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Hotel Berlin
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eBook328 Seiten9 Stunden

Hotel Berlin

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Über dieses E-Book

"Die Frage, die mich Tag und Nacht nicht in Ruhe ließ, war: Wie sieht es jetzt in Deutschland aus? Was denken, fühlen, fürchten und hoffen die Deutschen in einem Augenblick, da schon die ganze Welt das Menetekel an der Wand lesen kann?"

Vierundzwanzig Stunden in einem Luxus-Hotel in Berlin in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs. Draußen fallen Bomben, drinnen haben die Nazigrößen ihr halboffizielles Quartier eingerichtet. Aber auch andere Menschen unterschiedlichster Herkunft finden Zuflucht im Hotel, darunter eine bekannte Schauspielerin namens Lisa Dorn, eine schillernde Figur, Freundin diverser Generäle. Sie entdeckt zufällig, dass sich in ihrem Zimmer der weithin gesuchte Student Martin Richter verbirgt, der kurz vor seiner geplanten Hinrichtung aus den Fängen der Gestapo fliehen konnte. Statt ihn zu verraten, versteckt sie ihn, und während draußen die Welt untergeht, verlieben sich die beiden ineinander …

Ein temporeicher Schicksalsroman, den man atemlos und mit Tränen in den Augen verschlingt.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum27. Apr. 2018
ISBN9783803142375
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    Buchvorschau

    Hotel Berlin - Vicki Baum

    E-Book-Ausgabe 2021

    © 1944 by Vicki Baum, renewed by Valentina Lert & Peter S. Lert

    © 2018, 2021 für die deutsche Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40 / 41, 10719 Berlin

    Aus dem amerikanischen Englisch von Grete Dupont

    Covergestaltung Julie August unter Verwendung eines Aquarells von Lindegreen (Bildpostkarte um 1928)/akg-images. Reihenkonzept von Rainer Groothius. Das Karnickel zeichnete Horst Rudolph.

    Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

    Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

    ISBN: 9783803142375

    Auch in gedruckter Form erhältlich: 97 8 3 8031 2840 9

    http://www.wagenbach.de/​

    ________ EINLEITUNG

    Ich glaube, daß fast jeder Schriftsteller eine Geographie ganz persönlicher Art mit sich herumträgt, eine kleine Welt, in der Landschaften, Städte, Gärten, Häuser, Zimmer mit Wesen seiner eigenen Fantasie bevölkert sind. Über Wochen, Monate, Jahre hinweg verbringt der Schriftsteller sein Leben mit den Gestalten seiner Fantasie so an erdachten Schauplätzen, die er erst verlassen kann, wenn das Buch beendet ist.

    Nun denn, vor fast zwanzig Jahren verbrachte ich einige Monate an einem solchen Ort meiner Fantasie, und ich taufte ihn ›Grand Hotel‹. Mein Hotel existierte nicht wirklich, es hatte nichts mit dem ›Adlon‹ oder dem ›Eden‹ zu tun, obwohl es ganz bestimmt in Berlin stand. Es war eine Mischung aus den europäischen Hotels, die ich kannte. Ich nannte mein Buch ›Menschen im Hotel‹, und späterhin wurde es als ›Grand Hotel‹ ein internationaler Erfolg. Man machte ein Theaterstück daraus, einen Film, und nebenbei war es auch der Anlaß meiner Auswanderung nach den Vereinigten Staaten im Jahre 1931, zu einer Zeit, da Hitler nichts war als ein fernes Wetterleuchten am Horizont.

    Ich weiß nicht, wie andere Schriftsteller an die Arbeit gehen; für mich beginnt alles Schreiben mit einer Frage – einer Frage von der Hartnäckigkeit eines Bohrwurmes. Im Falle des vorliegenden Buches begann sich eine solche Frage um die Zeit in meinem Kopf festzusetzen, als die Alliierten in Sizilien landeten. Die Frage, die mich Tag und Nacht nicht in Ruhe ließ, war: Wie sieht es jetzt in Deutschland aus? Was denken, fühlen, fürchten und hoffen die Deutschen in einem Augenblick, da schon die ganze Welt das Menetekel an der Wand lesen kann? Mit anderen Worten: Was geht zu diesem Zeitpunkt in meinem ›Grand Hotel‹ vor?

