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Das Gewicht eines Pianos: Roman
Das Gewicht eines Pianos: Roman
Das Gewicht eines Pianos: Roman
eBook400 Seiten5 Stunden

Das Gewicht eines Pianos: Roman

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Über dieses E-Book

»Eine Liebeserklärung an die Macht der Musik und an die Macht des Schicksals, spannend und vielschichtig erzählt.« BÜCHERmagazin

Die neunjährige Katya wächst im Russland der 1960er-Jahre in bescheidenen Verhältnissen in einer Stadt nahe Moskau auf. Von einer tiefen Unruhe getrieben, lauscht sie jede Nacht den eindringlichen Klaviersonaten des Mansardenbewohners. Er sei ein Ungeheuer, sagt man, ein geflohener SS-Scherge. Als der Mann stirbt, erbt Katya sein Klavier. Ein Blüthner. Es wird ihre erste große Liebe. Clara ist Automechanikerin in der Nähe von L.A. Ihre Eltern sind bei einem Brand ums Leben gekommen, und ihre wichtigste Erinnerung ist das geerbte Blüthner-Piano.
Clara hasst es, denn sie hat keine Verbindung zur Musik. Aber es ist das Einzige, was ihr von ihrem Vater blieb.

Ein halbes Jahrhundert und zwei Welten trennen diese beiden Frauen, die doch auf tragische Weise so viel mehr verbindet.

  • »Chris Cander macht darin deutlich, dass materielle Sicherheit kein Garant für Glück ist, sondern dass dieses aus einem selbst heraus erwachsen muss. […] Die Thematik, die durchaus zum Nachdenken anregt, und das Klavier als stummer Protagonist machen „Das Gewicht eines Pianos“ besonders« belletristik-couchDE
  • »Die schicksalhafte Verbindung zwischen dem Klavier, seinen frühen und seinen späteren Besitzern inszeniert Autorin Cander als herzergreifende Komposition aus Exil-Drama, Liebesgeschichte und schwermütige Hommage an Meister wie Rachmaninow oder Skrjabin.« Mobil
  • »Einfühlsam erzählt Chris Cander von Familie, von Liebe und davon, den eigenen Weg zu finden.« Emotion
  • »Meiserhaft erzählt „Das Gewicht eines Pianos“ von der Macht der Musik und von der Kunst, die Vergangenheit loszulassen.« Leserin
SpracheDeutsch
HerausgeberHarperCollins
Erscheinungsdatum1. Feb. 2019
ISBN9783959678582
Das Gewicht eines Pianos: Roman
Autor

Chris Cander

Chris Cander wusste früh im Leben, dass sie Autorin werden wollte. Dem Vorsatz ist sie treu geblieben: Sie hat drei Romane für Erwachsene geschrieben, hochgelobt von den Kritikern, zudem Theaterstücke und Kinderbücher. Außerdem verfasst sie Zeitschriftenartikel über Gesundheit, Lifestyle und Fitness. In ihrer Freizeit engagiert sie sich für Schreib- und Leseförderung, freie Büchereien und ist u.a. Mitglied in der American Society for Journalists, bei PEN und MENSA. Das ehemalige Model ist lizensierte Lehrerin in Selbstverteidigung für Frauen und Meisterin in Tae-Kwon-Do. Chris Cander lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in Houston, Texas.

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    Buchvorschau

    Das Gewicht eines Pianos - Chris Cander

    HarperCollins®

    Copyright © 2019 für die deutsche Ausgabe by HarperCollins

    in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

    Copyright © 2018 by Chris Cander

    Originaltitel: »The Weight of a Piano«

    erschienen bei: Alfred A. Knopf, New York

    Umschlaggestaltung: Sabine Kwauka, Gröbenzell

    Umschlagabbildung: Getty Images / Freier Fotograf /

    Hulton Archive, New Line, Vasilyeva Larisa / shutterstock

    Lektorat: Claudia Wuttke / Paula Szedlak

    E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

    ISBN E-Book 9783959678582

    www.harpercollins.de

    Widmung

    Für meine wunderbare Sasha

    KAPITEL 1

    In den Bergen Rumäniens, wo die Winter besonders kalt und lang sind, wuchsen, in dichten Wäldern verborgen, Fichten, aus denen Klaviere entstanden – einzigartige Instrumente, die berühmt waren für ihren wunderbar warmen Klang und beliebt bei Komponisten wie Schumann und Liszt. Nur ein Mann besaß die Fähigkeit, sie auszusuchen.

