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Libellen im Winter: Roman
Libellen im Winter: Roman
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eBook368 Seiten8 Stunden

Libellen im Winter: Roman

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Über dieses E-Book

Was die drei Frauen zusammenführt und zu Freundinnen fürs Leben macht, sind Männer, der Krieg und ein Toter. Auf einem Feld unweit von Wien wird die Leiche eines amerikanischen Soldaten gefunden. Grete, die als Dolmetscherin für die US-Behörden arbeitet, findet Haare in der Hand des Getöteten, die sie bald auf die Spur von Vera bringen: Diese hat sich inzwischen nach Wien abgesetzt, wo sie Mali kennenlernt, die sie bei sich aufnimmt. Mali wiederum hat sich mit ihrem Sohn Robert vor der Roten Armee zu ihrer Tante in die Stadt geflüchtet. Davongelaufen ist sie auch vor dem Vater des Kindes, der Liebe ihres Lebens, den sie Robert verschweigt, auch dann noch, als er eines Tages vor ihrer Tür steht. Nur mit Vera und Grete teilt Mali ihr Geheimnis. Denn auch die Freundinnen haben welche.Libellen im Winter ist ein Roman über Freundschaft und Aufrichtigkeit, über das Beharren auf Selbstbestimmung und den Willen, sich treu zu bleiben, der Frauen dazu zwingt, sich außerhalb der Normen einzurichten. Damals wie heute.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum23. Feb. 2023
ISBN9783990271933
Libellen im Winter: Roman
Autor

Gudrun Seidenauer

1965 in Salzburg geboren, wo sie Deutsch, Kreatives Schreiben und Literatur unterrichtet. Sie veröffentlicht seit 1990 Prosa und Lyrik und erhielt u.a. den Lyrikpreis des Landes Salzburg. Libellen im Winter ist ihr erster Roman bei Jung und Jung.

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    Buchvorschau

    Libellen im Winter - Gudrun Seidenauer

    1

    »Niemand«, sagt sie, »das ist niemand«, und schließt ihre Finger um sein Handgelenk, zerrt an seinem Arm. Ihre Stimme hat diesen gewissen Ton. Er weiß, er sollte jetzt besser still sein, doch er fängt trotzdem an:

    »Aber der Mann da unten –«

    Der Griff verstärkt sich zu einem Schraubstock. Sie hat kräftige Hände, obwohl sie klein und zart ist. Oft erzählt sie ihm davon, wie sie die Wäsche mit einem Stock im großen Holzzuber schwenkten, vom Brennholzsammeln, von den staubigen Ziegeln im Blechtrog, Tausende Male geschleppte Lasten, zwanzig Schritte hin und zwanzig zurück, zwanzig, genauso alt war sie damals. Zwölf Stück habe sie auf einmal genommen und die anderen höchstens neun. Beim Erzählen wandert ihr Blick so weit fort, dass es ihm Angst macht. Es hilft auch nicht, wenn er sie am Ärmel zieht. Erst wenn sie mit ihrer Geschichte fertig ist, schaut sie ihn wieder an, verwuschelt ihm die Haare, wovon er jedes Mal eine Gänsehaut bekommt, und sagt: »Das kannst du dir alles gar nicht vorstellen«, und er nickt, obwohl das überhaupt nicht stimmt. Er sieht alles vor sich, ohne auch nur die Augen schließen zu müssen: die dünne Eisschicht auf der Waschschüssel am Morgen, den Kalender mit den Alpenblumen im Haus gegenüber, in das man hineinsehen konnte, weil die Fassade von einer Panzerfaust getroffen worden war, die schuttbedeckten Straßen, durch die sie gelaufen ist, eine blasse Prinzessin mit ihm im Bauch. Er riecht die Mischung aus Kohle, Verwesung und Krautsuppe. Er sehnt sich nach dem großen Teddybären, der in dem zerschossenen Haus auf der Kommode lag. Seine Mutter kann nicht nur schwer tragen, sondern auch gut erzählen.

    »Mama, der schaut immer noch zu uns herauf! Wer ist das?«

    Wieder hat er es getan. Wo er doch genau weiß, ob er etwas fragen darf oder nicht. Er hasst sich dafür. Es wäre ihm sogar recht, wenn sie ihn schlagen würde, trotzdem zieht er den Kopf ein. Aber sie schlägt ihn nicht.