    Die Antwort darauf gab ich mir in diesem Buch, das damit also eigentlich der zweite Teil von ›Menschen im Hotel‹ ist. Wie zuvor war mir das Hotel mehr oder weniger das Symbol für einen Ort, wo alle möglichen Menschen einander begegnen, wo ihre Wege sich kreuzen und wieder trennen. Da es mir nicht möglich war, nach Deutschland zurückzukehren, wo ich ebensoviele Jahre gelebt hatte wie in meinem Geburtsland Österreich und in meiner neuen Wahlheimat, den Vereinigten Staaten, versetzte ich mich im Geist dorthin. Ich sammelte jedes Fetzchen Information, das ich mir über Deutschland verschaffen konnte; es ist überflüssig zu sagen, daß die meisten dieser Berichte auf verschlungenen Wegen zu mir kamen: durch Mitglieder verschiedener Widerstandsbewegungen; als Mitteilungen, die aus Deutschland herausgeschmuggelt wurden, in Briefen und Erzählungen deutscher Kriegsgefangener, in Gesprächen mit Menschen, die in Gestapokellern gefoltert, in Konzentrationslagern bis an den Rand des Todes gebracht worden und durch irgendein Wunder entkommen waren. Ich erinnerte mich all der Deutschen, die ich gut gekannt hatte, vom Diplomaten über den General bis zum Gassenjungen; ich verglich die trübselige Wahrheit der Lage Deutschlands mit der aufgeblasenen Propaganda und gedachte der hoffnungslosen Unwissenheit, in der das deutsche Volk gehalten wurde. All dies versuchte ich, in meinem Buch lebendig zu machen.

    Es ist eine Handlung, die sich innerhalb von vierundzwanzig Stunden entfaltet und die unaufhaltsam der Katastrophe entgegentreibt. Heute, nachdem alles sich so tragisch erfüllt hat, was damals nur eine Ahnung war, scheint es mir bemerkenswert, daß zu der Zeit, da ich das Buch schrieb, nämlich im Frühsommer 1943, noch nichts von all dem geschehen war, was ich in meinem Buch schildere. Die schweren Fliegerangriffe auf Berlin, die Verschwörung der Generäle, der ganze Zerfall mit dem schließlichen Zusammenbruch des Dritten Reiches kamen erst später – aber sie kamen. Die ganze Welt sah die Vorzeichen und wußte, daß es so kommen mußte, nur die Deutschen glaubten nicht daran.

    Ich möchte ein paar Worte zitieren, die ich diesem Buch voranschickte, als ich es mitten im Krieg in New York veröffentlichte. Damals schrieb ich: »Wie sehr auch die Nazis die äußere Lebensform der Deutschen verändert haben mögen, ich weiß, daß die Menschen im Grunde die gleichen geblieben sind. Der Nationalcharakter eines Volkes ist stärker als jene Veränderungen, die sich unter dem Einfluß irgendeiner zeitweiligen politischen Macht an der Oberfläche zeigen mögen. Zwar ist das Dritte Reich mit seinem seltsamen Gemisch aus Organisation und mystischem Schwulst, aus Sentimentalität und rücksichtsloser Brutalität eine Ausgeburt des deutschen Charakters. Aber zu denken, daß der Feind ausschließlich bösartig sei, ein bocksfüßiger Teufel sozusagen, das wäre eine gefährliche Simplifizierung. Ich gestehe, daß ich diese Simplifizierung, die eine Flut falscher Rückschlüsse hinsichtlich der Deutschen bewirkte, müde bin. Ich bin der Ansicht, daß man auch in einem Krieg nicht vergessen darf, daß es Menschen sind, aus denen eine Nation besteht, und daß die Menschen überall auf der Welt einander gleichen. Ausschließlich schlechte Menschen sind ebenso selten wie ausschließlich gute, hier sowohl wie im Feindesland.

