porträt: Ein SPIEGEL E-Book
eBook527 Seiten13 Stunden

Welterzähler - Literaturnobelpreisträger im Porträt: Ein SPIEGEL E-Book

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Über dieses E-Book

Der Nobelpreis für Literatur gilt als weltweit höchste Auszeichnung für Dichterinnen und Dichter. Seit der ersten Verleihung im Jahr 1901 erhielten ihn bisher 116 Literaten: Männer und Frauen aus allen Teilen der Welt, viele sind berühmte Schriftstellerinnen, Dramatiker oder Dichter, aber nicht wenige sind auch überraschend ausgezeichnet worden und einige heute sogar fast vergessen.
Dieses E-Book umfasst Porträts von 50 Preisträgerinnen und Preisträgern aus dem SPIEGEL der Jahre 1949 bis heute – von Titelgeschichten bis zu kürzeren Artikeln, die vor allem ein Buch oder Drama eines Literaten vorstellen oder einen Ausschnitt aus dessen Leben oder Werk in den Blick nehmen. Alle Artikel bringen uns den Ausgezeichneten näher und zeigen: eine Preisträgerin, einen Preisträger ohne Schwächen kann es nicht geben.
SpracheDeutsch
HerausgeberSPIEGEL-Verlag
Erscheinungsdatum17. Okt. 2019
ISBN9783877631874
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    Buchvorschau

    Welterzähler - Literaturnobelpreisträger im Porträt - SPIEGEL-Verlag

    Inhaltsverzeichnis

    Vorwort

    2019: Peter Handke

    Der bessere Feind

    2018: Olga Tokarczuk

    Die Provinz zur Heimat machen

    2017: Kazuo Ishiguro

    Der Ozean-Dichter

    2016: Bob Dylan

    Illumination einer Legende

    2015: Swetlana Alexijewitsch

    Rote Seelen

    2014: Patrick Modiano

    Sein Herz ist ein einsamer Jäger

    2013: Alice Munro

    Worauf es ankommt

    2011: Tomas Tranströmer

    Etwas will gesagt werden

    2010: Mario Vargas Llosa

    Im Bett des Ziegenbocks

    2009: Herta Müller

    Die Waffe Poesie

    2008: Jean-Marie Gustave Le Clézio

    In fünfzig Texten um die Welt

    2007: Doris Lessing

    Aufgeklärte Tapferkeit

    2006: Orhan Pamuk

    Mann mit Aussicht

    2005: Harold Pinter

    Geballte Dinger

    2004: Elfriede Jelinek

    „Die missbrauchte Frau"

    2002: Imre Kertész

    Diese Stille, dieses Nichts

    2001: V. S. Naipaul

    Stolzer Skeptiker

    1999: Günter Grass

    Ab jetzt ein Kuckuck

    1997: Dario Fo

    Erhobene Faust

    1993: Toni Morrison

    Die Schwarze für Weiße

    1991: Nadine Gordimer

    Die Vehemenz der alten Dame

    1990: Octavio Paz

    Brennt gut

    1988: Nagib Machfus

    Der Fensteröffner

    1987: Joseph Brodsky

    Rettung der Welt durch Poesie

    1985: Claude Simon

    Dreispitz und Degen

    1982: Gabriel García Márquez

    Numero uno

    1981: Elias Canetti

    Nachruf

    1976: Saul Bellow

    Heilige Seelenzustände

    1972: Heinrich Böll

    Brot und Boden

    1970: Alexander Solschenizyn

    Mit Ruhm bestraft

    1969: Samuel Beckett

    Das Endspiel ist aus

    1964: Jean-Paul Sartre

    Der ewige Rebell

    1958: Boris Pasternak

    Der Ehren-Doktor

    1957: Albert Camus

    Halbseidene Tapferkeit

    1955: Halldór Laxness

    Der fliegende Isländer

    1954: Ernest Hemingway

    Wem die Stunde schlägt

    1953: Sir Winston Churchill

    „Sieg um jeden Preis"

    1950: Bertrand Russell

    Russell im Niemandsland

    1949: William Faulkner

    Griff in den Staub

    1947: André Gide

    Kinder im Wald

    1946: Hermann Hesse

    Im Gemüsegarten

    1934: Luigi Pirandello

    Sie bleibt angezogen!

    1938: Pearl S. Buck

    Hausfrau am Schreibtisch

    1932: John Galsworthy

    Küsse im Taxi

    1929: Thomas Mann

    Der Zauberer

    1925: George Bernard Shaw

    Der Tiefstart

    1920: Knut Hamsun

    Pfadfinder der Moderne

    1912: Gerhart Hauptmann

    Ungeheures durchgemacht

    1907: Rudyard Kipling

    Der Literatursoldat

    1902: Theodor Mommsen

    Partei ergreifen

    Impressum

    Literaturnobelpreisträger im Porträt

    Ruhm für die Ewigkeit. Sie alle sehnen sich danach, die Autorinnen und Autoren, die in ihren Büchern die Welt beschreiben. Die der Welt, so wie sie ist, ihre erdichtete Welt entgegenhalten. Gegen die verstreichende Zeit, gegen das Vergehen der Erinnerungen, gegen den Anspruch der einen sogenannten Wirklichkeit auf Alleinherrschaft. „Ruhm und Ehre" so war der Titel eines in Gold gebundenen Prachtbandes, der vor vielen vielen Jahren, wohl in einem Buchclub erschienen, Texte und Bilder aller Literaturnobelpreisträger in sich vereinte. Der Band stand in vielen, vielen Haushalten, die sich mit Büchern schmückten. Sie waren die Besten. 