    »Robert!« Mehr ist normalerweise nicht nötig. Auch wenn er auf den schmalen Balken, auf denen die Kinder über die Bombentrichter laufen, am wildesten von allen auf und ab wippt und beim Zielspringen vom Mezzanin eines Abbruchhauses immer der Erste ist. Kommt er mit einer Schramme vom Spielen, lacht sie, stößt ihn in die Seite: »Wir zwei, hm? Wir sind keine Weicheier, was?« Weicheier, das ist eines der Wörter, die sie aus ihrer Heimat mitgebracht hat. Es ist nicht so, dass sie ihn auslacht. Sie lacht, weil sie sich ihm nah fühlt, wenn er verletzt ist. So hat das Sich-Wehtun auch sein Gutes. Sie ist anders als all die Mütter, die beim kleinsten Kratzer mit Jodtinktur kommen, endlose Vorträge über die Gefahren da draußen halten und einen zu Hause einsperren. Was wollen die denn? Der Krieg ist vorbei. Die seine ist nicht so, Gott sei Dank. Obwohl er ihr nicht alles erzählt. Zum Beispiel das mit der Handgranate, die einer von ihnen in einem Keller gefunden hat und die sie ohne ein Wort im Kreis herumgereicht haben, immer schneller, bis sie sie einander zugeworfen haben, lachend, keuchend, das blitzende Weiß in den Augen der anderen, und ja nicht blinzeln, der eigene Herzschlag ganz oben im Kopf und Gänsehaut, die schönste, die er je hatte. Als es dunkel wurde, hat er das Ding dann in die Alte Donau geschmissen.

    »Das ist niemand!«, sagt sie stur, und umso bestimmter, als es offensichtlich unwahr ist. Denn da steht einer schon ziemlich lange in der Gasse vor dem Haustor gegenüber und sieht zu ihnen herauf, raucht, dreht sich eine neue Zigarette, tut ein paar Schritte auf und ab, ohne ihr Fenster aus den Augen zu lassen. Er schleift den linken Fuß ein wenig nach.

    Robert stellt sich auf die Zehenspitzen, um ihn besser zu sehen, erwartet eine zornige Reaktion der Mutter, aber die beachtet ihn gar nicht. Er hört, wie sie den Atem aus der Brust presst. Mit einem Ruck zieht sie den Vorhang zu, sodass die zerschlissene Stelle in der Mitte, wo man immer hingreift, mit einem Ratsch aufreißt. Sie, die sich aufregt, wenn er auch nur ein Eselsohr in ein Buch macht. Der Mann dort unten ist grau und braun wie die meisten Männer. Ist er alt? Erwachsene sind entweder alt oder sehr alt. Der ist nicht sehr alt, Stock und Buckel hat er zumindest nicht. Seine Haare sind unter einer Schiebermütze mit Ohrenklappen versteckt, und er bewegt sich, als wäre die Luft um ihn herum dickflüssig.

    Viele machen es so, besonders Männer. Die Frauen mit ihren Taschen und Kindern, die sie hinter sich herzerren, sind viel schneller. Manche der Männer sitzen auf den Parkbänken, die es seit Neuestem gibt, starren in die Luft, rauchen, und die ganz Alten mit den Stöcken ärgern sich, dass die wenigen Plätze besetzt sind. Robert und seine Freunde werfen aus dem Hinterhalt im Gebüsch Kieselsteine nach den Starrern, und nicht selten schnellt so ein Halbtoter, der stundenlang mit grauem Gesicht dagehockt ist, plötzlich hoch, hechtet den Kindern mit rotem Schädel nach, und wenn er eines erwischt, verpasst er ihm eine, die sich gewaschen hat. Einmal ist das Robert auch passiert. Das war an dem Tag, an dem sie das alte Schild fanden, auf dem stand, dass Plündern mit dem Tode bestraft werde. Die Kleineren begannen zu weinen, weil sie Angst vor der Todesstrafe hatten, und er spöttelte, obwohl auch er sich fürchtete. Draußen vergaßen sie es schnell und liefen in den Park, wo sie den Starrer belauerten und schließlich mit einer Schleuder beschossen. Sie nahmen nur die runden Steinchen, nicht die spitzen, die mehr wehtun. Die Ohrfeige war dennoch gewaltig. Ein Zahn fiel ihm aus, zum Glück war es ein Milchzahn.

    Ob der da unten auch so einer ist? Der Mann rollt sich schon wieder eine Zigarette, nachdem er die letzte mit spitzen Fingern zu Ende geraucht, an seiner Schuhsohle ausgedämpft und die restlichen Tabakkrümel in ein geknotetes Taschentuch geschüttelt hat. Er hat einen Rucksack, an den eine zusammengerollte Decke geschnallt ist. Es wird kälter, die Mutter bessert seit Wochen den Holzvorrat auf, und gestern in der Früh, als Robert sich auf den Schulweg machte, war der Atem schon eine Nebelwolke vor dem Gesicht.