    Das politische Klima des gegenwärtigen Deutschland ist anti-revolutionär. Ich glaube nicht, daß die Deutschen – ihrer Natur und Tradition nach eher gewöhnt, zu gehorchen als zu rebellieren – die Energie und Entschlossenheit aufbringen, die nötig ist, um die Naziherrschaft zu brechen. Die Alliierten werden das für sie tun müssen.«

    Auch heute habe ich dem wenig hinzuzufügen, es sei denn, daß ich wünschte, die Deutschen wie ihre früheren Kriegsgegner würden einen klareren Unterschied zwischen Schuld und Verantwortung machen. Die Schuld am Krieg lag und liegt bei den deutschen Führern, die ohne jeden Grund die ganze Welt in dieses entsetzliche Elend stürzten. Aber die Verantwortung für den vernichtenden Ausgang dieses Krieges liegt beim deutschen Volk, das weder den Mut noch den Wunsch hatte, diese Führer abzusetzen, solange es noch Zeit dazu war. Und mein Buch will nichts weiter sein als ein kleiner, vielleicht sogar etwas getrübter Spiegel, in dem sich das Antlitz Deutschlands spiegelt, so wie es zwei Jahre vor Kriegsende aussah.

    Vicki Baum

    Los Angeles, September 1946

    ________ HOTEL BERLIN

    Hotelportier Peter Schmidt zwängte eine Trittleiter in den engen Raum hinter dem Empfangstresen und machte sich daran, das Bild wieder aufzuhängen, das bei der ersten schwachen Erschütterung, die die Flakabwehr bewirkte, von der Wand gefallen war.

    »Dat is schon das dritte Mal in vierzehn Tagen, dat er auf die Neese jefallen is«, meinte er, als er das Bild aufhob und mit dem Ärmel über das Glas wischte. Es handelte sich um ein offizielles, höchst schmeichelhaftes Porträt des Führers, auf dem das schäbige kleine Lächeln um den schlaffen Mund wegretuschiert war; der ordinären Nase hatte man edlere Linien verliehen, und die verschwommenen Augen in dem aufgedunsenen Gesicht waren von visionärem Feuer erfüllt. So populär war diese Ausgabe vom Antlitz des Führers in ganz Europa geworden, daß die Leute vergessen hatten, wie der Mann wirklich aussah. Aber das war schließlich ein Trick aller Diktatoren, von Cäsar angefangen über Napoleon … Schmidt betrachtete das Bild mit leichtem Widerwillen, kletterte auf seine kleine Leiter und begann nach einem Fleckchen zu suchen, wo sich der Nagel in die Wand schlagen ließ. »Nischt wie Löcher – der hält bestimmt keinen Luftangriff mehr aus«, brummte er. Er hielt ein paar krumme Nägel zwischen den Lippen, während er versuchte, einen Nagel geradezuhämmern. Neue Nägel waren schwer zu kriegen.

    »Ausgeschlossen, daß sie heute nacht durchkommen! Gegen unsere fabelhaften neuen Flugzeugabwehrgeschütze? Vollkommen ausgeschlossen!« versicherte Hilfsempfangschef Ahlsen; er trug das Parteiabzeichen und entnahm seine Kenntnisse den Leitartikeln in Goebbels’ »Das Reich«. Herr Kliebert kam aus seinem Verschlag hinter der Glaswand, um Schmidt bei der Arbeit zu beaufsichtigen. Andere bei der Arbeit zu beaufsichtigen, darin war Herr Kliebert groß. Ehemals Bürgermeister einer kleinen Provinzstadt, war er in der Weimarer Republik in Pension gegangen und hatte späterhin den Aufstieg der Nazis verschüchtert und bestürzt beobachtet. Nun, da alle jüngeren Männer eingezogen waren, hatte man ihn hervorgeholt, ihn, samt seinem altmodischen Gehrock und der umständlichen Würde, und hatte ihn als höchst untüchtigen Empfangschef hinter den Tresen des Hotels gesteckt, das ganze Hotel wurde von alten Männern besorgt, von alten, kränklichen und invaliden Männern, untauglich für die männlich-hehre Aufgabe, den Krieg zu gewinnen. Schmidt war der einzige halbwegs junge, deshalb waren ihm die Pflichten derjenigen zugefallen, die draußen waren. Aber nun hatte auch er seine Vorladung zur militärärztlichen Untersuchung bekommen. Er hämmerte seine Wut gegen die Wand.

    »Zu Lebzeiten meines seligen Vaters hatten se den ollen Bismarck hier hängen, und als ich Page im Hotel war, den Kaiser. Dann, nach dem vorigen Krieg, war das Bild von Hindenburg an der Reihe – na, und jetzt ham se Hitler. Bin bloß gespannt auf den nächsten!« brummte er.