    Sobald die Blätter gefallen waren und Schnee den Boden bedeckte, reiste Julius Blüthner mit der Eisenbahn aus Leipzig an und machte sich allein auf den Weg durch den Wald. Aufgrund der Höhe und der grimmigen Kälte wuchsen die Bäume dort sehr langsam. Aufrecht und stark trotzten sie den Elementen, ihre Zellen prall gefüllt mit Harz. Blüthner nickte den jungen Fichten zu, die er passierte, strich der einen oder anderen wie zum Gruß über die Borke. Er hielt Ausschau nach älteren Bäumen, deren Äste er nicht erreichen konnte und deren gewaltiger Durchmesser nicht erkennen ließ, ob womöglich ein Bär dahinter lauerte. Diese klopfte er mit seinem Spazierstock ab und hielt, seiner Intuition folgend, das Ohr an die Stämme, um der Musik in ihrem Inneren zu lauschen. Er verstand sich besser darauf als jeder andere Klavierbauer, besser sogar als Ignaz Bösendorfer, Carl Bechstein oder Henry Steinway. Wenn er hörte, was er hören wollte, markierte er die betreffende Fichte mit einem Strang leuchtend roter Wolle, der sich deutlich vom Schnee abhob.

    Dann kamen die Waldarbeiter, die er angeheuert hatte, um die von ihm ausgewählten Exemplare zu fällen. Blüthner sah aufmerksam zu; an der Art, wie die Bäume fielen, konnte er die besten erkennen. Nur jene mit mindestens sieben gleichermaßen breiten Jahresringen pro Zentimeter wurden auf Schlitten aus dem Wald gebracht und nach Deutschland transportiert. Aus den besten davon wiederum wurden die Resonanzböden gefertigt, die gleichsam das Herzstück seiner berühmten Klaviere bildeten.

    Zum Schutz vor Rissen wurden die Stämme feucht gehalten, bis sie im Sägewerk angekommen waren. Im Bestreben, ihnen die reinsten Klänge zu entlocken, wurden sie dort zu einheitlichen Brettern mit aufrecht stehenden Jahresringen gesägt, geschnitten und gehobelt. Die Späne wanderten in die Öfen, um das Sägewerk zu beheizen und die Dampfmaschinen anzutreiben. Da beim Sägen häufig Astnarben und andere Makel zutage traten, endeten auch viele der wertvollen Tonholzbretter in den Öfen. Was übrig blieb, war nahezu perfekt: von weißer Farbe, leicht und biegsam, die zarten Linien der parallel verlaufenden, dicht aneinanderliegenden Jahresringe kaum auszumachen. Diese Bretter waren für die Resonanzböden bestimmt und wurden im Laufe der mindestens zwei Jahre dauernden Lagerung immer wieder zu- und abgedeckt, bis der Wassergehalt auf etwa vierzehn Prozent gesunken war.

    Erst dann wurden sie auf Pferdekarren verladen und in die riesige Blüthner-Fabrik in der Weststadt Leipzigs gebracht, wo sie über Monate hinweg in Trockenhäusern auf Regalen hoch oben unter der Decke lagen. Doch auch danach waren sie noch nicht bereit für die Verwandlung in ein Instrument. Um sicherzustellen, dass die daraus gefertigten Resonanzböden eines Tages den für Blüthner-Klaviere einzigartigen goldenen Klang erzeugen konnten, wurde das Holz erst noch einige Jahre im Freien getrocknet.

    Entsprechend ehrfürchtig wählte im Jahre 1905 ein Klavierbaumeister eine Reihe dieser sorgfältig abgelagerten Bretter aus und leimte sie an den Kanten bündig zu einer großen Fläche zusammen. Diese sägte er sodann in Form und hobelte und schliff sie auf die richtige Dicke – elastisch genug, um vibrieren zu können, und zugleich so stark, dass sie dem Zug von über zweihundert Saiten standhalten konnte. Der fertige Resonanzboden wurde zur erneuten Trocknung in einer der geheizten Hallen gelagert, ehe an der Unterseite im rechten Winkel zum Faserverlauf des Bodens die Rippen angebracht wurden. Durch die Aufnahme von Feuchtigkeit bildete sich nun an der Oberseite, wo der Bass- und der Diskantsteg saßen, eine sanfte Wölbung, sodass sich der Resonanzboden gleich den Dauben eines Fasses gegen den nach unten wirkenden Stegdruck stemmen würde. Der Klavierbaumeister bewunderte das so entstandene Werk: die makellos parallelen Jahreslinien, die präzise Wölbung des Resonanzbodens, der das Herzstück des 66.825. Pianos aus seiner Fabrik bilden würde.

    Andere Handwerker fertigten das Gehäuse, dessen Rastenkonstruktion mit den fünf Spreizen stabil genug für das Gewicht des Resonanzbodens und des Gussrahmens sein musste. Der Stimmstock wurde gesägt und eingepasst. Die Agraffen wurden in die Gussplatte eingesetzt, auf einer Höhe, die später die klingende Länge der Saiten bestimmen würde, welche im nächsten Schritt aufgezogen wurden; die Stimmwirbel wurden eingeschlagen, die Mechanik gestellt und gesetzt. Dann wurde dicker, kalt gepresster Filz, der zum Diskantbereich hin entsprechend dünner wurde, auf die hölzernen Hammerköpfe geleimt. Es folgten die Dämpfer sowie die Pedale – Stößer, Pedalstifte und Federn –, und sobald die Klanganlage eingebaut war, wurde das Gehäuse ebonisiert. Die Armmuskeln der Lackierer, die die unzähligen Schichten aufbrachten, spannten sich mit jedem Pinselstrich unter den aufgekrempelten Hemdsärmeln.