    Sie waren die mit dem Gütesiegel der Ewigkeit versehenen Dichterinnen und Dichter, die bleiben. Das war Glanz und Autorität der Nobel-Akademie. Doch hinter den Fassaden dieser ehrwürdigen, altmodischen, geheimnisvollen Akademie hatten sich in den letzten Jahren ungeheure Dinge zugetragen. Vorteilsnahme, Verrat, Vergewaltigungen – was aus der geheimen Akademie-Welt langsam ans Licht der Öffentlichkeit trat, war ein Grauen. Das Geheimnisvolle wurde für Verbrechen genutzt. Die große, alte, unantastbare Autorität war dahin. Doch die Akademie fand die Kraft für einen Neuanfang. Mitglieder wurden ausgetauscht und vor allem entschied man sich für ein ungeheures Wort: „Transparenz"! Die geheime Loge sollte ein wenig die Türen öffnen und sichtbar werden, was immer unsichtbar war. 

    Zu sehen war es jetzt, im Oktober 2019, als gleich zwei Nobelpreise vergeben wurde. Und zunächst der Sekretär vor die Journalisten trat – und nach ihm: echte, lebende, auskunftswillige Mitglieder der Akademie, die auf – ja wirklich – Fragen antworteten. Und das Wunder geschah: es nahm der Akademie und ihrer Entscheidung nichts von ihrer Autorität. Nichts von ihrer Stärke. Im Gegenteil. Diese Öffnung und Bereitschaft zum Dialog zeigte erst wirklich, wie stark die neuen Entscheidungen waren. So stark, dass man sie sogar gegen Kritik verteidigen kann. Eine Lehre an viele andere, im alten Jahrhundert stehen gebliebenen Institutionen unserer Zeit: Transparenz stärkt, ist nicht gefährlich, wenn man seiner selbst sicher ist, Transparenz erklärt, klärt auf, auch über sich selbst. Öffnet eine verschlossene Welt für den Dialog. Auch die verstaubteste, älteste, ängstlichste, selbstgewisseste Institution kann durch eine Öffnung und Veränderung noch in unsere Zeit hinüberwechseln. Und noch viele Jahre Preise für die Ewigkeit verleihen. Für eine kleine Ewigkeit wenigstens.

    Volker Weidermann

    SPIEGEL ONLINE 10.10.2019

    Der bessere Feind

    Peter Handke bekommt den Literaturnobelpreis 2019 - trotz aller Verklärungen, trotz aller Gegner, die sich der Österreicher gemacht hat. Er hat ihn sich verdient mit seinem wahrhaftigen Werk. Eine Gratulation. Von Volker Weidermann

    Den hat er sich jetzt echt erwandert, erschrieben und erkämpft,den Preis. Der Österreicher Peter Handke, seit über 50 Jahren schreibt und schreibt und wandert er, immer auf der Suche nach der „wahren Empfindung", dem einen Wort, das die Welt neu beschreibt.

    Während der Jugoslawienkriege, als er sich entschlossen auf die Seite der Serben stellte, hat er es, so schien es, mit der ganzen westlichen Welt aufgenommen, mit den Journalisten vor allem, seinen Lieblingsfeinden. „Ihr alle glaubt zu wissen, was die Wahrheit ist?", schrieb er den Berichterstattern entgegen. Und setzte seine selbst beobachtete und seine empfundene Wahrheit dagegen.

    In Kärnten, ganz in der Nähe des alten, noch vereinten Jugoslawien, war er aufgewachsen. Das Traumland jenseits der Grenze. Er hat es verklärt, bereist und seine poetische Kraft gegen jede journalistische Wirklichkeit in vielen Büchern in Stellung gebracht. Bis zum Schluss. Noch zur Beerdigung Slobodan Milosevics reiste er an. „Mit mulmigem Gefühl, wie er im Gespräch später sagte. Aber mit dem Tod dieses Mannes habe er auch seinen eigenen, vergeblichen Kampf beendet: „Ich habe geträumt, es ist jetzt zu Ende. Indem ich zum Begräbnis gehe, habe ich es beerdigt.

    Wie kommt die Nobel-Akademie dazu, so jemandem ihren Preis zu verleihen? Und das nach all den Skandalen im Umfeld der Akademie, die sogar dazu führten, dass der Preis ein Jahr lang gar nicht vergeben wurde. Sind die verrückt? Übermütig? Jetzt dem Sänger des Hoheliedes eines wahrscheinlich verantwortlichen, nicht verurteilten Massenmörders den Nobelpreis zu verleihen?

    Heißt es nicht in den Statuten, jeder Nobelpreis solle an Menschen gehen, die „der Menschheit den größten Nutzen gebracht haben? Wo ist der Nutzen des Werks von Peter Handke? Der, ohne dass er das Wort je benutzt hätte, der schärfste literarische Kritiker sogenannter Fake News der vergangenen Jahrzehnte in Europa gewesen ist. Fake, Fake, Fake - ist alles, was die Journalisten schreiben. Schon in jedem ersten Satz lese er die Tendenz. Und wenn er „Tendenz lese, sei es aus. Er sei für das Offene. Für den Versuch zumindest, offen und urteilsfrei zu schreiben.

    Das war und das ist das Experiment Peter Handkes. Dass er seinem eigenen Wollen zur Zeit des Krieges in Jugoslawien selbst nicht gerecht wurde, hat er in ruhigen Stunden selbst eingesehen. Die Übermacht der Bescheidwisser erschien ihm übermächtig. Er wollte, er musste laut und ungerecht sein. So sah er es.

    Und heute, im Angesicht dieses - trotz aller Skandale so ruhmreichen - Ehrenpreises, muss, nein, kann man sagen: dass er diesen Preis mit seinem literarischen Werk, diesem Koloss aus annähernd hundert Büchern, verdient hat. Er hat ihn verdient für viele, viele andere Bücher.

    Lesen Sie unbedingt und zum Beispiel „Wunschloses Unglück, das Abschiedsbuch von seiner Mutter, die Selbstmord beging. Wer so ein wahrhaftiges, trauriges, sich selbst öffnendes, großartige Buch geschrieben hat, hat den Nobelpreis sofort verdient. Oder seine schwebenden Notate in „Gewicht der Welt, seine Theaterstücke, die damals, als sie zuerst auf die Bühne kamen, die Zuschauer wirklich noch schockiert haben. „Publikumsbeschimpfung zum Beispiel. Und dann auch wieder das ganz andere, poetische Stück: „Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten. Ein Stück ohne Worte, voller neuer Ideen vom Menschen und seinen Sehnsüchten und Boshaftigkeiten.