    Sieben Minuten vor acht hatten die Sirenen losgeheult; die Bevölkerung von Berlin hatte sich pflichtgetreu in die Keller oder Luftschutzbunker begeben, denn die Vorschriften waren streng, und Verstöße wurden mit hohen Geldstrafen geahndet. Die Hotelgäste hatte man in den Luftschutzkeller des Hotels gescheucht, dem man vergeblich versucht hatte, das Aussehen einer gemütlichen Ratsstube zu geben. Von ferne hörte man die Flak knattern, und es gab auch ein paar vereinzelte Explosionen, die klangen, als ob ein Riese in seiner Riesenkegelbahn »Alle Neune« schiebe. Die Fenster hatten geklirrt, und des Führers Bild war von der Wand gefallen: Das war alles gewesen. Wie immer während eines Fliegeralarms schien die Hotelhalle wunderlich düster und verlassen: die Lampen verdunkelt, der Rundfunk ausgeschaltet, das Telefon verstummt. Die Bank der Hotelpagen war leer. Eine strenge Vorschrift gebot, daß die Jungens sich während eines Alarms im Luftschutzbunker der Angestellten hinter dem Weinkeller aufzuhalten hatten; der Blumenladen war geschlossen, denn der dürftige Blumenvorrat war schon am frühen Nachmittag ausverkauft gewesen; und die ärmliche Witwe vor dem Zeitungsstand hatte ihren Posten in panischer Flucht verlassen. Überall in dieser Riesenhalle mit den prunkvollen Marmorpfeilern und dem vergoldeten Stuck lauerte der Verfall. Am Fahrstuhl hing ein Schild »Außer Betrieb«. Etliche Fensterscheiben waren seit dem letzten Luftangriff noch nicht wieder verglast, und man hatte sie provisorisch mit Brettern vernagelt. Manche der schweren Brokatvorhänge zeigten Risse, und aus einer Anzahl der tiefen, luxuriösen Sessel quoll die Füllung. Reparaturen waren in diesem kriegszerstörten Land, in dem sogar Nadel und Faden zu den Raritäten gehörten, zum Problem geworden. Der himbeerfarbene Teppich mit dem Ananasmuster war abgetreten und wies große Löcher auf; Herr Kliebert hatte den Versuch unternommen, diese Löcher mit Palmkübeln zu verdecken, aber nun waren die Palmen überall im Weg. Allerdings bestand die Hoffnung, daß dem Hotel bald Ersatzmaterial zugeteilt werden würde, da es in präsentablem Zustand gehalten werden sollte.

    Unter den Nationalsozialisten war das Hotel nach und nach zu einem halboffiziellen Quartier der Regierung geworden; eine elegant ausgestattete Insel in der Misere des übrigen Deutschland. Hier lebte die Hitlerelite; hohe Regierungsbeamte, die sich während der Woche in Berlin aufhielten und nur über das Wochenende ihre Angehörigen auf den herrschaftlichen Gütern besuchten, welche sie mit ihrem allzu neuen Geld erstanden hatten. Schwerindustrielle, die aus ihren Maschinenburgen herausgebombt worden waren; Reiche und Privilegierte, die ihre komfortablen Villenviertel verlassen hatten, weil der Mangel an Automobilen ihre Heime nahezu unzugänglich machte, und die sich die exorbitanten Hotelpreise leisten konnten.