    »Mama, bitte!«

    »Sei ruhig!«, zischt sie, ohne den da unten aus den Augen zu lassen, und gräbt ihre Finger an der empfindlichen Stelle zwischen Hals und Schulter unter Roberts Schlüsselbein, sodass ihm einen Moment lang schwarz vor Augen wird. Vielleicht ist es dieser blitzende Schmerz, der ihm ins Hirn fährt, warum er sich losreißt, sich mit seinem ganzen Gewicht gegen das angelehnte Fenster fallen lässt. Die Scheibe knarzt, bricht aber nicht, ein Stück grauen Kitts löst sich aus einer Fuge. Er fegt es von der Fensterbank und brüllt, so laut er kann:

    »Niemand ist niemand! Niemand ist niemand!«

    Die Mutter fährt herum, endlich, hat aber wieder diesen glasigen Blick, und ohne ein Wort holt sie weit aus. Obwohl nur mit der Linken – rechts wäre ihr das Fenster im Weg –, trifft sie ihn hart an der Schläfe. Seine Knie knicken ein. Er spürt nicht, wie er auf dem Boden aufschlägt. Als er wieder zu sich kommt, ist sie über ihm. Eine Strähne hat sich aus ihrer Frisur gelöst und kitzelt sein Gesicht, darüber ihr Trostgeflüster und der Geruch nach der Seife, die sie immer nur sonntags benutzt. Sein Gesicht ist nass, er weiß nicht, ob von ihren oder seinen Tränen. Heute ist Sonntag, fällt ihm ein, sie wollten ins Naturhistorische Museum, wo sie oft hingehen, wenn es regnet. Er liegt im Straßengewand auf dem braunen Samtsofa, auf dem sonst nur Besuch sitzen darf, und den haben sie nicht oft. Wenn er den Kopf nach links dreht, was weniger wehtut, sieht er, dass die Wohnungstür offen steht. Die Mutter drückt ihm das stumpfe Brotmesser, das sie draußen an der Bassena unters kalte Wasser gehalten hat, mit der Schneidefläche an die Wange.

    »Ist er weg?« Jetzt wird sie ihn nicht mehr schlagen. Ihre Augen sind wieder so, wie er sie mag, klar, weich, auf ihn gerichtet. Sie streichelt mit ihrem Handrücken unablässig über seine heile Gesichtshälfte und nickt.

    »Schau, ich hab noch ein Stückchen für dich. Das letzte.«

    Sie wickelt die Blockschokolade aus dem Stanniolpapier und hält es ihm hin.

    »Nein, nimm du es«, sagt er, seine Stimme klingt piepsig. Aber sie schiebt den Würfel an seine Lippen, der Duft ist betörend, es muss Wochen her sein, dass er Schokolade gegessen hat. Weil das Gesicht rechts so schmerzt, widersteht er der Versuchung hineinzubeißen. Er fühlt sich klebrig und feig. Er möchte nachsehen, ob der Fremde wirklich fort ist, aber er traut sich nicht, außerdem ist ihm schwindlig. Sie hat mit der Faust zugeschlagen, das tut sie sonst nie.

    Das Hinken ist schlimmer, als es von oben ausgesehen hat, und größer ist er auch, als Robert gedacht hat.

    »Mali?«

    Die Wohnungstür. Als sie das Messer draußen unter dem fließenden Wasser gekühlt hat, hat sie sie offen stehen gelassen. Es ist die Wohnung der toten Großtante. Er erinnert sich daran, dass sie streng war und dick und dass sie die Mutter Mali nannte. Er hat sie geliebt. Wenn sie ihn an sich zog, war es, als umarmte man einen Gummiball mit Federkissen rundherum, und sie redete mit der Mutter in dem Singsang von früher, in der Sprache von dort, wo sie herkommen, davon hat ihm die Mutter erzählt. Die Tante würde dem Fremden sagen, dass er verschwinden soll. Die Tante hatte Magenschmerzen und Rheuma, aber Oberarmmuskeln wie ein Mann, vom Schuttwegräumen, sagte sie. Aber da sind nur Robert und die Mutter, die reglos dasteht. Sein Blick fällt auf das Küchenmesser, und mit einer schnellen Bewegung hebt er es auf. Weder seine Mutter noch der Mann achten auf ihn.

    »Ich bin lang unterwegs gewesen.«

    Der Fremde redet genau wie Mama, wenn sie nachmacht, wie Tante Ada geredet hat. Er muss einer von dort sein, aus der Heimat. Wenn Robert fragt, wo das ist, dann schüttelt die Mutter den Kopf. »Die Heimat gibt’s nicht mehr.«

    Das versteht Robert nicht. Die Heimat ist doch ein Land. Kann ein Land sterben, verschwinden wie ein Mensch?