    Von Anfang an zum Übermut bereit

    „Das Mädchen hatten sie ihn am Anfang genannt, alle, die ihn nicht ernst nehmen wollten, dieses bleiche Hänschen mit der dünnen Pilzfrisur und der großen Brille, das ein starker Atem umzuhauen schien. „Das Mädchen, damals auf der Tagung der Gruppe 47 in Princeton. Da saß er in einer der vorderen Reihen, hielt sich den Zeigefinger unter die Nase - ein wenig wie „Wickie, der Wikinger", wenn er wieder eine Idee hat -, neben ihm Teofila Reich-Ranicki.

    Und er dachte sich: Wie mach ich's? Wie mache ich's, dass ich berühmt werde, und zwar sofort? Sein Verleger Siegfried Unseld hatte ihn eigentlich gewarnt: „Werden Sie bloß nicht übermütig, hatte er gesagt, nachdem sein erstes Buch „Hornissen in der „FAZ" gelobt worden war.

    Doch Handke war von Anfang an zum Übermut bereit. Und er stand auf, in Princeton, das gesamte literarische Establishment der Bundesrepublik war da. Die Kritiker. Die Dichter. Die Stars. Und er sagte, das tauge ja alles gar nichts hier. Und er erfand das schöne Wort der „Beschreibungsimpotenz. Schlappe Männer mit schlappen Texten. Hier kommt Handke. Grass zum Beispiel fand es lächerlich. Auf einer Party danach schrieb er dem bleichen Österreicher auf die Hutkrempe: „Ich bin der Größte. Und legte in einem Zeitungstext nach, den er so überschrieb: „Bitte um bessere Feinde".

    Sie wurden nicht besser. Er war schon der beste. Und der vom Nobelpreiskomitee ausgezeichnete „Größte" war zuerst tatsächlich der Feind von damals, Günter Grass. Und heute erst bekommt der Spötter recht. So sehr im Recht wollte er gewiss nie sein. Er ist wirklich auch der Größte geworden. Mit dem Nobelpreis nobellitiert. Herzlichen Glückwunsch!

    SPIEGEL ONLINE 10.10.2019

    Die Provinz zur Heimat machen

    Der Weltgeschichte mal in die Speichen greifen: Die polnische Autorin Olga Tokarczuk bekommt den Literaturnobelpreis für ein patchworkhaftes Werk, in dem Mythen und Märchenhaftes auf einen wachen politischen Sinn treffen. Von Elke Schmitter

    Nobelpreise für Literatur haben nicht selten den Charme des Überraschenden; so ist es auch in diesem Jahr: Die polnische Autorin Olga Tokarczuk, 56, ist in weiten Teilen der literarischen Welt ein noch zu entdeckendes Phänomen.

    Zwei Gemeinsamkeiten allerdings teilt sie mit Peter Handke, dem zweiten Preisträger der heutigen Entscheidung für die Jahre 2018 und 2019: Die Verteidigung Mitteleuropas als ein Gebiet des kulturellen Eigensinns, das in der dichotomen Logik des Kalten Krieges - bist Du West oder Ost? - partout nicht aufgehen will und das es geduldig zu entdecken und zu bewahren gilt. Sowie eine Sprache, die auf den Zauber und die poetische Überwältigung setzt, tief verbunden mit Mythen, mit Märchenhaftem und der Beschwörung - wenn auch nicht ohne Ironie.

    „Dieser Abend ist der Rand der Welt, ich habe ihn zufällig und absichtslos beim Spiel ertastet. So heißt es im ersten Kapitel von Tokarczuks Buch „Unrast, für den sie 2007 den wichtigsten Literaturpreis Polens erhielt. Der Zufall und das Ich sind hier die Reiseführer. Erinnerungen, Mini-Essays und Erzählungen lösen sich darin ab, auch Zeichnungen, Landkarten, die Darstellungen alter Atlanten sind in diesem Nichtroman zu finden.

    Von Chopins Herz bis zur Zunge als stärkstem Muskel der Welt reichen die Themen, von der Eselszucht bis zur Flughafenarchitektur: Hier ist eine, die sich nicht auf ein Genre festlegen will, auch nicht auf einen Stil. Das Patchworkhafte, das Unstete und die Minuteneinsicht sind das Verbindende, selbst Tokarczuks Sprache - im melodischen und souveränen Deutsch ihrer Übersetzerin Esther Kinsky - hat etwas Schlenderndes.

    Heilslehren sind immer wieder Thema

    Mit „Unrast" wurde Tokarczuk im englischsprachigen Raum als eine heutige, in der Freiheit ihrer Mittel geradezu postmoderne Erzählerin bekannt. In Polen steht sie auch für eine esoterische Ausrichtung des Feminismus: Tokarczuk hat Psychologie studiert und sich intensiv mit C.G. Jung, dem psychoanalytischen Mythenforscher befasst. Das Göttliche, die Heilslehren unterschiedlicher Kulturen sind Thema in all ihren Büchern, durchgespielt sowohl in historischen Romanen und Parabeln als auch in Geschichten aus der Gegenwart.

    In ihrem Kriminalroman „Der Gesang der Fledermäuse kämpft die Erzählerin, eine ältere alleinstehende Frau, in Niederschlesien auf ihre skurrile Weise für die Natur. Janina Duszejko, eine ehemalige Brückenbauingenieurin, gehört zu den vielen, die „keine Orte mehr haben, die sie einmal geliebt haben und wo sie hingehören. Die Flora und die Fauna sind ihr Trost, deren Vernutzung ist ihre Qual. Und dabei geht es nicht nur um die industrielle Landwirtschaft. „Plötzlich war mir klar, warum die Hochsitze, die doch mehr an die Wachtürme eines Konzentrationslagers erinnern, Kanzeln genannt werden. Auf einer Kanzel stellt sich ein Mensch über die anderen Lebewesen und erteilt sich selbst die Macht über ihr Leben und ihren Tod. Wenn es Gott wirklich gäbe, meint die Erzählerin, müsste er „seine Stellvertreter, seine flammenden Erzengel herschicken, damit sie ein für alle Mal diese schreckliche Heuchelei beenden.