    Hier war es, wo sich die Oberschicht des Dritten Reiches mit Auslandsvertretern traf, um sich mit diesen anzufreunden, sie zu beeinflussen, zu feilschen, zu handeln und zu bestechen. Hier war das Hauptquartier der Quislinge und ihrer Kompagnons; das Hauptquartier der großen und einflußreichen Bankiers und Industriellen, aber auch das der kleinen anrüchigen Agenten fremder Mächte. Hier war der Ort, wo Gerüchte entstanden und unterdrückt wurden, wo man Versprechungen machte und brach, wo man die Vertreter befreundeter Staaten einschüchterte und terrorisierte, wo man den Neutralen schmeichelte und sie zu Geschäften mit dem Dritten Reich überredete. Dieses alte, vornehme, erstklassige Hotel wurde von den Nazis als Schaufenster benutzt, in dem sie ihr neues Deutschland ausstellten; es war ein wichtiges Requisit ihrer Propaganda. Deshalb waren die Weinkeller wohlgefüllt mit den feinsten Weinen, während die Bevölkerung sogar ihre bescheidene Dünnbierration hatte aufgeben müssen. Deshalb wurde die Hotelküche noch immer mit Wildbret, Geflügel und Fisch versorgt, während die Jahre der Unterernährung das Volk zu Abfallsammlern gemacht hatten mit dem steten Drang, etwas zu erhaschen, auszugraben, zu erjagen, zu erstehlen; irgendwo irgend etwas Eßbares aufzutreiben. Ja, dieses Hotel und seine ausgediente Altherrenmannschaft, sie bewahrten Haltung, wenn auch der Teppich Löcher hatte und ein scharfer, bedrohlicher Wind durch die Stadt fegte …

    »Sie wissen ja, was nach dem letzten Luftangriff los war«, sagte Schmidt, als er von seiner Leiter herunterkletterte. »Die Häuser wackelten derart, daß die Bilder vom Führer noch stundenlang danach aus den Fenstern geflogen kamen. Heil Hitler!«

    Herr Kliebert gab vor, nichts gehört zu haben, und tauchte eiligst in seinem Verschlag unter. Aber Ahlsen bemerkte scharf: »Wenn Sie nicht lernen, die Schnauze zu halten, wird Sie eines schönen Tages einer anzeigen, und dann gute Nacht!« Schmidt folgte Ahlsens Blick auf einen untersetzten Mann in engem dunkelblauem Anzug, der neben einem der Marmorpfeiler nahe der Drehtür saß. Er las Zeitung und trank dabei zerstreut ein Glas Bier. Er gehörte zum Inventar des Hotels, war ein verhältnismäßig harmloses Mitglied der Gestapo, dieses tausendköpfigen Ungeheuers.

    »Hinrichs? Ach nee –«, sagte Schmidt. »Der erzählt mir ja immer die neuesten Flüsterwitze. Prost, Hinrichs!«

    »Prost«, erwiderte Hinrichs. Schmidt blieb mit seiner Leiter bei Hinrichs stehen, um sich mit ihm in eine kleine vertrauliche Unterhaltung einzulassen. »Sagense mal, Hinrichs, was geht denn eigentlich hier vor?«

    »Wieso? Was soll denn vorgehen?«

    »Na, Sie wissen schon, was ich meine. Das Polizeikommando, das hier überall herumschnüffelt. Sogar die Kohlen im Heizraum haben sie durchgewühlt.«

    »Was Sie nicht sagen! Also, die sind wahrscheinlich hinter diesem Richter her. Jemand scheint da so ’ne Ahnung zu haben, daß er sich irgendwo hier im Block versteckt hält.«

    »Donnerwetter noch mal! Haltense das für möglich?«

    Hinrichs legte seine Zeitung beiseite, wischte sich mit dem Handrücken den Bierschaum vom Mund und lächelte wissend.

    »Bei mir geht’s nicht um Ahnungen«, sagte er. »Bei mir geht’s um Tatsachen; und Tatsache ist, daß sich hier im Hotel nicht mal ein Floh verstecken kann. Jedenfalls so lange nicht, wie ich und meine Leute hier aufpassen.«

    »Ganz meine Meinung, Hinrichs! Wo sollte sich denn ein entsprungener Sträfling hier auch verstecken?«

    »Andererseits –«, meinte Hinrichs wichtigtuerisch, »andererseits muß man bedenken, daß dieses Gebäude der reine Karnickelbau ist und bis unters Dach vollgestopft mit verdächtigen Figuren. Da muß einer schon ziemlich helle sein, wenn er über alle die Fremden, die Tag und Nacht hier ein und aus gehen, die Kontrolle behalten will. Nehmen Sie nur mal die rumänische Militärkommission! Denen traue ich nicht, wenn’s auch Offiziere sind. Oder gar das ungarische Csárdásorchester! Wozu braucht das Hotel diese verdammte Zigeunerbande? Nur, um’s unsereinem doppelt schwer zu machen.«

    »Das stimmt! Ein wahres Glück, daß wir ’nen Mann wie Sie zur Bewachung hier haben. Lassen Sie bloß mal so ’nen Kerl wie diesen Richter versuchen, sich hier zu verstecken – na, den würden Sie ja wohl bald bei die Hammelbeene kriegen, wie?«

    »Nur immer mit der Ruhe! Den Kerl kriegen wir, wo immer er sich versteckt. Solche Landesverräter müssen ausgerottet werden.«

    »Klar! Na, ich muß weitermachen. Heil Hitler«, sagte Schmidt, nur halb bei der Sache, und trottete davon, um die Trittleiter in die Gerätekammer ins Untergeschoß zu tragen.