    Als Nächstes wurde das fast fertige Instrument gestimmt, die Spannung von jeder der zweihundertzwanzig Saiten auf die richtige Tonhöhe eingestellt und die Mechanik reguliert. Spielgewicht und Reaktion wurden so lange geprüft, bis die Bewegungen der Finger über die Tasten korrekt auf die Hammerköpfe übertragen wurden, die auf die Saiten schlugen.

    Schließlich gelangte das Klavier nach den jahrelangen Anstrengungen zahlreicher fachkundiger Hände an seine letzte Station. Der Meister, der die Reinstimmung vornahm, hob das Leinentuch an und ließ eine Hand über die glänzende schwarze Oberfläche gleiten. Wodurch würde sich dieses Klavier von den anderen abheben? Jedes von ihnen war etwas Besonderes, verfügte über eine eigene Seele und eine unverwechselbare Persönlichkeit. Dieses hier wirkte solide, unprätentiös, ehrlich und dennoch geheimnisvoll.

    Er ließ das Tuch auf den Fabrikfußboden gleiten.

    »Was willst du dieser Welt sagen?«, fragte er das Instrument.

    Er zog die Hammerköpfe einen nach dem anderen ab, lauschte jeder einzelnen Saite, bearbeitete wieder und wieder sorgfältig den Filz mit der Intoniernadel, gleich einem Diagnostiker, der die Nerven unter der Kniescheibe eines Patienten abklopft, um die Reaktion zu prüfen. Hallo, hallo, antwortete das Klavier jedes Mal artig, seiner Bestimmung folgend. »Fertig«, sagte er nach getaner Arbeit. Er wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn, schob sich ein paar weiße Haarsträhnen aus dem Gesicht. Dann trat er ein paar Schritte zurück und betrachtete diese perfekte Schöpfung, die in der Lage wäre, wahre Bravourstücke zu vollbringen, wenn sie erst richtig eingespielt war. Noch aber war sie ein perfektes Instrument, das sich ausschließlich durch sein Potenzial auszeichnete.

    Der Meister schüttelte seine Schürze aus, ließ sich auf dem Fass nieder, das ihm als behelfsmäßige Sitzgelegenheit diente, und beugte und streckte einige Male die Finger, während er überlegte, welches Stück für die Taufe des Klaviers geeignet wäre. Schubert, sein Lieblingskomponist. Er würde das Rondo der Sonate Nr. 20 in A-Dur – seiner vorletzten – spielen. Die hübsche Eröffnungsmelodie zeichnete sich durch eine hoffnungsvolle Heiterkeit aus, die im Folgenden einer gewissen Nachdenklichkeit und Aufgewühltheit wich. Ja, das war das ideale Stück, um das glänzende schwarze Blüthner Nummer 66.825 einzuweihen.

    »Horcht!«, rief er, doch seine Stimme ging im Fabriklärm unter. »Es ist auf der Welt!«

    Und er drückte den Finger auf das Cis, die erste Note des Rondos, und lauschte konzentriert. Der Ton erscholl mit derselben Unschuld und Kraft wie der erste Schrei eines Neugeborenen. Hochzufrieden mit der Reinheit des Klangs begann der Meister den Rest der Sonate zu spielen. Er rang um Zuversicht, als er sich von diesem glänzenden neuen Klavier verabschiedete, wohl wissend, dass seine Jungfräulichkeit auf immer verloren war, wenn die allzu menschlichen Hände seiner künftigen Besitzer es erst berührt hätten.

    KAPITEL 2

    Clara Lundy schob einen Schemel an den Vorderreifen eines alten 1996er Chevrolet Blazer, warf sich den dunkelblonden Pferdeschwanz über die Schulter und beugte sich über den Motor. Sie schraubte die Schutzkappe vom Druckventil und fing das austretende Benzin mit einem Frotteetuch auf. Sobald kein Kraftstoff mehr heraustropfte, stopfte sie sich den Lappen in die hintere Hosentasche, ging zu ihrem Werkzeugkasten und entnahm ihm den 16er- und 19er-Schraubenschlüssel sowie das Leitungstrennwerkzeug. Dann sprang sie behände in die mit gelben Randmarkierungen versehene Wartungsgrube, um den Wagen von unten bearbeiten zu können. Sie entriegelte die Kunststoff-Clips, mit denen die Benzinleitungen gesichert waren, und zog den Schlauch vom Filter – auf der Auslassseite zuerst, damit ihr kein Treibstoff in die Augen tropfte. Diese Lektion hatte sie vor langer Zeit in der Werkstatt ihres Onkels gelernt, und sie würde sie nie vergessen.