    Erzengel, gnostische und astrologische Spekulationen, das Irrationale und Vieldeutige, - das ist die eine Seite Tokarczuks. Die andere ist ein wacher politischer Sinn, der Klarheit und die Lust verbindet, der Weltgeschichte auch mal in die Speichen zu greifen. 2014 unterschrieb sie den offenen Brief „Danzig 1939, Doneszk 2014 nach der Besetzung der östlichen Ukraine. „Wir dürfen nicht zulassen, heißt es in der Erklärung von zwanzig polnischen Intellektuellen, „dass Europa auf viele Jahre mit einer offenen, blutenden Wunde lebt. Im Gespräch dazu mit SPIEGEL ONLINE nannte sie Putins Politik eine des „Austestens von Grenzen. Das ist eine Politik, die Chaos schaffen will. Und einen Nutzen aus diesem Chaos ziehen will.

    Russophobie als nüchterne Einschätzung der Realität

    Doch lebt Europa nun seit fünf Jahren mit diesem Krieg an seiner östlichen Grenze. Für Tokarczuk - die auch Familie im Kriegsgebiet hat - ist das eine Gefahr auch für das Selbstverständnis ihres Landes. „Leider wird durch die Ukrainekrise der Mythos wiederbelebt, dass wir eine Mauer des Westens sein sollen, Schutz vor dem wilden Osten."

    Polen, das wieder und wieder zerstückelte und von Deutschen wie Russen besetzte Land, sei aufgrund seiner Geschichte wacher für die Bedrohung als das westliche Europa. „Ich habe darüber nachgedacht, ob in Polen nach wie vor eine Russophobie herrscht. Und ich glaube, das ist so." Aber diese Phobie ist für die polnische Nobelpreisträgerin kein Wahn, sondern eine nüchterne Einschätzung der Realität.

    Ein koreanischer Buddha, der Schultern und Mundwinkel hängen lässt, stand auf einem Altar in ihrem Schreibzimmer in ihrem Haus in Breslau, in dem der SPIEGEL sie besuchte, an dessen Seite die Hindugöttin Durga, aufrecht stehend, eine Figur, die Wissen und Handeln verkörpert: Melancholie und Tatkraft nebeneinander.

    Heute lebt Tokarczuk in einem kleinen Dorf in Niederschlesien. Wie ihr Kollege, der große polnische Autor Andrzej Stasiuk hat sie die Provinz zu ihrer Heimat gemacht, um von dort aus auf Reisen zu gehen. Das Surreale und die Realität sollen sich die Waage halten. Denn wenn das Denken, so heißt es in ihrer Erzählung „Der Schrank, ganz „mit sich allein gelassen ist, verfällt es in ein Gebet.

    Kultur

    SPIEGEL 41/2017

    Der Ozean-Dichter

    Nobelpreisträger Kazuo Ishiguro und seine Expeditionen in die Tiefsee der Seele. Von Volker Weidermann

    Einmal, ganz am Ende von Kazuo Ishiguros erschütterndem Roman „Alles, was wir geben mussten", steht die Erzählerin Kathy irgendwo im Nichts von Norfolk und sieht leichtem Müll beim Fliegen zu. Plastikfolien, Teile von Einkaufstüten verfangen sich in Ästen und Stacheldraht. Und sie stellt sich vor, dass hier der Ort wäre, an dem alles, was sie seit ihrer Kindheit verloren hat, angeschwemmt würde. Und wenn sie nur lang genug wartete, erschiene hier, und genau hier, der eine Mensch aus ihrer Vergangenheit, den sie sich zurückwünscht aus der Welt der Toten. Es ist nur eine Frage der Zeit. Und der Wunschkraft. Und der Beharrung.

    Erinnerungen aus Müll und nichts und Wind. So was kommt vor, in den Büchern des neuen Literaturnobelpreisträgers Kazuo Ishiguro. Nebel kommt oft vor, leise Menschen, sehr leise Menschen, Pianisten, die nicht Klavier spielen, Cellistinnen, die nicht Cello spielen. Klonkinder, die nicht wissen, was es bedeutet, dass sie einstmals als „Spender" ihr Leben beenden werden.

    Kazuo Ishiguro kam 1954 in Japan zur Welt. Als er fünf Jahre alt war, nahmen ihn seine Eltern mit nach England. Sein Vater arbeitete dort als Ozeanograf. Immer hieß es, sie würden bald zurückkehren in die Heimat. Aber Ishiguro blieb. Er ist Brite, schreibt auf Englisch. Über seinen ersten Roman, „Damals in Nagasaki", der 1982 in England erschien und der in Japan spielt, sagte er, der habe in der ersten Fassung komplett in Cornwall gespielt. Erst dann sei ihm Japan passender erschienen. Die Welt um die Menschen herum ist nur Fassade. Eine Tapete für die Innenwelt seiner fantastischen Figuren.

    Ein wenig scheint es, wenn man Ishiguros Bücher liest, als habe er sich etwas aus der Arbeitswelt des Vaters abgeschaut. Ein bisschen sind sie wie tief unter Wasser geschrieben. Es geschehen die ungeheuerlichsten Dinge, aber man hört fast nichts. Der Erzähler scheint wie ein Taucher durch sein Reich zu gleiten. Die Menschen schreien lautlos.

    Viele dieser Romanfiguren bleiben dem Leser unvergesslich. So Stevens, der treue Butler aus Ishiguros bekanntestem Roman „Was vom Tage übrigblieb": Der steht loyal zu seinem alten Herrn, Lord Darlington, egal wie nah dieser den Deutschen während des Zweiten Weltkriegs war. Ein Mann, der nicht weiß, wie man aus vormals versprochener Loyalität herauskommt. Das einstige Treueversprechen ist sein Leben. Er hat kein anderes.