    »Mali«, sagt der Fremde noch einmal.

    Robert schiebt das Messer unauffällig unter die Fransenstola, mit der ihn die Mutter zugedeckt hat. Seine rechte Seite pocht noch immer. Der Fremde hat die Mütze abgenommen und dreht sie in den Händen. Als er den Rucksack von den Schultern gleiten lassen will, fragt die Mutter: »Wo ist deine Frau?«

    Der Mann hält in der Bewegung inne, zieht die Schlaufen wieder über die Schultern.

    »Tiefflieger. Sechs Wochen, bevor Schluss war.«

    Die Mutter sagt nichts. Wenn die Frauen miteinander reden, kramen sie alle irgendwann ihre Toten hervor. Es ist, als würden sie sie in ihren Einkaufsoder Handtaschen immer mit sich tragen. Vielleicht werden die Toten in den Taschen unruhig, wenn man sie zu lange drinnen lässt. Dann muss man sie herauslassen, ihre Namen sagen, erzählen, wann, wo und wie sie zu Tode kamen. Der oder die andere antwortet:»Fürchterlich« und »Mein Beileid«, dann beruhigen sie sich und verschwinden wieder für eine Weile. Viele haben auch diese kleinen Bildchen zum Herzeigen, damit geht das Ganze noch besser. Aber der Mann zieht nichts aus der Tasche, und die Mutter sagt nicht, was man sagen müsste.

    »Gut siehst du aus«, sagt der Fremde nach einer Weile und versucht ein Lächeln. Jetzt fällt sein Blick auf Robert.

    »Der deinige?«

    Die Mutter nickt, und als der Fremde ihn mit seiner kratzigen, tiefen Stimme fragt: »Wie heißt du denn?«, macht sie einen großen Schritt Richtung Sofa. Robert muss den Kopf verdrehen, um den Mann überhaupt noch zu sehen.

    »Robert«, sagt Robert leise in den Rücken der Mutter hinein und die Mutter gleichzeitig laut zu dem Fremden: »Hier kannst du nicht bleiben.« Die Stimme der Mutter ist fest, aber ihre Knie beben, und ihr Atem geht flach und schnell. Sie verschränkt die Arme.

    »Ich bin verlobt. Ein Engländer. Wir gehen bald weg.«

    Was redet sie denn da? Onkel John mit den sanften Augen und dem hellen Schnurrbart, der immer Honig, Sardinen in Dosen, sogar Kaffee und Orangen brachte. Und natürlich Schokolade. Er lehrte ihn englische Wörter. Äppl. Sis is ä trie. Mei näm is Robert.

    Wenn er auf Besuch kam, legte Ada immer die Kittelschürze ab und breitete das einzige ungeflickte Leintuch als Tischdecke im Wohnzimmer aus.

    »Sei nicht blöd«, sagte sie zu Mali, »der würde dich sofort nach England mitnehmen, mitsamt dem Kleinen. Das ist ein Guter.«

    Aber die Mutter wollte nicht. Dann wollte Robert auch nicht. Vera, die in dem kleinen Zimmer bei ihnen lebte, war ihnen lieber, auch wenn sie mit ihr nicht nach England fahren konnten.

    »Wir können auch ohne Orangen leben«, flüsterte die Mutter abends, als sie ihn ins Bett brachte.

    »Es gibt allein bei uns eine Viertelmillion mehr Frauen als Männer«, sagte die Tante, »du bist nicht bei Trost.« Mali zuckte mit den Achseln.

    »Ich gebe dir was zu essen mit, und dann gehst du«, sagt sie jetzt, schiebt den Fremden kurzerhand ins Vorzimmer und schließt die Tür. Robert versteht nichts, obwohl er das Ohr fest an die Wohnzimmertür presst. Ein paarmal geht es hin und her, dann redet nur mehr der Fremde. Eine Schublade wird aufgezogen und wieder zugeworfen. Etwas klirrt. Robert rennt zum Sofa, schiebt das Messer unter sein Hemd und öffnet die Tür einen Spalt. Die Angel quietscht, aber sie bemerken ihn nicht. Er sieht, wie die Mutter dem Mann ein in Butterbrotpapier eingeschlagenes Päckchen in die Hand drückt und obenauf zwei Dosen Sardinen.

    »Wenn es mit der Arbeit läuft, schicke ich Geld«, sagt er, macht eine Hand frei und streckt sie nach der Mutter aus. Obwohl er etwas verspricht, klingt es, als würde er bitten.