    »Clara?« Peter Kappas, einer der drei Söhne des Werkstattbesitzers, sah zu ihr hinunter. Seine massige Silhouette war umrahmt vom Lichtschein der Spätnachmittagssonne. »Der Typ, der schon mehrfach wegen seinem Zahnstangengetriebe hier war, ist wieder da. Er sagt, das Ding macht nach wie vor Geräusche.«

    »Immer noch die gleichen? Oder neue Geräusche?«

    »Ein Knallen. Wahrscheinlich die Schrauben.«

    »Kannst du das übernehmen? Ich bin hier noch mit dem Filter beschäftigt.«

    »Ich hab versprochen, bis fünf die Corvette fertig zu machen.«

    Clara schob den neuen Filter in die Schelle. »Okay, gib mir noch eine Viertelstunde, dann schau ich’s mir an. Aber wenn es die Schrauben sind, müsstest du noch mal die Spur einstellen. Hast du Zeit?«

    »Für dich?«

    »Hör auf.«

    Er hob die Arme. »Kleiner Scherz. Ja, ich mach’s.«

    Nachdem sie sämtliche Schrauben angezogen und den Sitz der Anschlüsse überprüft hatte, stieg sie aus der Grube, um den Motor zu starten. Sie stellte den Zündschlüssel auf On, wartete ab, bis sich die Kraftstoffpumpe ein- und wieder ausgeschaltet hatte, dann drehte sie den Schlüssel wieder in die Ausgangsposition. Sie wiederholte den Vorgang etliche Male, und während sie so dort saß, erspähte sie sich selbst im Rückspiegel und erschrak. Sie sah deutlich älter aus als sechsundzwanzig, als wäre sie über Nacht um zehn Jahre gealtert. Ihren leicht angeschwollenen Augenlidern war der Heulkrampf von gestern Abend noch anzusehen, obwohl sie sich dezent geschminkt hatte. Sie hatte die Zähne zusammengebissen und die Lippen so fest zusammengepresst, dass sie von winzigen Falten umrahmt waren. Als sie die Kinnpartie nun entspannte, sackten ihre Mundwinkel ab, und ihre blassen Wangen wirkten schlaff. Offenbar hatte sie sich irgendwann die Haare aus den Augen gestrichen, denn sie hatte einen Ölfleck auf der Stirn, der dem Feuermal ihres verstorbenen Vaters ähnelte. Sie betrachtete sich, erkannte seine hellbraunen Augen, die blassen Wimpern, die hohen Wangenknochen, und ihr war, als hätte man ihr einen Schlag in die Magengrube verpasst, als sie sich so jäh mit der Erinnerung an sein Gesicht konfrontiert sah. Alte Trauer, die sich zur neuen hinzugesellte.

    Sie drehte den Zündschlüssel bis zum Anschlag um. Der Motor ließ sich problemlos starten.

    »Clara! Telefon!«, rief jemand über den Lärm hinweg, der in der Werkstatt herrschte – vom hydraulischen Drehmomentschlüssel und vom Kompressor, von den auf- und zugleitenden Schubladen der Werkzeugschränke, dazu das nie endende Scheppern und Klappern von Metall, das allgegenwärtige Gedudel der griechischen Popmusik, das aus den Boxen des ölverschmierten Ghettoblasters in der Ecke drang, die Zurufe und Gesprächsfetzen, teils auf Englisch, teils auf Griechisch.

    Sie wischte sich mit dem schmutzigen Putzlappen den Fleck von der Stirn und marschierte zum Wandtelefon. Peters Bruder Teddy legte ihr eine Hand auf den Unterarm.

    »Es ist Ryan«, sagte er. »Vielleicht gehst du besser im Büro ran.« Sie konnte nur mutmaßen, was die anderen hinter ihrem Rücken über sie und Ryan geredet hatten. Peters Mutter Anna vermochte in Claras Gesicht zu lesen, als wären sie Mutter und Tochter, und sie zögerte nicht, ihre Meinung – Wenn du mich fragst, tut dir dieser Ryan nicht gut – zum allgemeinen Gesprächsthema zu machen. Da es nicht schwer war, Clara alle möglichen Informationen zu entlocken, war der gesamte Kappas-Clan im Nu über ihre persönlichen Angelegenheiten im Bilde gewesen. Nicht dass es sie gestört hätte – dank dieser Menschen hatte sie zum ersten Mal seit langer Zeit wieder das Gefühl, zumindest ansatzweise Teil einer richtigen Familie zu sein.

    Clara nickte. Das Büro war kaum mehr als ein Schreibtisch an der Wand des Wartebereichs, zwischen Wasserspender und Kaffeemaschine. Privatsphäre suchte man dort vergeblich, doch im Augenblick war keine Kundschaft da, und Anna, die hinter dem Tresen stand und Ersatzteile bestellte, zwinkerte ihr zu und sagte mit ihrem unüberhörbaren Akzent: »Ich lasse dich dann mal allein.«

    Clara setzte sich und versuchte, das Lämpchen zu ignorieren, das einen Anrufer in der Leitung signalisierte. Stattdessen betrachtete sie die gerahmten Fotos an den Wänden – das stattliche, weiß getünchte Ferienhaus der Familie auf einer der Sporadeninseln, den halbmondförmigen felsigen Strand, das unwirklich türkisblaue Wasser.

    Als es sich nicht länger hinausschieben ließ, holte sie tief Luft und griff nach dem Hörer. »Hey«, sagte sie.