    Erinnerung ist auch etwas, wovon man sich frei machen muss. Ein etwas sonderbares Ziel für einen Schriftsteller. Daniel Kehlmann hat das in einer Besprechung von Ishiguros bislang letztem Roman, „Der begrabene Riese, in der „FAZ erstaunt festgestellt: „Ist es nicht ein Axiom, dass Literatur für die Erinnerung und gegen das Vergessen steht? Wer würde es wagen, diesem Satz zu widersprechen und das Vergessen zu verteidigen? Nun, Ishiguros Roman wagt es."

    Seine Bücher lesen sich wie eine Aufforderung, das scheinbar Unveränderliche sofort zu ändern.

    Der Nebel, der durch diese Romanwelt aus dem England des sechsten Jahrhunderts wabert, fegt die schnöde Wirklichkeit hinweg und öffnet den Möglichkeitsraum des Romanciers. Und lässt Menschenfresser, Riesen und Drachen erstehen. Kritiker warfen Ishiguro vor, ins Fantasy-Genre zu fliehen. Da konnte Ishiguro nur lachen. Die Geschichte verlange an der Stelle einen Drachen, und die Literatur gebe ihm die Möglichkeit, den dann einfach erscheinen zu lassen.

    Gerade dieser Drache hatte es Daniel Kehlmann damals angetan. So sehr, dass er heute, wenn man ihn fragt, gern bekennt, dass der Drache, der in seinem jetzt erscheinenden Roman „Tyll auftaucht, ein später Bruder von Ishiguros Drache sei: „Jetzt im Rückblick kann ich wohl nicht ausschließen – nein, wirklich nicht –, dass mein 'letzter Drache des Nordens' von der wunderbaren Drachenszene im 'Begrabenen Riesen' beeinflusst ist.

    Gerade das Irreale in Ishiguros Büchern ist grauenvoll real. Die englische Internatswelt in seinem vielleicht besten Roman „Alles, was wir geben mussten" von 2005, in der die Klone aufwachsen, die später als Ersatzteillager für die Menschen da draußen herhalten müssen, ist so echt und durch ihre leise Unabgründigkeit besonders abgründig.

    Wenn Ishiguro flüstert, geht das dem Leser durch Mark und Bein. Seine Helden sind Ausharrende. Bleibende. Widersteher, eingekapselt in den Entscheidungen von einst. „Mein Thema war nicht der Triumph des menschlichen Geistes, hat Kazuo Ishiguro im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE einmal gesagt. „Mich interessierte vielmehr die menschliche Kapazität, ein grausames Schicksal zu akzeptieren.

    Der Effekt, den das auf den Leser hat, ist der gegenteilige. Die Bücher Ishiguros lesen sich wie eine Aufforderung, das scheinbar Unveränderliche sofort zu ändern. Einmal gefangen von der Melodie seiner Bücher, bleibt man gefesselt. Er schreibe, meinte Ishiguro einmal, weil er immer schon eine bestimmte Melodie in der Welt suche. Und weil er sie nicht finden kann, komponiert er sie selbst. In allen seinen Büchern.

    SPIEGEL 3/1974

    Bob Dylan: Illumination einer Legende

    Kämen die Beatles zurück, die Sensation könnte nicht größer sein: Amerikas Rock-Idol Bob Dylan, seit kurzem Besitzer einer Schallplattenfirma, geht nach acht Jahren wieder auf Tournee. Eine neue Dylan-Biographie enthüllt, wie der „Shakespeare seiner Generation („New York Times) mit Talent und Täuschungen seinen Mythos schuf.

    Acht Jahre lang war er für seine Fans so gut wie unsichtbar: ein lebendiger Mythos - nur selten einmal, gleichsam als Existenznachweis, von Buhnenscheinwerfern erhellt.

    Seit Bob Dylan, 32, im Juli 1966 in der Nähe von Woodstock im US-Bundesstaat New York bei einem Motorradunfall beinahe das Genick gebrochen und sich von der Halswirbelfraktur nur schwer wieder erholt hatte, gab er nur ein einziges offizielles Konzert: 1969 vor 150 000 Zuhörern auf der britischen Isle of Wight.

    Hier und da kletterte er, wie 1971 beim Benefiz-„Concert for Bangla Desh" im New Yorker Madison Square Garden, mit seiner Gitarre unangemeldet auf die Bühne, krächzte ein paar Songs und verschwand wieder in der selbstgewählten Isolation. Präsent war er eigentlich nur im Schallplattenstudio. Doch in seinen spärlichen öffentlichen Äußerungen machte er schon seit langem Andeutungen über ein Comeback.

    Nun ist er zurückgekommen. Am vorletzten Donnerstag begann Dylan im Chicagoer International Amphitheater eine Nordamerika-Tournee, die ihn bis Mitte Februar zu 40 Konzerten in 21 Städten führen wird. Schon in der Premierennacht war klar, daß diese Comeback-Tour als „ein Phänomen ohne Beispiel („New York Times) in die Annalen des Show-Business eingehen wird.

    Niemals zuvor war eine so ausgedehnte Veranstaltungs-Serie so schnell ausverkauft: am 2. Dezember binnen einer Stunde zwischen null und ein Uhr nachts. Da die Veranstalter nur brieflich Kartenbestellungen akzeptierten und der Poststempel die Reihenfolge bestimmte, bildeten sich zu dieser Zeit vor den US-Postämtern lange Schlangen von Fans. In manchen Städten waren eigens Briefkästen für Dylan-Post aufgestellt worden. Insgesamt gingen für die 658 000 verfügbaren Sitzplätze der Tournee mehr als fünf Millionen Kartenwünsche ein. Bis 100 Dollar kletterte der Preis pro Ticket auf dem schwarzen Markt.

    Als der Rock-Heros in Jeans dann endlich auf der mit Sofa und Hutständer dekorierten Bühne des Chicagoer Sportstadions erschien und zur unverstärkten Gitarre seine berühmte Textzeile „Auch der Präsident der Vereinigten Staaten steht manchmal nackt da (aus dem Stück „It's allright Ma, I'm only bleeding) intonierte, huldigten ihm fast 20 000 Konzertbesucher wie einer Kultfigur. Als er nach einer konzentrierten Zweieinhalbstunden-Musikshow ohne Verbeugung mit seinem prominenten Begleitensemble The Band „Like A Rolling Stone" (Songtitel) gerockt hatte, erhoben sich die 20 000 von den Stühlen und illuminierten - als sei Beifall nicht genug - die Halle mit Streichhölzern und Feuerzeugen.