    »Lass uns in Ruhe«, sagt sie gefährlich leise. Seine Hand fällt herab, das Gesicht ist noch grauer als vorhin. Er hebt mit einer müden Geste den Arm, als traue er sich nicht einmal mehr zu grüßen.

    Die Mutter drückt die Tür hinter ihm zu, lauscht den sich entfernenden, schleifenden Schritten nach. Das Hinken, man kann es gut erkennen. Erst als nichts mehr zu hören ist, kommt sie ins Wohnzimmer zurück, sieht Robert mit dem Küchenmesser unter dem Hemd, nimmt es ihm weg, schimpft aber nicht.

    »Mama, du weinst.«

    »Aber nein«, sagt sie. »Und wenn, dann nur, weil ich so froh bin, dass ich dich habe. Komm her!«

    Auf dem Sofa ist es ein bisschen eng für sie beide. Aber er muss stillhalten, er weiß, sie muss sich jetzt ausruhen. Das kennt er. Wenn sie so ist und keine Ruhe bekommt, steht sie nachts auf, wandert in der Wohnung umher und ist am nächsten Tag gelb und wortkarg.

    »Wir haben keinen Platz für wen anderen«, sagt sie am nächsten Tag, ohne dass Robert gefragt hat.

    Dabei haben sie mehr als genug Platz. Früher lebte Tante Ada mit ihrem Mann und zwei Kindern hier. Es gibt ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer, eine Küche und zwei Kabinette. In einem wohnt Vera, die oft auf ihn aufpasst, wenn die Mutter zur Arbeit geht.

    Das Ausruhen hat gestern besonders lange gedauert, Robert hat sich mindestens eine Stunde nicht rühren dürfen. Tante Ada hat der Mutter immer Tee und Umschläge gemacht, die geholfen haben, er kann nur still liegen, bis sie seine Hand nimmt und damit ihren Nacken oder den Bauch auf und ab bewegt. Auch das hilft offenbar. Sie seufzt dann mit geschlossenen Augen und irgendwann schläft sie ein. Wenn er sich aus der Kuhle herauswinden will, weil er es nicht mehr aushält, drückt sie seine Hand noch fester.

    Als sie mit Roland auf der Mauer hinter dem alten Feuerwehrhaus saß, blühte der Löwenzahn und unentwegt rief ein Kuckuck, sie weiß es noch genau. Kinder aus der Nachbarschaft spielten mit Holzschwertern und schauten ein paarmal neugierig zu ihnen herüber. Roland schien das nicht zu kümmern, und Mali hielt das für ein gutes Zeichen. Der Frühling, das Aufblühen und der unbeirrbare Vogelgesang waren wie herausgeschnitten aus allem anderen. Die Jungen starben und die Alten blieben, es gab kaum anderes als Vergehen. Vergehen und Verrecken. Aber für eine Weile musste sie es nicht mehr sehen.

    Rolands Gesicht, Rolands Worte, Rolands Berührungen: Jetzt wusste sie, wofür es sich lohnte. Sie und Roland waren oft miteinander verzweifelt gewesen. Dass darin etwas Schönes lag, wem hätte sie das erklären können? Dass es so viel besser war, etwas zu fühlen, nachdem ihr Leben seit dem Tod der Mutter in ein graues, flächiges Nirgendwohin verlaufen war. Roland und sie redeten stundenlang, aneinandergeschmiegt in der Kälte, die durch die Ritzen in den Heuschober drang, in dem sie sich nachts manchmal trafen.

    »Es wird unser Unglück sein, was wir ihnen angetan haben«, sagte Roland.

    »Wieso sagst du wir?«, fragte Mali. »Du und ich, wir haben doch niemandem etwas getan.«

    Roland kannte Leute, die welche kannten, die. Seine Quellen waren verlässlich.

    Mali wurde eine Meisterin darin, lautlos vom Hof zu schleichen, wo sie den Reichsarbeitsdienst leistete. Dass sie wenig redete und kräftig in der Schmiedewerkstatt zupackte, obwohl sie auf dem Gymnasium war und Latein und Englisch konnte, wurde ihr als sympathischer Zug ausgelegt. Die schwere Arbeit machte ihr nichts aus, sie tat sie nicht für diese Leute. Wenn sie arbeitete, musste sie nicht an die Mutter denken, nicht an die Todesmeldungen, die wöchentlich mehr wurden, nicht an die Flugzeuge, die jetzt noch über die Gegend hinwegzogen, und nicht an das Gemunkel über irgendetwas Ungeheures, nicht weit weg im Nordosten. Seitdem sie Roland kannte, glaubte sie es. Gesehen hatte sie schon vorher einiges, aber sie hatte es nicht verstanden, es schien zufällig zu geschehen, ohne Sinn, aus grausamer Willkür. Zuerst wurde den Zwillingen vom Uhrengeschäft, das Juden gehörte, der Hund vergiftet, dann die Scheiben eingeschlagen und der Laden verwüstet. Mali hatte die Gesichter gesehen, als sie mit dem Rad von der BDM-Stunde heimgefahren war, hinten den Korb mit der ekelhaft kratzigen Wolle, aus der sie Socken für unsere tapferen Soldaten stricken mussten. Als sie das Klirren gehört hatte, war es schon zu spät für einen Umweg gewesen. Den Mann hatten sie die Treppe hinuntergestoßen und den Verletzten einfach auf den Gehsteig gerollt. Die Frau hatte einer an den Haaren gezerrt. Von Mali hatte niemand Notiz genommen. Sie war noch in Uniform und trat in die Pedale, so fest sie konnte.