    »Du gehst nicht an dein Handy.«

    »Ich bin in der Werkstatt.«

    »Wie auch immer … Hör zu, Clara, ich verziehe mich ein paar Tage, damit du ungestört deine Sachen packen kannst. Ich möchte, dass du noch vor dem Wochenende raus bist …«

    »Was? Ist das dein Ernst? Ich dachte, wir wollten noch mal über alles reden.«

    »Hast du mir gestern Abend nicht zugehört, Clara? Ich bin es leid, auf eine Entscheidung von dir zu warten. Du willst einfach nicht das, was ich will.«

    »Das habe ich nie gesagt. Ich habe dich lediglich um etwas Zeit gebeten.« Sie drehte sich zur Wand. »Bitte, Ryan.«

    »Ich weiß, dass du noch Zeit brauchst, und ich habe versucht, dich nicht zu drängen, aber ich kann nicht ewig deine Bedürfnisse über meine stellen. Ich bin bereit für den nächsten Schritt. Ich will eine Familie. Am liebsten mit dir, aber wenn das nicht geht, dann … na ja, was habe ich denn für eine Wahl?«

    »Hör zu, Ryan, ich liebe dich, und das weißt du auch. Aber Heiraten, das ist ein großer Schritt. Warum können wir nicht einfach so zusammen sein? Warum hast du es so eilig?«

    »Warum hast du so große Angst davor, dich dauerhaft zu binden? Ich weiß, dass du mich liebst. Warum kannst du nicht einfach Ja sagen?«

    Clara seufzte. Ein einziges Wort würde genügen, um dieser Unterhaltung – ihrem gesamten Leben – eine neue Richtung zu verpassen. Aber sie konnte sich nicht dazu durchringen. »Ich weiß es nicht. Tut mir leid.«

    »Gut, dann war’s das. Du musst raus. Ich muss an meine Zukunft denken.«

    »Du setzt mich echt vor die Tür? Nach zwei Jahren verlangst du von mir, dass ich ausziehe, und gibst mir vier Tage dafür? Wie soll ich das schaffen? Und woher soll ich das Geld dafür nehmen?«

    »Du weißt, ich würde nicht zulassen, dass du auf der Straße stehst. Ich hab dir ein Apartment gesucht, in East Bakersfield. Die Kaution ist bereits bezahlt. Ich hoffe, das macht es etwas einfacher.«

    »East Bakersfield? Herrgott noch mal, Ryan, hätten wir nicht erst einmal darüber reden können?«

    Er schnaubte. »Dir ist doch total egal, wo du wohnst. Das Einzige, was dich interessiert, ist diese dämliche Werkstatt.«

    Clara ballte die Faust um das Spiralkabel und kämpfte erneut gegen die Tränen an. Beweinte sie nun den Verlust ihres Freundes oder den ihres Zuhauses? Oder ihre Unentschlossenheit?

    »Mietvertrag und Schlüssel liegen auf dem Küchentisch«, fuhr er fort. »Wirf deinen alten Schlüssel einfach in den Briefschlitz, wenn du raus bist.«

    Clara lehnte die Stirn an die Wand und atmete aus. »Das war’s also?«

    »Ja, das war’s.«

    Er schwieg einen Augenblick – beide schwiegen sie –, und Clara fragte sich, ob er das sagen würde, was er bisher stets am Ende jedes Telefonats gesagt hatte. Du bist mein Mädchen, das weißt du, oder? Sie konnte nicht sprechen. Sie konnte nicht auflegen. Sie beugte sich vornüber, wartete ab, von Sehnsucht erfüllt und doch unfähig einzulenken.

    »Viel Glück, Clara. Ich hoffe sehr, du findest noch irgendwann raus, was du willst. Schade, dass ich es nicht war.« Damit legte er auf.

    Sie presste den Hörer ans Ohr und lauschte ihrem Herzschlag, bis das Besetzt-Zeichen ertönte. Als sie sich umwandte, stand Peter in der Tür.

    »Alles okay?«, fragte er.

    Sie antwortete nicht gleich. Vielleicht hatte sie Ryan doch nicht geliebt, jedenfalls nicht so, wie er es sich gewünscht hatte. Aber sie hatte sich an das Zusammensein mit ihm gewöhnt, hatte sich daran gewöhnt, dass sie jemanden hatte, der zu Hause auf sie wartete, und das Leben mit ihm war einfach gewesen. »Hilfst du mir beim Umzug?«, fragte sie Peter.

    Er nahm die Baseballmütze mit der Aufschrift Havoline – Protect What Matters ab und fuhr sich mit den Fingern durch das dichte schwarze Haar. »Natürlich«, sagte er und setzte die Mütze wieder auf. »Weißt du doch.«

    Clara lehnte sowohl Annas Vorschlag ab, sie solle ruhig schon etwas eher Feierabend machen, als auch Teddys, ihn zum Flohmarkt des Early Ford V-8 Clubs zu begleiten, um nach Bauteilen für einen Seitenventilmotor zu stöbern, die er für ein Restaurierungsprojekt benötigte. Stattdessen wusch sie sich das Gesicht und machte sich wieder an die Arbeit. Sie hatte zu Peter gesagt, sie wolle sich doch selbst um die Zahnstangenlenkung kümmern, und das würde sie auch tun, obwohl sie wusste, dass er es ihr unter den gegebenen Umständen mit Freuden abnehmen würde.

