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Die Lügenbrücke
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eBook245 Seiten14 Stunden

Die Lügenbrücke

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Über dieses E-Book

Als die Rumäniendeutsche Johanna von einer Dienstreise zurückkommt, erhält sie einen überraschenden Anruf - es ist Udo, ihr ehemaliger Verlobter, der sie vor über 20 Jahren verlassen hat. Sie verabreden ein Treffen in Frankfurt, doch er erscheint nicht. Nachdem Johanna erfährt, dass Udo auf dem Weg zu ihr tödlich verunglückte, entschließt sie sich dazu, nach Hermannstadt zu fliegen, um mehr über Udos Vergangenheit sowie sein erneutes Interesse an ihr zu erfahren. Dort stößt sie auf mehrere Verbrechen, die mit seinem Tod zusammenhängen könnten.
Sie begegnet einer neuen Liebe, alten Freunden und findet zu sich selbst. Vor allen Dingen als sie erfährt, warum Udo sie damals verlassen hatte.

Der vorliegende Roman zeichnet ein Zeitkolorit Rumäniens aus der Sicht der Siebenbürger Sachsen, thematisiert die Verstrickungen der Menschen untereinander und die aktuelle Zerrissenheit des Landes.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum24. März 2015
ISBN9783765021268
Die Lügenbrücke

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    Buchvorschau

    Die Lügenbrücke - Beatrix Binder

    Familie

    I

    »Hallo? Johanna? Bist du noch dran?«

    Ich ging auf die Sitzgruppe in der Mitte des Foyers unseres Radiosenders zu und flehte in Gedanken den Elefantenbaum, der zwischen zwei Sofas stand, an: Bitte mach, dass er es nicht ist! Aber er war es und ich erkannte sofort seine Stimme, die sich in den dreiundzwanzig Jahren nicht verändert hatte. Ich nahm bei der für ihn typischen Begrüßung Servus Johanna, mit dem rollenden R, jeden Nerv meines Körpers wahr.

    Ich setzte mich auf einen der dunkelbraunen Ledersessel. Meine Haut juckte und ich spürte, wie der Schweiß von meinem BHBügel zum Bauch hinunter rann und wie es unter meinen Achseln nass wurde. Hatte ich ein Deo dabei? Übelkeit stieg in mir hoch. Aber nicht wegen des Essensgeruchs, der aus der Kantine kam und sich im Foyer verbreitete. Das Telefonläuten am Empfang nahm ich nur als dumpfen, weit entfernten Ton wahr. Dafür dröhnte es in meinem Kopf: ServusJohannaServusJohannaServusJohanna.

    »Ja, mit wem spreche ich bitte?«, versuchte ich so sachlich wie möglich zu klingen.

    »Ich bin’s, Udo.« Seine Stimme war unsicherer als damals.

    »Wer? Udo? Udo Schwarz?« Ich schenkte mir Wasser in eines der Gläser, die auf dem Beistelltisch standen, trank einen Schluck. Der gallige Geschmack in meinem Mund wollte dennoch nicht verschwinden. Am liebsten hätte ich das Telefon weggelegt und mir die Hände an meiner Hose abgewischt, als hätte es mich schmutzig gemacht.

    »Woher hast du meine Nu…«, stammelte ich, bekam jedoch nur weitere Gegenfragen gestellt, auf die ich stotternd, mit einer Stimme, die nicht zu mir gehörte, antwortete: »Gut, danke … Ich verstehe nicht … Eigentlich für Kultur … Das weiß ich schon, aber ich muss nach Paris … Nein, du kannst davon ausgehen, dass jemand anders kommen wird … Ach, du und dein brisantes Material!? Wovor willst du mich denn warnen?« Die Starre in mir löste sich langsam auf.