    »Haste schon gehört? Das ganze Haus ist voll mit SD. Die glauben, daß der Richter sich hier irgendwo versteckt hält«, berichtete er dem alten Elektriker, der an den zerrissenen Drahtseilen des Personalfahrstuhls herumbastelte.

    »Hoffentlich kriegen sie ihn nicht«, antwortete der Alte ruhig. »Es heißt, der Richter war Frontsoldat und hatte vor Stalingrad gekämpft. Ist doch ’ne Schande, daß sie jetzt schon unsere Frontsoldaten hinrichten müssen, was?«

    »Erst müssen sie’n mal kriegen«, sagte Schmidt. »Wenn sie’n nicht kriegen, können sie’n auch nicht hinrichten.«

    Martin Richter: ein Name, an Mauern gekritzelt, im geheimen geflüstert; gefürchtet, verehrt. Eine Drohung für die einen; für die anderen ein Stern in schlafloser Nacht, ein Hoffnungsstrahl, ein Symbol. »Ihr könnt Richter töten – aber sein Geist wird fortleben«, stand an die Häuserwände geschrieben, an die Wagen der überfüllten Untergrundbahn, auf Parkbänke, Omnibusse, die Marmorsockel überflüssiger Denkmäler. Polizeipatrouillen übertünchten diese Wandschriften, und während der Nacht wurden Wachen an besonders exponierten Plätzen aufgestellt. Dennoch leuchtete es am nächsten Morgen von neuem von den Mauern: »Ihr könnt Richter töten – aber sein Geist wird fortleben.«

    Die Vorübergehenden wagten nicht, stehenzubleiben, sie warfen nur rasche Seitenblicke aus verstörten Augen darauf und gingen weiter. Niemand wußte genau, wer dieser Martin Richter eigentlich war, denn die Behörden hatten Sorge getragen, daß alles, was ihn betraf, unterdrückt wurde. Trotzdem waren Gerüchte aufgekommen, wie sie in unterdrückten Ländern so üppig sprießen: An verschiedenen Universitäten war es zu Studentenunruhen gekommen; man hatte die Anführer verhaftet und versucht, sie mit Gewalt zum Reden zu bringen. Da die jungen Hitzköpfe sich weigerten, Näheres über ihre Organisation auszusagen, war den Behörden nichts anderes übriggeblieben, als sie zum Tod zu verurteilen. Sie waren alle geköpft worden. Alle, bis auf einen: Martin Richter. Ihm war es gelungen, bei der Überführung von einem Gefängnis zum anderen zu entkommen, und nun wurde das Hotel nach ihm durchsucht …

    Als Schmidt von der Gerätekammer zurückkam, schlängelte er sich an den kleinen Tisch in der Ecke der Halle heran, wo Hotelarzt Dr. Hüningen dabei war, eine Patience zu legen. Zu seiner Seite stand auf einem Stuhl sein Notverbandkasten mit Beruhigungsmitteln, Morphium und Spritzen; falls es wirklich einmal ernst werden sollte …

    »Haben Sie schon das Neueste gehört, Herr Doktor?« fragte Schmidt. »Die Polizei durchsucht das Hotel; sie glauben, daß der Richter sich irgendwo in unserem Block versteckt hält.«

    »Das wäre idiotisch von ihm«, sagte Hüningen ohne großes Interesse. Schmidt trat von einem Fuß auf den anderen und seufzte.

    »Na? Was gibt’s?« fragte der Arzt und schob seine Karten zusammen.

    »Ach – bloß wegen meiner ärztlichen Untersuchung, Herr Doktor; ich hab’ doch meine Vorladung für morgen früh um acht«, sagte Schmidt.