    Als alles erledigt war, räumte sie ihr Werkzeug in die Metallschränke an der Wand, unter dem Regal mit den Service-Handbüchern von Chilton, dann sammelte sie die gebrauchten Frotteetücher ein, warf sie in die dafür vorgesehene Tonne und rief von der Schwelle der offenen Werkstatttür aus: »Gute Nacht allerseits!«

    Peter übersprang mit einem Satz eine Ecke der Wartungsgrube und kam über den mit Ölflecken übersäten Betonboden auf sie zu. »Wir gehen nachher ein Bier trinken«, sagte er. »Kommst du mit?«

    »Nett, dass du fragst, aber ich muss packen.«

    »Brauchst du Hilfe?« Sie hätte die Worte mitsprechen können. Mindestens ein- oder zweimal täglich kam er, sobald er seine Arbeit erledigt hatte, zu ihr rüber und erkundigte sich, ob er ihr zur Hand gehen sollte. Wann immer Ryan nicht in der Stadt war, was häufig vorkam, stand früher oder später Peter vor der Tür, mal mit einem Teller, auf dem sich Annas Leckereien unter Klarsichtfolie häuften, mal mit Tickets für ein Spiel oder einer DVD. Beim letzten Waldbrand hatte er sich dem Evakuierungsbefehl zum Trotz ins Auto gesetzt und war zu ihr gefahren, um sie zu einem Ausflug an die Küste zu überreden. Clara hatte sich immer damit gebrüstet, dass sie stets die Fassung wahrte – eine Haltung, die ihre Mutter als stoisch bezeichnet und bewundert hätte. Selbst wenn sie krank war, sich einsam fühlte oder Sorgen hatte, beantwortete sie die Frage nach ihrem Befinden ausnahmslos immer mit »Gut«. Doch Peter spürte, ob es gelogen war oder nicht, und er war für sie da, treu ergeben wie ein Hund, ohne irgendetwas im Gegenzug zu verlangen. Es ging ihr gegen den Strich, dass sie sich so sehr auf ihn verließ. Sie gestattete es sich, bestimmte Leute zu mögen, hütete sich aber wohlweislich davor, sie zu brauchen. Vor allem ihn.

    Sie winkte ab. »Nicht nötig, danke. Viel Spaß euch und bis morgen.«

    Draußen stand die Sonne schon tief am Himmel, doch es wehte kein Lüftchen, keine Brise, die vom Pazifik landeinwärts die flimmernde Hitze über den vibrierenden Automotoren vertrieb oder die dünnen staubigen Palmen zauste, die den Maschendrahtzaun am Straßenrand säumten. Clara hielt neben einem Stapel alter Reifen inne, der das Schild mit der Aufschrift Kappas Xpress Lube von der Einfahrt des angrenzenden Trailer-Parks trennte, und blickte zwischen den vorbeibrummenden Lastern hindurch zu dem verlassenen verdreckten Grundstück auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Das Ruß- und Ozongemisch, das immer über Bakersfield hing, war heute besonders dick und gelb, als hätte sich der Himmel mit einer Krankheit infiziert.

    Clara spielte ein kleines Spiel mit sich selbst: Wenn sie sich umdrehte und Peter oder einen seiner Brüder dabei erwischte, wie er ihr nachsah, würde sie wieder reingehen und sagen: »Okay, meinetwegen, gehen wir ein Bier trinken.« Sie würde die unausweichliche Rückkehr in das Mietshaus, das sie mit Ryan bewohnt hatte und in dem sie ein anderer Schlüssel zu einer unbekannten Wohnung erwartete, aufschieben. Sie würde ein oder zwei Bier trinken, vielleicht auch drei, und vergessen, dass sie wieder einmal im Begriff war, neu anzufangen, allein. Sie wandte sich um, just in dem Augenblick, als Teddy von innen das Rolltor vor der letzten noch offenen Bucht herunterließ. Das interpretierte sie als ein Zeichen und joggte, sobald sich eine Lücke im Verkehr auftat, über die Straße zu ihrem Wagen.

    Sie hielt an dem kleinen mexikanischen Supermarkt an, in dem sie Ryan beim Einkaufen kennengelernt hatte, und bereute es sogleich. Die Piñatas, die von der Decke hingen, und die beschwingte Banda-Musik, die aus den Lautsprechern schallte, waren viel zu verheißungsvoll für ihre simplen Besorgungen. »Haben Sie ein paar leere Kartons für mich?«, fragte sie einen Angestellten, der die Obst- und Gemüseregale auffüllte, und während er sich auf die Suche machte, ging sie in die Getränkeabteilung, um Bier zu holen. Was Alkohol anging, war Ryan wählerisch gewesen, insbesondere bei Bier hatte er oft mit Kennermiene von Bitterkeit, Geschmacksnote und Abgang gesprochen. Er trank es nie direkt aus der Flasche, weil das auf Kosten von Cremigkeit und Mundgefühl gehe, wie er betonte. Clara marschierte an den Regalen mit Craft- und Importbier vorbei und holte sich einen Sechserpack Pabst, dann ging sie zur Kasse, bezahlte und verließ mit dem Stapel zerlegter Kartons, den der Angestellte dort für sie deponiert hatte, den Laden.