    »Nein, ich sagte doch eben: Ich bin ab morgen in Paris. Udo, ich habe auch heute Abend einen Termin! Sag doch jetzt, worum es … Nein, ich denke, wir haben uns auch sonst nichts mehr zu sagen. Nein, Udo, das geht nicht! Sag mal, bist du taub? Nein, verdammt nochmal!« In meine Stimme presste sich die ganze Wut, Enttäuschung und Angst, die ich all die Jahre mit diesem Namen verbunden hatte. Ich schrie und sah sofort schuldbewusst zur Empfangsdame, die mich erschrocken ansah. Ich hob zur Entschuldigung und als Zeichen, dass alles in Ordnung sei, die Hand und stand auf.

    »Udo, ich muss zurück in die Sitzung. Ich gebe deine Nummer einem Kollegen …« Es schien ihn nicht zu interessieren. Er hörte einfach nicht auf zu sprechen. Und ich schaffte es nicht, das Gespräch zu beenden.

    Ob er immer noch einen Bart trug wie vor dreiundzwanzig Wintern? Ich hatte nicht vergessen, mit welcher Unbeschwertheit ich ihn wegen seiner vom Raureif weißgefärbten Haare im Gesicht liebevoll ausgelacht hatte. Ich hatte nicht vergessen, wie nass und kalt sich sein Bart angefühlt hatte, damals, als Udo mich vom Pacea Kino nach Hause gebracht und vor dem Haustor geküsst hatte. Zärtlich, mit seinen warmen, weichen Lippen, bei minus zwanzig Grad.

    Die Tür des Konferenzraums ging auf. Meine Kollegin sah mich fragend an.

    »Zwei Sekunden«, flüsterte ich. Sie nickte und ließ die Tür einen Spalt weit offen.

    »Udo, ich muss jetzt wirklich Schluss machen. Ja, ja gut … ich höre …«, seufzte ich genervt in den Hörer. Ich setzte mich wieder auf das Sofa, riss von der FAZ auf dem Beistelltisch eine Ecke ab, kritzelte eine Nummer darauf und steckte den Zettel in die Tasche meines Blazers. Bevor ich in den Sitzungsraum ging, warf ich einen Blick aus dem Fenster. Es spiegelte mich. Von rot leuchtenden Lippen war nichts mehr zu sehen. Ich brachte den Kragen meiner weißen Bluse in Ordnung und ging hinein.

    Meine Kollegin schenkte mir ein Glas Wasser ein.

    »Können wir jetzt endlich anfangen?« Tom Krajewski, unser Ressortleiter, saß am Kopfende des Konferenztisches und schenkte sich mit zitternder Hand eine Tasse Kaffee ein. Dabei verschüttete er die Hälfte und ich wusste, das machte ihn noch aggressiver. Er ließ die Kaffeelache Lache sein und trommelte mit seinen Fingern auf den Tisch. Die Stirn legte er in Falten und blickte überheblich in die Runde.

    Erst als wir alle saßen, schlug er die Aktenmappe auf, blätterte hektisch in seinen Unterlagen, überflog fahrig die zahllosen Seiten und notierte etwas auf dem letzten Blatt. Dann formte er die losen Papiere zu einem Stapel, legte sie in die Mappe zurück und klappte diese energisch zu. Ich beobachtete durch das Fenster die in sich zusammengefallenen Fahnen, die den Haupteingang des Senders säumten.

    Zu gut kannten wir die Ton- und Stimmungslagen unseres Chefs. Ich war sicher, jeder im Raum wusste, dass die Schreierei gleich losgehen würde.

    »Das war ja ein tolles Interview, Maier. Bravo!« Er klatschte in die Hände. »Wo zum Teufel haben Sie das denn gelernt? Bei Inge Meysel im Tanzunterricht?« Krajewski sprang von seinem Stuhl auf, riss die Augenbrauen nach oben, streckte Hals und Kopf nach vorne und breitete die Arme aus. »Nur Klischees Maier, nur Klischees …« Angriffslustig zog er seine Bahnen hinter unseren Rücken. Meine Kollegin, die neben mir saß, drückte mit dem Nagel des rechten Daumens die Nagelhaut des linken zurück. Bei der Kollegin, die mir gegenüber saß, hatte ich den Eindruck, dass sie vor Angst die Luft anhielt. Ich hörte jetzt schon ihre Kommentare: Armer Wicht, hält wohl den Druck nicht aus. Hochmut kommt vor dem Fall. Ist ihm wieder eine Mieze weggelaufen? Er hatte wohl keinen Sex.