    »Gratuliere!« antwortete Dr. Hüningen. »Meine Einberufung kann auch jeden Tag kommen.« Im Knopfloch seines anspruchslosen Zivilanzuges trug er das Band des Eisernen Kreuzes aus dem Ersten Weltkrieg. Er hatte von damals ein steifes Bein zurückbehalten, hinkte und hegte einen nicht benennbaren, aber nichtsdestoweniger hartnäckigen Groll. Als Invalide war er bei der Musterung zurückgewiesen worden. Er war Pazifist, dieser Doktor Hüningen, allerdings ein halbherziger, der gern wieder dabeisein wollte …

    »Hören Sie bloß auf, Herr Doktor, von wegen ›gratulieren‹! Ich hab’ noch die Neese voll vom Ersten Weltkrieg. Ich war dabei, ich kenn’ den Rummel – ich will nicht nach Rußland geschickt werden, damit sie Hackfleisch aus mir machen. Herr Doktor, glauben Sie mir, ich bin einfach untauglich. Ich hab’ doch die ganze Zeit so ’ne Stiche in der linken Seite, ich bin zu alt, um noch mal mitzumachen. Aber Sie wissen ja, wie’s immer geht: Gerade wenn ich bei der Untersuchung meine Stiche vorführen will, werden se weg sein. Herr Doktor …«

    »Na – und?« machte Hüningen abweisend.

    »Ich hatte gedacht, Sie können mir vielleicht was eingeben, Herr Doktor. Da gibt’s doch so ’ne Tropfen – ich kann einfach nicht noch mal Soldat sein, Herr Doktor, ich hab’s satt, ich könnt’s nicht aushalten. Manchmal bin ich so müde und kaputt, daß ich reineweg heulen könnte –«

    Es klang verzweifelt. Alles Neurotiker, das ganze verdammte Herrenvolk, dachte der Arzt.

    »Tut mir leid«, sagte er. »Nichts zu machen, mein Lieber. Von mir werden Sie kein Digitalis bekommen und keine Koffein-Einspritzungen, damit’s ordentlich Stiche in der Herzgrube gibt. Das ist nun mal Ihr Krieg, und Sie haben die Geschichte mit auszufressen. Sind Sie etwa nicht einer von denen, die jahrelang Heil Hitler! geschrien haben? Ihr wart ja so zum Platzen voll mit Kraft durch Freude! Erinnern Sie sich noch an die herrliche Rheinfahrt, von der Sie mir erzählt haben? Jetzt wird Ihnen die Rechnung für jene Reise präsentiert, und Sie müssen zahlen.«

    »Ja – aber das war ganz was anderes –«

    »Natürlich war es ganz was anderes! Es ist immer ganz was anderes, wenn man selber derjenige ist, auf den geschossen wird.« Der Arzt ließ die Karten durch die Finger gleiten und blickte nach der Drehtür hin, in der soeben eine merkwürdige Erscheinung auftauchte. Es war eine alte Frau, die sich in zu großen Männerstiefeln fortbewegte; sie trug eine zerfetzte Uniform und auf dem Kopf einen Helm, wie ihn die Luftschutzwarte benutzten. Mit automatischen Bewegungen schlurrte sie bis zum Empfangstresen, legte einen Stoß Telegramme darauf nieder und hielt Herrn Kliebert einen Block zum Unterschreiben hin.

    »Was gibt’s Neues?« rief Schmidt ihr zu.

    »Es heißt, daß die Tommies über der Lüneburger Heide zurückgejagt worden sind. Wir haben zwanzig oder dreißig von ihren Bombern abgeschossen. In New York ist Revolution ausgebrochen. Die Russen haben gestern achtzigtausend Mann verloren. Und den Richter haben sie noch nicht erwischt«, vermeldete die Frau völlig apathisch. Und, nachdem sie ihre Neuigkeiten mit ausdrucksloser Totengräbermiene abgeliefert hatte, setzte sie sich mit ihren großen Soldatenstiefeln wieder in Bewegung und verschwand. Doktor Hüningen stand auf und streckte sein steifes Bein. Er marschierte den roten Pfeilen nach, die den Weg zum Luftschutzkeller wiesen, und gelangte so auf Umwegen zum Empfangstresen.

    »Telegramm für mich?« fragte er.