    KAPITEL 3

    »Komm mit, Katya. Ich will dir etwas zeigen.«

    Ekaterina Dmitrievna sah von ihrem Vater hinüber zur Mutter, die gerade einen Teig für das Abendessen knetete. Wieder würde es weder Fleisch noch Butter geben. Ihre Mutter nickte aufmunternd. Katya legte die Puppe beiseite und ergriff die Hand ihres Vaters. Sie gingen den Korridor ihres vierstöckigen Wohnhauses aus der Vorkriegszeit entlang, vorbei an Kohlgeruch, Kleinkindergeschrei und zerfledderten Propagandaplakaten. Den Tapferen erwarten Heldentaten! Brot für das Mutterland! Macht den Sowjets – Chruschtschow!

    Katya war müde – sie waren alle müde, aber bei ihr lag es daran, dass sie die ganze Nacht in ihrem Bett wachgelegen und abgewartet hatte, ob die Musik wieder einsetzte, die vor drei Tagen verstummt war.

    »Wohin gehen wir, Papa?«

    »Sch, sch, sch. Das wirst du schon sehen. Eine Überraschung.«

    Doch Katya hatte ein flaues Gefühl im Magen, als sie sich der Wohnung des blinden Deutschen näherten. Er war ein Bekannter ihres Vaters, ein Kunde. Einer, den Katyas Vater häufiger besuchte als die anderen Kunden, denn das Klavier des alten Mannes war andauernd verstimmt. »Er spielt zu ungestüm«, hatte Dmitri seiner Tochter erklärt. »Er packt all seinen Kummer in seine Musik. Tja, schlecht für das Klavier, gut für mich.«

    Der Deutsche hieb schon auf die Tasten seines Klaviers ein, seit Katya denken konnte – meist nachts, wenn die Kinder im Haus eigentlich schlafen sollten. Die Mütter ärgerte es, dass sich ihre Kinder dann wegen seiner Musik ruhelos im Bett herumwälzten, doch sie wagten es nicht, sich bei dem alten Mann zu beschweren. Sie konnten sich seine Reaktion lebhaft vorstellen. »Für mich ist immer Nacht!«, würde er mit seiner heiseren Stimme bellen. Er verließ kaum je seine kleine Wohnung, und wenn, dann sah man seine hünenhafte Gestalt laut auf Deutsch vor sich hin schimpfend durch den Korridor schlurfen, mit dem Blindenstock an die Wände klopfend, der umherirrende Blick seiner blauen Augen leer. Es kursierten allerlei Gerüchte über ihn, die stimmen mochten oder auch nicht. Wilm Kretschmann sei nicht sein richtiger Name, erzählte man sich hinter vorgehaltener Hand. Angeblich hatte er sich freiwillig zur Waffen-SS gemeldet und Hunderte von Juden und Partisanen getötet, obwohl er gar nicht Hitlers arischem Herrenvolk angehörte, sondern zur Hälfte jüdischer Abstammung war. Ehe sein Geheimnis ans Licht kommen konnte, hatte er sich 1941 von seiner SS-Division »Reich« abgesetzt. Hitler hätte ihn exekutieren lassen; Untermenschen wie ihm war die Mitgliedschaft in der Waffen-SS verboten, selbst wenn sie ihresgleichen töteten. Während der Schlacht um Moskau hatte er sich von seiner Einheit in Naro-Fominsk entfernt und sich, da er als vermisst galt, in einer Textilfabrik verstecken können, bis es der sowjetischen Armee gelungen war, die Wehrmacht zurückzudrängen. Er hatte entweder durch einen Granatsplitter oder die Schuld, die er auf sich geladen hatte, sein Augenlicht eingebüßt; wie er nach Zagorsk gelangt war, wusste kein Mensch. Er hatte sich sein Geld als Bauunternehmer oder Dieb verdient und trug noch immer seine Mauser HSc in der Jackentasche. Die Musik zeugte von seinen Qualen. Er war ein Monster, ein Dämon, ein Ungeheuer.

    Katya liebte ihn.

    Mit sechs Jahren war sie ihrem Vater zum ersten Mal in die Wohnung des Deutschen gefolgt. Sie hatte sich durch die offen stehende Tür hineingeschlichen und mit angezogenen Beinen auf den Boden gekauert, bereit, Reißaus zu nehmen, falls es sein musste. Ihr Vater stand tief über das Klavier gebeugt da und sah sie nicht. Der Deutsche saß aufrecht wie ein Soldat auf einem alten Stuhl und starrte ins Leere, den Kopf zum Instrument geneigt.

    Katya fragte sich, ob er ihr Herz schlagen hören konnte, so schnell wie eines seiner Musikstücke. Sie presste den schmalen Rücken an die Wand, von der sich die fleckige Tapete löste, und schlang die Arme um die Knie, um das Geräusch zu dämpfen.