    »Das war ein Rapper, Maier!! Ein Rapper!! Der mag es, an den Eiern gepackt zu werden. Da kommen Sie mit Ihrem Schmusekurs nicht weiter …«

    Dass er während der Sitzungen aber auch immer so ausrasten musste. Gut, er war der Chef, aber das Interview meines Kollegen fand ich nicht so schlecht, wie Tom es darstellte. Natürlich, es hätte ein bisschen tiefgründiger sein können, aber diese Rapper lassen nun einmal nicht gerne die Hosen herunter. Der Angebrüllte würgte zwei weitere Beleidigungen hinunter – ich sah das an der Bewegung seines Adamsapfels –, aber sonst war ihm keine Regung anzumerken, während Krajewskis Kopf immer roter wurde und die Ader auf seiner Stirn anschwoll.

    Das war Toms Art, Druck auszuüben. Das war seine Art, den Mitarbeitern mitzuteilen, wie er es gerne hätte. Sein Führungsstil war davon geprägt, seine Leute einzuschüchtern und zu verunsichern. Er war zu schwach – zu schwach, sich einen angemessenen Ton und Umgang anzueignen. Er hatte zu große Angst, Autorität einzubüßen, dabei …

    »Hören Sie mir überhaupt zu?«, brüllte Tom weiter. Er stand genau hinter mir, ich schämte mich für ihn und musste mich zusammennehmen, nichts zu sagen. Schon lange nahm ich diese Art nicht mehr ernst. Schon lange hatte er mich nicht mehr angeschrien.

    »Ja, klar«, kam Maiers ruhige Antwort. Ich war sicher, dass mein Kollege sich das ›ist ja nicht zu überhören‹ verkniff. Während des Bombardements hatte er scheinbar gelassen in die Ecke des Sitzungsraums geblickt. Er war Profi genug. Er rechtfertigte sich nicht. Ich folgte seinem Blick und sah eine Spinne, die emsig ihr Netz spann.

    »Dann ist ja gut! Meine Damen, meine Herren, ab an die Arbeit«, beendete Krajewski den Jour fixe. Mehr als gerne hätte ich mich meinen Kollegen angeschlossen, die sich in der Cafeteria verabredet hatten, um die erhaltenen Aufträge zu besprechen. Doch schon ertönte Toms Stimme: »Frau Roth, wir sehen uns gleich? Sagen Sie mal, hat Graf Dracula Sie um ein Rendezvous gebeten? Sie sehen ja erbärmlich aus.« Sein Ton war barsch, aber der Blick passte nicht zum Ton. Die Kollegen lachten höflich. Ich wollte eine freche Antwort geben, war jedoch nicht dazu fähig. So fragte er weiter mit der Disharmonie zwischen Blick und Ton: »Wie war denn eigentlich Ihr Termin mit Kelinaj, Frau Roth? Wann kann ich den ersten Entwurf sehen? Ich habe gehört, sie hat zugesagt, nächsten Mittwoch in der diesjährigen Kulturhauptstadt eine Lesung zu halten. Hat sie Ihnen das nicht erzählt? Sie sind doch in Sibiu geboren. Sie machen das, in Ordnung?« In diesem Augenblick hasste ich ihn.