    »Leider nichts dabei, Herr Doktor«, erwiderte Ahlsen und schneuzte in sein schmuddliges Taschentuch.

    »Ich erwarte meine Einberufung«, bemerkte Hüningen. »Das Telegramm muß jeden Augenblick eintreffen.«

    »Jawohl, Herr Doktor.«

    »Vergessen Sie nicht, mich sofort zu benachrichtigen, wenn es da ist«, sagte der Arzt und kehrte zu seinem Tisch zurück. Die Pique-Dame starrte ihn mit fadem Lächeln an. Warum liegt mir eigentlich so viel an diesem Telegramm? fragte er sich und zuckte statt einer Antwort ironisch die mageren Schultern. Ich habe ja den anderen Krieg mitgemacht; ich kenne ja schließlich den Betrieb, und, weiß Gott, das alles geht mir gegen den Strich. Aber, du lieber Himmel, man möchte doch dabeisein! Was immer sich dagegen sagen läßt: Es wäre wenigstens ein anständiger Abgang; besser jedenfalls, als in dieser gottverlassenen Hotelhalle zu sitzen, Patience zu legen und darauf zu warten, daß eine Bombe einschlägt. Während er dies dachte, konnte er den süßlich-faulen Gestank eines Feldlazaretts riechen und wurde zu einem Teil des hektischen, aufreibenden Betriebs. Er spürte wieder den Schweiß, der ihm beim Operieren über das Gesicht rann, und hörte die Granaten pfeifen – und seine Kameraden waren um ihn, er war nicht allein, sein Bein war nicht steif, er war kein Krüppel …

    »Nanu – was ist denn das?« fragte er sich, als er seinen Blick in Richtung der abgedunkelten Drehtür wandern ließ. Es hatte ja noch keine Entwarnung gegeben. Daher mußte man sich wundern, daß ein Gast von der menschenleeren Straße hereinkam. Der junge Flieger, den die Drehtür ausspuckte, schien es sehr eilig zu haben. Den Alarm hatte er wohl überhaupt nicht bemerkt. Er marschierte auf den Empfangstresen ein bißchen zu steif zu, so, als wäre er etwas betrunken.

    »Zimmer mit Bad – und erzählen Sie mir nicht, daß es kein warmes Wasser gibt«, sagte er zu Ahlsen. Er war sehr jung, mittelgroß, und seine Taille war so schmal wie die eines jungen Mädchens. Was die Aufmerksamkeit des Arztes fesselte, war das Gesicht; mit den kindlich-unfertigen Zügen hätte es als hübsch gelten können, wären nicht die Augenbrauen und Wimpern abgesengt und die linke Wange sowie das Kinn mit einer weißen Salbe bedeckt gewesen. Das gab dem Gesicht eine geradezu obszöne Nacktheit. Die Augen waren wie auf Hochglanz poliert und wirkten trotzdem leer. Sie erinnerten an die milchigfarbenen Glasmurmeln eines kleinen Jungen. Mit den Handschuhen, die er in seiner linken Hand hielt, schlug der junge Flieger ungeduldig gegen seinen Stiefel; um die rechte war ein schlampiger Verband gewickelt.

    »Bedaure außerordentlich, Herr Oberleutnant«, sagte Ahlsen. »Aber leider Gottes sind alle Zimmer vergeben. In ganz Berlin ist kein Hotelzimmer mehr zu haben, besonders jetzt, da die Ausgebombten von der Ruhr zu uns kommen –«

    »Faule Ausreden!« sagte der Flieger, lehnte sich über den Tresen und streckte sein mit Brandwunden bedecktes Kinn gegen Ahlsens graues, verbindliches Gesicht vor. »Ich verlange ein Zimmer mit Bad, verstanden? Ich bin Oberleutnant Otto Kauders, falls Sie sich meiner nicht erinnern sollten. Nun aber dalli!«

    Oberleutnant Otto Kauders war in den Zeitungen im Zusammenhang mit dem Abschuß einer ungewöhnlichen Anzahl feindlicher Flugzeuge rühmend erwähnt worden. Er hatte das Ritterkreuz erhalten.

    »Jawohl, Herr Oberleutnant, werde mein Äußerstes versuchen, Herr Oberleutnant«, sagte Ahlsen eingeschüchtert.

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