    Er bemerkte sie nicht. Nach ein paar Minuten wurde sie übermütig, zeigte ihm die Zunge. Keine Reaktion. Sie streckte erneut die Zunge heraus, schnitt eine Grimasse. Nichts. Erst auf ihr verhaltenes Kichern hin drehte sich der Deutsche zu ihr um. Danach war sie mucksmäuschenstill und wandte ihre Aufmerksamkeit dem glänzenden schwarzen Klavier zu, das den Kopf ihres Vaters verschluckt hatte.

    In den darauffolgenden Monaten stahl sie sich wiederholt in die Wohnung des Deutschen und beobachtete, wie er ihrem Vater beim Stimmen des Instruments lauschte. Sie hätte ihm zu gern einmal zugesehen, wenn er eines der Stücke spielte, die sie nachts oft hörte. Im Gegensatz zu den anderen Bewohnern des Hauses fand sie Gefallen an den wunderlichen, schwer verdaulichen Schlafliedern, die aus seiner Wohnung tönten. Sie wollte wissen, wie sie entstanden.

    Angetrieben von diesem Wunsch, nahm sie eines Nachmittags all ihren Mut zusammen. »Bitte, spielen Sie etwas!«, lispelte sie – sie hatte erst kürzlich ihren siebten Geburtstag gefeiert, und dort, wo ihr die beiden oberen Schneidezähne ausgefallen waren, klaffte eine Zahnlücke. Ihr Vater fuhr herum. »Katya!«, sagte er scharf. »Was hast du hier zu suchen?« Doch der Deutsche hob beschwichtigend die Hand und bedeutete ihr, näher zu kommen. Sie verließ ihren Posten am Türrahmen und ging zu ihm. »Ich dachte mir schon, dass du deswegen hier bist«, sagte er in einem Tonfall, der nichts Monströses hatte.

    Nachdem er ihren Vater bezahlt hatte, bat er ihn, Platz zu nehmen. »Stell dich da hin«, sagte er und führte Katya an die rechte Seite des Klaviers. Seine riesige warme Hand auf ihrer Schulter zitterte leicht. Er tastete nach der Klavierbank und ließ sich schwerfällig darauf nieder, die Hände im Schoß. Katya hielt die Luft an. Dann schwebten seine Hände anmutig nach oben, verharrten einen Augenblick und senkten sich nach einem Moment der Stille behutsam, bedächtig auf die Tasten. Katya musste daran denken, wie ihr ihre Mutter übers Haar strich, wenn sie traurig war oder nicht einschlafen konnte.

    Doch was war das für eine Musik? Sie klang anders als die wilden Melodien, die er nachts in sein Klavier hämmerte. Sie war wie ein Nieselregen, wie Wolken, die am Himmel vorüberzogen, wie der Tanz der Schneefeen. Sie entfaltete sich wie eine Geschichte, die Katya noch nie gehört hatte. Verstohlen legte sie die Hand auf das schwarz lackierte Holz. Sie sah zu, wie die Finger des Deutschen über die Tasten tanzten, fast ohne sie zu berühren, und spürte, wie sich die Musik durch die Ohren, die Augen, die Füße, die Hand einen Weg in ihren Körper bahnte. Als der letzte Ton verklang, war die Vorderseite ihres Trägerkleids von Tränen durchnässt. Der Deutsche stand auf. Seine Bewegungen waren nun wieder kantig und ungelenk, und Alter und Blindheit ließen ihn zittern, doch auch ihm liefen Tränen über die Wangen.

    »Eine russische Komposition für dich«, sagte er mit seinem unüberhörbaren Akzent. »Die Klaviersonate Nr. 2 in gis-Moll von Skrjabin. Ist dir der Name ein Begriff?«

    Sie schüttelte den Kopf, hatte vollkommen vergessen, dass er sie nicht sehen konnte.

    Er strich ihr mit dem Daumen über die Wange, merkte, dass sie tränennass war.

    »Благодарю«, sagte er. Ich danke dir.

    Ihr Vater hatte das als Verabschiedung interpretiert und Katya an der Hand hinausgeführt. »Danke«, hatte sie über die Schulter gesagt. »Danke.«

    Sie hoffte vergeblich, der Deutsche würde kommen und sie zu sich einladen, ihr etwas beibringen, und in ihrer Ehrfurcht wagte sie es nicht, sich allein in seine Wohnung zu schleichen. Und jetzt hatte sie ihn schon drei Nächte nicht mehr spielen hören. Als ihr Vater und sie das nächste Mal die Wohnung des Deutschen betraten, in der sich nur noch sein glänzendes Klavier befand, fragte Katya: »Wo ist er, Papa? Wo ist sein Stuhl? Sein Bett?«

    »Sch, sch, sch, Katenka. Er ist fort. Aber er hat dir etwas vermacht. Sein Klavier.«

    »Wohin ist er gegangen?«

    »Fort. Er ist tot. Eines Tages werde ich es dir erklären. Er hat uns einen Brief geschrieben.« Erst

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