    „Es war, sagt der Impresario Bill Graham, „ein beinahe religiöses Ritual. Auch wenn die Beatles auf die Bühne zurückkehrten, könnte die Sensation nicht größer sein.

    Tatsächlich gibt es in der Popmusik der letzten zwölf Jahre außer den Beatles wohl keinen Entertainer, dessen Charisma sich mit dem von Bob Dylan vergleichen läßt. Kein Rock-Autor und -Interpret hat die kollektiven Mythen und Emotionen der Zeit mit einem solchen Bilder- und Assoziationsreichtum ausgedrückt wie dieser „Shakespeare seiner Generation („New York Times): keiner hat so viele Stile geprägt und Trends ausgelöst.

    Mit seinen Protestsongs „Blowin' in the Wind, „Masters of War. „A Hard Rain's A-Gonna Fall oder „The Times They Are A-Changin' setzte er sich Anfang der sechziger Jahre an die Spitze der US-Folksong-Bewegung und inspirierte Friedensmärsche und Bürgerrechts-Demonstrationen. 1965 koppelte er seine Gitarre beim Newport Folk Festival an einen Elektro-Verstärker und löste damit ein gewaltiges Echo auf den internationalen Beat-Bühnen aus.

    In den Liedern, die er fortan vortrug, zeichnete er mit dunklen Tonfarben ein apokalyptisches Zivilisationsporträt voller Drogen-Metaphern, surrealistischer Satire und wüster Traum-Poesie. „Seine Lyrik, urteilte „Time, sei ein „kunstvolles Chaos, das klang, als sänge Rimbaud Rock'n'Roll".

    Drei Jahre später, nach seinem Motorradunfall, erlangte seine Song-Dichtung eine zeitlose, bisweilen beinahe biblische Moralität. Auf der 1968 in Nashville in Tennessee zu abgeklärter Hillbilly-Begleitung aufgenommenen Platte „John Wesley Harding" philosophierte Dylan über arme Einwanderer und einsame Tramps. Wiederum hatte er binnen kurzem den sensibleren Teil der Rock-Interpreten in seinem Sinne umgestimmt: Auf das psychedelische Elektronik-Inferno folgte eine Periode leiserer Töne und einer Rückbesinnung auf die Country-Tradition.

    Selbst sein umstrittenes Doppelalbum „Self Portrait (1970), auf dessen selbstgemaltem Cover er sich als Clown vorstellte, blieb nicht ohne Folgen: Dylan artikulierte damals zum Verdruß der Kritiker mit Bing-Crosby-Tremolo Uralt-Schlager wie „Blue Moon und Folk-Evergreens wie „Gotta Travel On" - eine Repertoire-Auswahl, die seither von vielen Popmusik-Nostalgikern nachgeahmt worden ist.

    „Mein Song, so hatte er sich allzeit gewünscht, „sei jedermanns Song. Doch für eine Weile schien es, als sei jedermanns Song auch Bob Dylans Song. Das ist vorbei. Seine nasale Stimme schnarrt wieder wie ehedem bissig und aggressiv, mit Blues-Tonfarben und der unverwechselbaren Hinterwäldler-Diktion. Auch die neuen Lieder, die er nun neben früheren Top-Hits anstimmt, sind wie einst überwiegend brillant formuliert.

    Am Donnerstag dieser Woche bringt Dylan in den USA zehn dieser neuen Gesänge unter dem LP-Titel „Planet Waves ins Musikgeschäft - erstmals auf der eigenen Schallplattenmarke „Ashes and Sand, die von der Firma Elektra/Asylum vertrieben wird.

    Der CBS-Konzern, bei dem der Sänger seit 1961 unter Exklusivvertrag stand, hatte schon vor Weihnachten das Album „Dylan" mit älteren, vordem unveröffentlichten Aufnahmen auf den Markt geworfen - ausnahmslos Texte und Melodien anderer Autoren, die Dylan lediglich interpretierte.

    „Dieser Mann, so kommentierte ein CBS-Sprecher den Verlust des umsatzstarken Interpreten, „hat die internationale Popmusik um unsterbliche Beiträge bereichert. Und wir haben die Schallplatten, die es beweisen. Für die 15 bislang veröffentlichten LPs erwartet CBS durch Dylans neuerliche Aktivität „einen gewaltigen Push" - Für zumindest sieben weitere Alben hat die Firma Tonbänder im Archiv.

    Ein halbes Jahr hatte Dylan den geplanten Start einer eigenen Plattenproduktion sowie seine Vertriebsverhandlungen mit CBS und Elektra/Asylum streng geheimgehalten. Der New Yorker Buchverlag Knopf, der Ende 1973 sämtliche Songtexte und Poeme des Rock-Literaten mit Illustrationen des Autors edierte, durfte mit keinem Wort auf das bevorstehende Comeback verweisen.

    Auch die Tournee-Vorbereitungen gehörten zu den bestgehüteten Geheimnissen der US-Unterhaltungsindustrie. Als Impresario Graham, ehemals Besitzer der „Fillmore-Rocktheater in San Francisco und New York, letzten Kerbst Amerikas größte Sportstadien buchte, gab er nicht einmal den Hallenbesitzern den Namen des Interpreten bekannt. Dylans „Planet Waves-Plattenaufnahme in einem Studio in Los Angeles (er lebt gegenwärtig im kalifornischen Ort Malibu) sowie die Tournee-Proben in Inglewood wurden in Geheimdienstmanier von der Öffentlichkeit abgeschirmt.

    Während der Konzertreise dauert das Mysterium an. Dylan stellt sich keinem Photographen und (außer einem oder zwei alten Freunden) keinem Reporter. Sein Management verhindert private Kontakte hinter den Bühnen und in den verschwiegenen Hotels. Spezielle Sicherheitskräfte sorgen dafür, daß kein Film- oder TV-Kameramann eine der Konzerthallen betritt.