    »Nein, ich meine ja, wir haben darüber gesprochen, aber ich bin in Paris.« Ich riss mich zusammen, einigermaßen vernünftig zu antworten. Ich konnte es nicht fassen. Was passierte hier gerade? Hatte Udo auch Tom angerufen? Hatte er von ihm meine Nummer? Wie kam Tom ausgerechnet jetzt auf Hermannstadt? Er forderte mich auf, ihm in sein Büro zu folgen. Der Geruch nach Essen war noch immer zu riechen, was in Tom sicherlich einen erneuten Wutanfall auslösen würde. Obwohl ich schon oft in seinem Büro war, blieb ich jedes Mal, bevor ich das Vorzimmer betrat an dem Schild hängen:

    Tom Krajewski

    Ressortleiter für Kultur und Bildung

    Sekretariat

    Birgitt Schaum

    »Hallo, Frau Schaum. Geht es Ihnen gut?« Wie oft hatte ich mir vorgenommen, so dumme Floskeln nicht mehr zu verwenden? Mich interessierte es doch gar nicht, wie es dieser Frau ging. Ich konnte sie nicht ausstehen und ich mochte den Blick nicht, mit dem sie mich ansah. Ich mochte auch ihr Lächeln nicht, das zwar höflich sein sollte, in dem jedoch stets etwas Spott lag.

    Im Büro schloss Tom die Tür zum Vorzimmer, umarmte mich, küsste mich heftig und hob mich auf den Schreibtisch. Er strich mir übers Haar: »Ich habe dich so vermisst … Endlich bist du wieder hier.«

    »Wir wollten doch damit aufhören, Tom. Bitte, lass das«, sagte ich, entzog mich aber weder seinen Lippen noch seinen Händen. »Nur noch dieses eine Mal, bitte«, hauchte er mir ins Ohr.

    »Musst du dich vor den anderen immer so aufführen und was sollte das mit Hermannstadt?« Ich tat zwar empört, spürte aber Erregung in mir hochsteigen.

    Er verstand es, mich an der richtigen Stelle am Hals zu küssen, während ich seiner Hand zwischen meinen Beinen Platz machte. Das Telefon läutete. Sein Atem wurde deswegen nicht ruhiger, er ließ sich nicht stören, aber die Sekretärin blieb hartnäckig.

    »Ja was ist denn? Ich habe doch gesagt …«, schrie er dann doch in den Hörer. »Es geht jetzt nicht!« Sein Ton war wieder aggressiv. »Wer? Schwarz? Was will er? Was? Nicht jetzt. Nein …« Ich sprang vom Tisch, fuchtelte aufgeregt mit den Händen, bedeutete ihm aufzulegen, auf keinen Fall das Gespräch anzunehmen. Nicht mehr ganz so barsch sagte er dann: »Guten Tag … Oh … das ist jetzt schlecht, kann ich Sie gleich zurück…?« In diesem Moment riss ich Tom den Hörer aus der Hand. Ich schrie Udo an, er solle mich in Ruhe lassen … doch es war gar nicht Udo, der da etwas von Flughafen sprach und dann sofort auflegte.

    »Das war nicht die Stimme von Schwarz, Tom. Das war nicht Schwarz!« Fast hätte ich den Satz noch einmal wiederholt.

    »Das hat ja auch keiner behauptet. Sag mal, du bist ja völlig durcheinander. Was ist denn mit dir los?« Tom knetete seine unterschiedlich gebräunten Hände, stellte sich mit verschränkten Armen vor das Fenster und ließ seinen Blick in Richtung Hauptfriedhof schweifen.

    »Wer verdammt ist dieser Udo Schwarz?«, fragte er unerwartet ruhig. »Was soll dieses ganze Theater?« Ich stutzte einen Augenblick. Woher kannte Tom seinen Vornamen?

    »Also hat er dich doch angerufen. Dieser Dreckskerl! Tom, ich fahre nicht nach Hermannstadt! Ich fahre nach Paris!«

    Tom drehte sich um und sah mir direkt in die Augen. In diesem Augenblick fand ich ihn attraktiver denn je, mit seinem gebräunten Teint. Ich setzte mich in den Chefsessel und schaute gedankenverloren auf die vielen Stapel, die auf seinem Schreibtisch lagen, auf eine Traueranzeige für einen Johann Bell, auf seine Schreibutensilien, sein Blackberry, als ich plötzlich am ganzen Körper zu zittern anfing. Ich krümmte mich nach vorne und hielt meinen Bauch.