    Roland erzählte sie alles. Auch dass ihr der Führer gleichgültig war und, seitdem die Mutter gestorben war, sogar Gott. Vor der Stimme des Führers im Radio hatte sie schon als Kind Angst gehabt, und dass ihre Schwester und ihr Vater sie deshalb auslachten, hatte es nicht besser gemacht. Auch Roland konnte den Führer nicht leiden. Außer Gott liebte er nur Mali, immer wieder sagte er es ihr. Wenn er es tat, war es wie Wasser, wenn man es dringender brauchte als alles andere auf der Welt. Sie hätte sich so etwas nie vorstellen können. Die Vorstellung von etwas Schrecklichem war immer viel einfacher als die von etwas Schönem.

    Roland war zweiundzwanzig, sie achtzehn. Nachdem er als Achtjähriger von einem voll beladenen Heufuhrwerk gefallen und unter die Räder geraten war, war sein Knie steif geblieben, und er wurde nicht zum Wehrdienst eingezogen. Er arbeitete im Kreispostamt und las konfiszierte Bücher, die ihm ein Freund aus der Sammelstelle verschaffte. Roland war groß und muskulös, dennoch ein Krüppel. Einer, der seinen Dienst für Volk und Vaterland nicht an der Front leistete, war trotz des Geschwafels von der Heimatfront bestenfalls bedauernswert.

    Weil sie hier sonst niemanden kannte, hatte sie an den freien Samstagnachmittagen den Halbbruder besucht, den sie erst ein paarmal gesehen hatte. Obwohl die Hausleute freundlich zu ihr waren und sie auch vor anderen als tüchtig und fleißig lobten, hasste Mali die Rotznasen der Bauernkinder, den von der Kernseife glitschigen hölzernen Waschzuber, den dampfenden Atem der Pferde und Kühe, ihre stumpfen, eindringlichen Blicke.

    »Sie lassen alles mit sich machen, diese Tiere«, sagte sie zu Roland, während er ihr Heuhalme aus den Haaren zog und damit ihre Beine entlangfuhr. Sie gestand ihm, dass es ihr gefiel, wenn ein Pferd jemanden abwarf oder eine Kuh beinahe jemanden an der Stallwand erdrückte.

    Roland küsste ihre Knöchel, ihre Knie. Beide waren überrascht von ihrem Hunger. Bisher hatte Mali mit Sex nicht viel mehr als ein heimlich mit anderen Kindern beobachtetes verschwitztes Ringen, Keuchen und Rangeln verbunden, bleich leuchtende Hinterbacken und hilflos zappelnde Frauenbeine, bei deren Anblick sie sich geschworen hatte, mit mir nicht, niemals. Jetzt erforschten sie einander Zentimeter für Zentimeter. Er ertastete die Stellen zwischen Nacken und Schulterblatt, zwischen Hüftknochen und Oberschenkel. Es vergingen Stunden, in denen sie einander nicht losließen. Sie kannten jeden Unterschlupf in der Umgebung.

    Mali begann in der Bibliothek Geschichten über verbotene Lieben zu suchen. Sie las sie ihm alle vor: Heloïse und Abaelard, Tristan und Isolde, Romeo und Julia.

    Romeo, Romeo, wherefore art thou, Romeo?

    Deny thy father, and refuse thy name.

    With love’s light wings did I o’er-perch these walls.

    For stony limits cannot hold love out.

    And what love can do, that dares love attempt.

    Deny your father. Der Vater hatte Rolands Mutter regelmäßig Geld zukommen lassen. An den Geburtstagen hatte er ihn manchmal besucht, ihm Fragen gestellt und auf die Schulter geklopft, wenn er zufrieden war. Das Kind war schüchtern, verstockt, aber einmal, als der Vater gehen wollte, habe er sich an ihm festgeklammert, bis dieser ihm eine Ohrfeige gab und genauso erschrocken schien wie der Junge selbst.