    Schon immer war der Sänger mit dem bürgerlichen Namen Robert Zimmerman, wie der New Yorker Ex-Gerichtsreporter Anthony Scaduto in einer Dylan-Biographie nachgewiesen hat, ein „Manipulator von Ereignissen, Medien und Menschen"*. Und die Art, wie er aus Legenden, Täuschungen und Maskeraden sein Image schuf, ist so kunstvoll wie seine Poesie.

    Von der Wahl des Pseudonyms Dylan (nach dem an Trunksucht verendeten walisischen Dichter Dylan Thomas) bis zur Taktik, Interviews nur selten und nur gegen die Zusage einer Zensurmöglichkeit zu gewähren, von der Mystifizierung seiner Herkunft bis zur Selbststilisierung als großer Einsamer hat der Sohn eines jüdischen Kaufmanns aus der Minnesota-Kleinstadt Hibbing mit großer Energie stets nur das eine Ziel verfolgt: berühmter zu werden als Elvis Presley und „einen Charakter zu erschaffen, der sich verkaufen läßt" (so Dylan 1961 zu einem Freund in Minneapolis).

    Dazu studierte er Leben und Fama tragischer Pop-Idole wie James Dean und Buddy Holly so intensiv, daß er später mühelos in ihre gesellschaftlichen Rollen schlüpfen konnte. Zudem adaptierte er Sprechweise und Gesangsdiktion des legendären, schon damals unheilbar kranken Volkssängers Woody Guthrie (den er 1961 in East Orange in New Jersey besuchte) sowie manchen Chaplin-Grotesk-Gag.

    Folksong-Interpreten wie Dave Van Ronk und Jack Elliott, die dem Provinz-Frischling in New York den Weg ebneten, kopierte er so lange, bis er über ihre Technik und ihr Repertoire hinausgewachsen war. Später urteilte er in Interviews eher abfällig über seine Lehrmeister: „Jack Elliott lehrte mich keine Songs, er kennt gar nicht viele Songs. Der Folk-Impresario Izzy Young, der Dylans erstes Konzert in New York veranstaltete, nennt das „ein frühes Beispiel für Dylans Killer-Instinkt.

    Kaum eine der Geschichten, die Dylan über seine Jugendjahre verbreitete, war wahr. Doch sie alle bezweckten - und bewirkten - eins: den jungen Sänger und Gitarristen als archetypischen Folk-, Blues- und Rockinterpreten erscheinen zu lassen, der Tradition und Lebensstil von Amerikas Musik-Outcasts frühzeitig aufgesogen hatte.

    Er sei ein Waisenkind aus Oklahoma, so stellte er sich vor; seine einzigen Verwandten seien ein Spieler in Las Vegas, ein Sioux-Indianer und ein professioneller Dieb. In einer anderen Version wollte er aus Gallup, New Mexico, stammen; einer dritten zufolge, die in seine offizielle CBS-Pressebiographie aufgenommen wurde, sei er seinen Eltern in Hibbing seit seinem zehnten Lebensjahr siebenmal davongelaufen.

    Auf seinen erdichteten Trampfahrten durch die US-Südstaaten, teils mit wandernden Schaustellern, will er von prominenten schwarzen Sängern wie Big Joe Williams, Mance Lipscomb und Jesse Fuller den Blues gelernt haben; sein Idol Woody Guthrie habe er schon als Zehnjähriger in Kalifornien kennengelernt. Auf Schallplatten der Rock'n'Roller Elvis Presley und Bobby Vee, so renommierte er, habe er als Pianist mitgespielt.

    Ähnlich unbefangen ergriff Bob Dylan von alten Folkloremelodien und den dazugehörigen Legenden Besitz. Den „Dinks Blues, schwadronierte er, habe er „von einer schwarzen Lady namens Dink gelernt. Richtig ist, daß er dieses Stück einer Folksong-Anthologie entnahm, deren Herausgeber dazu die gleiche Story von der Lady Dink überlieferten - aus dem Jahr 1904. Noch im „Self Portrait gab er sich als Komponist des Blues „It Hurts Me Too Much aus, den der schwarze Sänger Elmore James bereits 30 Jahre vorher aufgenommen hatte.

    „Nach einer Weile, so zitiert Biograph Scaduto einen Dylan-Schulfreund aus Hibbing, „scheint er nicht mehr gewußt zu haben, was Wirklichkeit war und was Erfindung. Und gewiß hätte er seinen Mythos über die Jahre hin nicht aufrechterhalten können, hätte er - als ein Meister der Phantasie und des schönen Scheins - nicht zumindest partiell an seine eigenen Märchen geglaubt.

    Seine Rolle war die eines dem Alltag Entrückten, eines Außenseiters, der noch zu einer Zeit, als er bereits mehrere 100 000 Dollar pro Jahr verdiente. mit acht Pfund Gepäck in einem Leinenbeutel auf Europareise ging. Und bereitwillig ließ er, nachdem er sich mit seiner Triumph-500-Maschine überschlagen hatte, die Gerüchte gedeihen, er sei gehörlos geworden, schwachsinnig oder sogar schon tot. Sein Privatleben, er ist verheiratet und hat fünf Kinder, tauchte er in ein totales Informations-Blackout. Dies alles in Verbindung mit seinen dunklen, vieldeutigen Versen, „in denen es genug freie Assoziationen gibt, um zehn Psychiater einen Monat zu beschäftigen („New York Times), hat ihn denn auch zum Spekulationsobjekt selbsternannter Dylan-Forscher gemacht.

    Der publicityfreudigste unter ihnen, Alan J. Weberman, glaubt mit Hilfe einer Konkordanz sämtlicher in der Dylan-Lyrik vorkommenden Vokabeln und deren (eingebildeter) Bedeutung nachweisen zu können, daß der Sänger heroinsüchtig sei. Weberman, der sein mit Haßliebe verfolgtes Idol durch eine Aktion „Free Dylan aus der angeblichen Sklaverei von Dealern und der Musikindustrie befreien und auf den linken, revolutionären Weg zurückführen will, durchstöberte auf der Suche nach Indizien sogar Dylans Müll und inserierte im Undergroundblatt „East Village Other nach „einer Probe von Dylans Urin".