    »Um Himmels willen, Kleines, was ist denn los? Erpresst er dich?« »Nein, es ist nichts. Ich habe nur Magenschmerzen. Udo Schwarz ist ein früherer Freund aus Rumänien. Er rief vorhin während unserer Besprechung an und bestand darauf, mich heute Abend zu treffen. Er müsse mir etwas erzählen, mich vor etwas warnen. Vor sich hätte er mich warnen müssen.« Den letzten Satz murmelte ich eher vor mich hin. »Hat er dich nun angerufen?« Ich sah zu Tom hoch und wusste, dass ich jetzt wie ein kleines schutzbedürftiges Mädchen aussah. Es war mir egal. Ich wartete seine Antwort gar nicht erst ab, streckte meinen Körper wieder, strich mit den Händen über die Beine, vom Knie in Richtung Knöchel, als ob ich sie wärmen wollte und sagte: »Wahrscheinlich war er das vorhin doch. Die Stimme kam mir schon bekannt vor.«

    »Ist er auch Journalist?«, wollte Tom wissen.

    »Er ist ein Arschloch! Wieso ruft er jetzt an?«

    Obwohl ich Tom nicht ansah, wusste ich, dass er jetzt den Kopf leicht schüttelte und die buschigen, mit etwas Grau durchzogenen Augenbrauen fragend zusammenzog.

    »Hast du etwas mit ihm? Hast du seinetwegen mit mir Schluss gemacht?«

    »Quatsch! Ich weiß nicht, was er will. Ich habe seit über zwanzig Jahren nichts mehr mit ihm zu tun gehabt und das soll auch so bleiben. Ich möchte nur, dass er mich in Ruhe lässt.«

    »Was macht er denn beruflich?«

    »Was weiß ich … Germanistikprofessor an der Uni, glaube ich …«, sagte ich und zeichnete mit meiner rechten Hand imaginäre Kreise in die Luft.

    »Also eine Hesse-Abhandlung wollte er dir sicherlich nicht überreichen …«

    »Tom, bitte, was soll das? Ich weiß genauso viel wie du. Wahrscheinlich hat es etwas mit seiner Untergrundarbeit zu tun, aber das interessiert mich nicht.«

    In diesem Augenblick tat es mir leid, Tom überhaupt etwas erzählt zu haben.

    »Du wirst ihn heute Abend treffen!«

    »Bestimmt nicht!« Ich stampfte mit dem rechten Bein auf den Boden.

    »Doch, du wirst ihn treffen. Du wirst dir das brisante Material anschauen, Johanna. Wir sind immer noch ein Radiosender und müssen unsere Arbeit tun. Außerdem ist die Kelinaj sicherlich froh, jemanden um sich zu haben, der die Sprache beherrscht und den sie kennt.«

    »Ja, aber … ich bin doch morgen in Paris bei Marissa Minsk. Und der werde ich nicht absagen! Du weißt doch, wie sehr ich mich schon die ganze Zeit darauf freue.« Ich hatte keine Kraft mehr ihn zu fragen, woher er von brisantem Material wusste.

    »Aber das Interview mit der Kelinaj ist doch erst nächsten Mittwoch. Du brauchst doch dafür keine Vorbereitung mehr. Du musst nach Rumänien!«

    Mir war, als hörte ich Udos Pfiff. Damals, Anfang der siebziger Jahre, ich war noch nicht ganz siebenjährig, als wir unsere langen Sommerferien bei unseren Großeltern in Haschagen verbrachten. Ein Dorf in einem Nebental des Weissbachs, nur dreißig Kilometer von Hermannstadt entfernt, der Stadt, in der wir die restlichen Monate des Jahres wohnten und zur Schule gingen. Udos Pfiff war unser Zeichen und ein Garant dafür, dass die Mittagsruhe im Dorf zu Ende war. Ertönte er, deckte ich auf dem Heuboden meine Puppe Franziska zu, gab ihr einen Kuss auf die Stirn, legte das Poesiealbum zurück in das Versteck unter die Dachziegel und wurde wieder wild. Dann streunten wir durch fremde Gärten, klauten Obst, führten Klettenschlachten mit den »Feinden«, den rumänischen Kindern, die am Ortsrand wohnten, oder versteckten uns in unseren selbst gebauten Baumhäusern.