    »In deinen Geschichten gibt es kaum Überlebende«, sagte Roland. »Nicht ein einziges Mal kommen sie davon.«

    Das sei doch nur Literatur, entgegnete Mali, daran zähle die Wahrhaftigkeit der Gefühle und die Schönheit. »Aber wir sind das wirkliche Leben«, sagte sie. »Das Leben ist stärker.«

    »Du bist stärker«, antwortete Roland und zog sie an sich. Sie ließ ihre Hände über seine Oberarme gleiten, schüttelte heftig den Kopf.

    Nach Amerika, Kanada oder Australien würden sie gehen, wenn das hier vorbei war. Dort wusste keiner und fragte keiner. Sie hatten nicht einmal denselben Familiennamen. Sie hörten BBC, lange konnte es nicht mehr dauern. In den Gasthäusern nahmen die Wirte nach und nach die Karten mit den beflaggten Stecknadeln ab, die den Frontverlauf markierten, mochte das Radio noch so laut vom Endsieg brüllen. Eine andere Zukunft als mit Roland war für Mali nicht vorstellbar. Sie malte sich das Leben, das sie führen würden, immer wieder bis in die letzte Einzelheit aus. Mithilfe zerschlissener Reclam-Ausgaben der Shakespeare-Dramen und einer Grammatik aus einer Reformschule der Zwanzigerjahre versuchte sie, ihr Englisch zu verbessern. Alles konnte sie sich vorstellen, nur nicht, dass es nicht wahr wurde.

    Der Kuckuck rief immer noch. Heiraten? Das musste ein Missverständnis sein. Wen, um Gottes willen, und wann? Bis zum Warum drang sie gar nicht durch, dabei wäre das die einzige Frage gewesen, auf die es ankam.

    Vielleicht damit sie sie nicht doch noch stellte, redete und redete er, aber seine Worte fielen allesamt durch sie hindurch. Sie verstand nichts, kein einziger Satz ergab auch nur irgendeinen Sinn. Schande. Blut oder Rasse: Sie waren sich doch einig, dass das nichts als strohdummer Aberglaube war. Und wenn es bei anderen tausendmal Sünde wäre: Doch nicht bei ihnen. Das zwischen ihnen war heilig.

    Am schlimmsten war es, als sie an jenem Abend noch glaubte, die richtigen Worte, der richtige Blick könnten alles zum Guten wenden. Als käme es nur auf sie allein an.

    Dabei hatte er sich längst von ihr verabschiedet, bevor er ihr von der Verlobung erzählt hatte, hatte sie weggeworfen, ohne dass sie eine Chance bekam. Ihr blieb nichts übrig, als dem Urteil zuzuhören, das er über sie beide gefällt hatte. Aber warum und wann? Sie weinte nicht und flehte nicht, wiederholte nur diese beiden Fragen wieder und wieder.

    Irgendwann wurde er ärgerlich. Irgendwann schrie sie, und er hielt ihr den Mund zu. Irgendwann ging er.

    Mali blieb auf der Mauer sitzen. Sonst hätte es gut sein können, dass sie zu Staub zerfallen wäre. Alles war möglich, so wie auch wenige Stunden zuvor alles möglich gewesen war, nur von der Seite des Glücks her. Sie rührte sich nicht. Alles verlachte und vernichtete sie: die blitzenden Sterne, die Windböen, das Käuzchen, die rauen Steine unter ihren Schenkeln, die milde Kühle der Nacht.

    Wie sie nach Hause gekommen war, wusste sie nicht. Irgendwann im Morgengrauen auf ihrem Bett erschrak sie von einem hohen, klagenden, an- und abschwellenden Geräusch, bis sie erst mit Verzögerung erkannte, dass es ihr eigenes Weinen war. Es schüttelte sie tagelang immer wieder.

    Dass Roland mit ihr auch sein Kind wegwarf, von dem sie seit ein paar Wochen wusste, war keineswegs ihr heimlicher Triumph und nichts, was ihr Macht verlieh. Mali hätte sich zu helfen gewusst. Doch irgendwann rollten die Stricknadeln klappernd unter das Bett und sie goss die Kräuterbrühe in den Ausguss.