    Es gibt Anzeichen dafür, daß Dylans Mythos mit all seinen entnervenden Begleiterscheinungen für den Mann, der ihn so clever hervorgebracht und gepflegt hat, schon seit langem zu schwer, zu erdrückend geworden ist. Im „Wedding Song der neuen „Planet Waves-Platte weist er die Rolle eines revolutionären Herolds seiner Generation ausdrücklich zurück:

    lt's never been my duty

    To remake the world at large

    Nor is it my intention

    To sound the battle charge.

    Durch seine Filmrolle in Sam Peckinpahs Western „Pat Garrett and Billy the Kid sowie den dazu komponierten schwachen Soundtrack betreibe er - so John Landau in der Zeitschrift „Rolling Stone - „die Demythologisierung seines legendären Status bis zum Extrem. Daß er nun mit der Gründung einer eigenen Plattenfirma demonstrativ ins Musikgeschäft geht, läßt den gleichen Schluß zu. „Ich stehe, erklärt er heute, „auf keinem Altar, ich arbeite auf dem Marktplatz."

    Dylan war unbestritten der erste Poet von Format, der sich der Massenmedien zu bedienen wußte und seine Lyrik durch die Jukeboxen der ganzen Welt verbreitete. Seine Musik gilt, wie es 1970 in der Laudatio zur Ehrendoktor Verleihung durch die Princeton University hieß, „als authentischer Ausdruck des Selbstverständnisses von Amerikas unruhiger und betroffener junger Generation". Doch er wollte ein zweiter Presley werden und kein Messias.

    „I'm a song and dance man, pflegte er in den letzten Jahren immer wieder zu betonen: „Interpretiert meine Lieder nicht, sie haben keine versteckte Bedeutung, sie sind nur Worte. Und im Song „The Man In Me sang er 1970, er erstrebe Unsichtbarkeit, um nicht von der „Maschine des öffentlichen Interesses zerrieben zu werden. Dylan weiß aber auch, daß er dieser Maschine bei allem Bemühen nicht mehr entkommen kann. Daher flieht er gegenwärtig nach vorn: in die anstrengendste Tournee seiner Karriere.

    Mag sein, daß er lediglich kassieren will, was ihm Amerikas Rock-Szene angesichts seiner stilbildenden und umsatzfördernden Beiträge schuldet - die Tour bringt ihm bei einem Gesamtvolumen von rund fünf Millionen etwa 2,5 Millionen Dollar ein. Mag aber auch sein, daß er damit einen weiteren massiven Stein in sein Denkmal fügt, das ihn einmal überdauern soll.

    Die Inschrift für dieses Monument hat er in seinem Prosawerk „Tarantula jedenfalls schon geprägt: „Hier ruht Bob Dylan, zerstört durch Wiener Höflichkeit, ermordet von Ödipus, der einen Geist stellen wollte und dabei entdecken mußte, daß es den Geist in vielerlei Gestalten gab.

    * Anthony Scaduto: „Bob Dylan". Verlag Grosset & Dunlap, New York: 280 Seiten; 795 Dollar.

    Kultur

    SPIEGEL 35/2013

    Rote Seelen

    Seit über 30 Jahren schreibt die weißrussische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch an ihrer Chronik des Sowjetmenschen. Ihr neues Buch handelt vom Leben in den Trümmern des Sozialismus - und davon, wie wenig sich bis heute verändert hat. Von Tobias Rapp

    Wenn Swetlana Alexijewitsch morgens aus ihrem Küchenfenster schaut, kann sie Alexander Lukaschenko zur Arbeit fahren sehen. Für eine halbe Stunde wird dann die große Straße abgesperrt, die vom Norden Minsks ins Zentrum führt, und Lukaschenkos Autokolonne saust vorbei.

    Es ist nicht wie im durchkapitalisierten Moskau, wo man sich das Privileg, ungehindert durch den Verkehr zu rasen, für viel Geld kaufen kann und für etwas weniger immerhin die Erlaubnis bekommt, rote Ampeln zu missachten. In Weißrussland darf das nur einer: der Präsident.

    Die „letzte Diktatur Europas" wird dieses Land oft genannt. Das hat mit den zahlreichen Menschenrechtsverletzungen zu tun, die Lukaschenko begangen hat, seit er Mitte der neunziger Jahre die Macht übernahm. Und mit der umfassenden Zensur, den verschwundenen Gegnern seiner Politik, dem Wahlbetrug und den zusammengeknüppelten Oppositionellen.

    Aber nicht nur.

    Weißrussland ist so etwas wie die letzte europäische Sowjetrepublik. Auf Bauzäunen in Minsk prangen Rote Sterne und keine Werbeplakate. Der 7. November ist noch Feiertag, selbst in Russland wird der Jahrestag des Sturms auf das Winterpalais, mit dem die Russische Revolution begann, nicht mehr offiziell begangen. Während die meisten anderen Diktatoren heute versuchen, sich an die westlichen Sprachgepflogenheiten zu halten, und von Demokratie und Investitionsbedingungen reden, wirkt Lukaschenko eher wie ein Mini-Stalin.

    „Der Sowjetmensch hat in Weißrussland überlebt", sagt Swetlana Alexijewitsch. Seine Geschichte zu erzählen ist ihr Lebensprojekt.

    Der Sowjetmensch? Kaum eine Figur des 20. Jahrhunderts scheint einem Westeuropäer heute ferner. Mehr als 20 Jahre ist es nun her, dass über dem Kreml die Rote Fahne eingeholt wurde. Trotz der weltweiten Finanzkrise probt niemand die Weltrevolution. Sogar radikale Linke posten auf Facebook. Das Glück, für eine Idee sein Leben opfern zu wollen, ist aus dem westlichen Leben fast vollständig verschwunden. Niemand glaubt noch,

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