    Auf den Heuboden nahm ich Udo nie mit. Dort war ich, wenn das Dorf im Mittagsschlaf versank, alleine. Alleine mit Franziska, der ich das Haar auch zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Jeden Mittag bereitete ich ihr Lieblingsessen zu – abgekratzter Ziegelstaub, etwas Lehmboden, zerrupfte Kartoffelblätter, zerdrückte Ribiseln mit einem Schuss Wasser. An meinem Lieblingshängerkleid, das mit den roten Nähten, wischte ich mir nach getaner Arbeit die Hände ab. Dass ein paar Tropfen Wasser an meinen gebräunten, staubigen Beinen ein helles Rinnsal hinterließen, um dann von den nicht mehr ganz weißen Kniestrümpfen aufgesaugt zu werden, merkte ich nicht. Aber das Schmatzen der Schweine im Stall gegenüber hörte ich jeden Mittag, wenn ich mein Puppenkind gefüttert und frisch gewickelt in die Wiege legte und mich mit einem Seufzer, den ich von Großmutter abgekupfert hatte, auf den Strohsack fallen ließ. Ich wiegte meine Puppe in den Schlaf und es dauerte nicht lange, da schlief auch ich ein. Bis heute weiß ich nicht, was mich so müde machte. Das Summen der Fliegen? Oder der Staub, der im Licht der Dachritzen tanzte? Es herrschte eine Stille, von der die Alten sagten, dass der Pan schlafe.

    Einmal pfiff Udo nicht. Ich habe ihn nie gefragt, warum er es ausgerechnet an diesem Tag nicht getan hat. Er kletterte einfach die Leiter an den großen Korntruhen hinauf.

    »Du hast es hier aber schön!« Er ging zur Wiege und holte Franziska heraus. »Wir haben ja ein Kind, sind aber gar nicht verheiratet.« Er kam mit der Puppe im Arm auf mich zu und küsste mich scheu auf den Mund. »Aber jetzt!«, sagte er stolz und legte das Kind wieder in die Wiege, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. Vor Verlegenheit immer noch rot im Gesicht, ließ ich mich an der Hand nehmen und in Richtung Leiter ziehen. »Komm, die Mian am Aack wird heute beerdigt«, sagte er unternehmungslustig. Das war die alte Frau vom Eck, so wurde die Nachbarin meiner Großeltern genannt, dabei wohnte sie gar nicht in einem Eckhaus. Ich machte mich noch einmal frei, deckte Franziska zu, gab ihr einen Kuss auf die Stirn und versteckte mein Poesiealbum unter den Dachziegeln. Dann erst legte ich meine Hand wieder in seine und sagte: »So, jetzt können wir gehen.« Ich stolzierte wie eine erwachsene Frau aus der Scheune hinaus.

    »Das verstehe ich, Tom. Hermannstadt ist Kulturhauptstadt und meine Heimatstadt. Ich will ja auch hinfliegen, nachdem ich aus Paris zurück bin, aber nicht, wenn Udo Schwarz pfeift.«

    Ich stand auf. Nun war ich es, die ihn umarmte und küsste. Bevor er sich darauf einließ, holte er sich das Versprechen: »Aber du triffst ihn heute Abend!«

    »Ja, ist schon gut, komm her …« Mein Atem sprang mir fast aus der Brust. Tom dachte, es sei seinetwegen. Unanständig lächelnd packte er mich am Hintern und zog mich zu sich heran. Ich legte

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