    Zu verschwinden war einfach. Kurz nach der Kapitulation passierten Abertausende zu Fuß und auf Pferdewagen ihre Heimatstadt, die an einer der großen Fluchtrouten lag. Eine junge Frau mehr, die sich alleine durchschlug, fiel nicht auf. Sie hielt sich in der Nähe von anderen, war aber vorsichtig und verschwiegen. Das Problem war nicht die Schwangerschaft selbst, sondern dass sie in einem schwachen Moment den Namen des Vaters aus ihr herausbekommen hätten. Unfassbar, es für mehrere Hundert Kilometer sogar in einen der notorisch überfüllten Züge geschafft zu haben. Mali erinnerte sich an Arme, die sie hinaufgezogen hatten. Nicht einmal bedanken konnte sie sich, da es unmöglich war, sich umzudrehen, wenn man einmal ein, zwei Abteile weitergeschoben worden war. Dass sie kaum sprach, erregte keine Aufmerksamkeit. Es gab viele Gründe zu verstummen, die meisten Menschen hatten mit den eigenen genug zu tun. Etwas schlug um in diesen zwei Wochen, und wenn Mali später Vera davon erzählte, sah sie ihr Leben nicht nur äußerlich in ein Vorher und Nachher zerfallen. Nicht Roland war es gewesen, der es in zwei schlecht zueinanderpassende Teile gespalten hatte, sondern das Kind.

    Einmal mussten sie zu Fuß über eine Brücke mit beschädigtem Mittelpfeiler und fehlendem Geländer. Die Leute, mit denen Mali seit ein paar Tagen unterwegs war, diskutierten noch, was am besten zu tun sei, da war sie schon den halben Weg drüben. Tags darauf stießen sie auf russische Soldaten, kauerten stundenlang in einem Geräteschuppen. Draußen hörten sie die Russen lachen und singen, einer von ihnen hatte eine wunderbare Stimme. Durch ein Astloch beobachtete sie sie beim Kartenspielen und Trinken, und als einige von ihnen sich zum Schlafen unter einem Baum zusammenrollten, während zwei, drei andere noch grölten, trat sie offen aus dem Stadel und ging gleichmütig mit ihrem Bündel an ihnen vorüber. Als sie es später der Tante in Wien erzählte, glaubte die ihr zuerst nicht. Mali verstand das. Sie meinte keineswegs, dass die Russen von ihrer Furchtlosigkeit beeindruckt waren. Vermutlich hatten sie an jenem Tag bloß ihre Dosis Wut, Essen und Alkohol schon gehabt. Beide Male war ihr die Gefahr gleichgültig gewesen. Nicht dass sie sie direkt gesucht hätte, die Gelegenheit bot sich ohnehin täglich. Aber sie ging ihr auch nicht aus dem Weg.

    Mali widersprach, wenn später immer erzählt wurde, wie sehr Kinder, ob geboren oder ungeboren, den Müttern die Kraft zum Weitermachen gegeben hätten. Das war nichts als Kitsch, fand sie. Sie hatte im Gegenteil unzählige Male gesehen, dass Kinder den Frauen den letzten Lebensmut geraubt hatten: Wenn sie krank wurden und starben, wenn die Frauen zu langsam vorwärtskamen, weil sie von den geschwächten Kleinen aufgehalten wurden. Auch wenn es gewiss welche gegeben haben mochte, auf die zutraf, was man später so gerne hörte.

    »Weißt du, was ich nicht ausstehen kann?«, würde Mali Jahre später zu Vera sagen: »Dass man von allen Geschichten immer nur ein oder zwei mögliche Varianten erzählen darf.«

    Hätte Vera nicht so viel gefragt, wäre Mali all das nie mehr eingefallen. Nicht in jenen Jahren, in denen Erinnerungen Gift waren, das man wegsperrte. Sie war nicht anders gewesen, das meinte sie schon ihrem Kind schuldig zu sein. Die Kinder waren die Zukunft, das sagte jeder. Sie verdienten es, unbelastet zu sein, das glaubte auch Mali. Jeder glaubte es. Je weniger Vergangenheit, desto mehr Zukunft: Das war die falsche Rechnung, die fast jeder für richtig hielt.

    Jetzt erinnerte sie sich wieder daran, obwohl es nicht angenehm war: Das Kind zu retten war nicht ihr oberstes Ziel gewesen. Obwohl es dann alles für sie wurde, von Anfang an. Sie hatte fürchterliche Angst, nicht genug zu essen für ihn zu bekommen. Nur jeden zweiten oder dritten Tag ergatterte sie einen Viertelliter Milch. Als Robert ein paar Monate alt war, musste sie ihn mit zerdrückten Erbsen zufüttern. Die Erbsen waren Teil der sogenannten Stalin-Spende, einer Gabe der Sowjets für die hungernde Stadtbevölkerung. Nach dem Ausklauben und dem Einweichen musste man noch die auskriechenden Maden abschöpfen. Erbsen würde sie in ihrem ganzen Leben keine mehr essen, das schwor

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