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Althussers Hände: Essays und Kommentare
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eBook290 Seiten4 Stunden

Althussers Hände: Essays und Kommentare

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Über dieses E-Book

"Die Wahrheit tritt nicht in unser Leben, um uns mit Küssen und Tränen zu wecken, aber wir alle sind unruhig, wir alle sind bereit", schreibt der Schweizer Autor und Regisseur Milo Rau in seinem 2008 entstandenen autobiografischen Essay "Nachmittag eines Linksfaschisten". Der vorliegende Band versammelt Texte Raus aus 10 Jahren und zeigt den "Theaterrevolutionär" (Der Spiegel) in allen erdenklichen Facetten: als kämpferischen Reporter und ironischen Autobiografen, als Liebhaber von Euripides genauso wie von Nicole Kidman. Ob Filmkritik zu David Lynch, Essay zu Roland Barthes oder Traumprotokoll, ob ästhetisches Manifest oder soziologische Miniatur: Rau ist stets ganz nahe am Gegenstand und zugleich auf Augenhöhe mit der Weltgeschichte. Und auch die tiefsinnigste Betrachtung greift aus ins politische Engagement. Er agiert ganz nach dem Motto seines legendären Weblogs "Althussers Hände": "Ich weiß sehr wohl, wie widersprüchlich man sein muss, um wirklich konsequent zu sein."
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum24. Juni 2015
ISBN9783957321282
Althussers Hände: Essays und Kommentare

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    Buchvorschau

    Althussers Hände - Milo Rau

    Rolf Bossart

    HEROISMUS DER ERFAHRUNG

    Milo Rau als Essayist

    Die Wahrheit des Erlebens im Beschreiben zu wiederholen – die Welt also kühler, unverständlicher, unheimlicher, fremder, unmenschlicher und zugleich heißer, gegenwärtiger, zudringlicher, sichtbarer, menschlicher zu machen –, das ist das Schwierigste.

    Milo Rau, Die Welt ohne uns (Fragen der Methode)

    Nun war das Theater für mich immer nur das: ein theoretischer Text, Theorie – diese traumhafte Erweiterung des Willens, diese unwahrscheinliche Möglichkeit, dem Denken zuzusehen, wie es den Tatsachen nachsinnt – und seinem ganzen Schweif aus Ängsten, Wünschen, Erinnerungen, Späßen, Irrtümern.

    Milo Rau, Hymne auf Nikolai Evreinov I

    Die Arbeit an der Theorie entfaltet in den Werken von Milo Rau eine unmittelbar praktische Wirkung. Raus Bühnenarbeiten, Schriften und Statements sind geprägt von zahlreichen Bezügen zu Kunst, Philosophie, Geschichte und Politik. Bevor er 2009 mit Die letzten Tage der Ceausescus international bekannt wurde und seither in hoher Frequenz Erfolge als Regisseur und Essayist feiert, gab es eine längere Phase des Nachdenkens, Schreibens und Ausprobierens, in der vieles, was in seinen späteren Arbeiten wesentlich wurde, angelegt ist. Dieser Band versammelt eine Auswahl wichtiger Texte aus dieser Zeit und leistet somit einen Beitrag zur Genese von Milo Raus Ästhetik und des IIPM – International Institute of Political Murder.

    Der Band enthält neben einzelnen Kritiken und Essays aus NZZ und WOZ überwiegend Texte aus dem Blog Althussers Hände, den Milo Rau seit 2007 betreibt, die im Zeitraum von 2007 bis 2010 entstanden sind. Der ursprünglich geplante »theoretische Roman« mit dem Titel Althussers Hände steht noch aus (vgl. hierzu das Nachwort von Milo Rau). Louis Althusser, dieser strukturalistische Erneuerer der marxistischen Theorie, der seine Ehefrau erwürgt hat und dessen Werk trotz – oder gerade wegen – seiner theoretischen und biografischen Verwerfungen und seiner Arbeitsweise der permanenten, destruktiv-produktiven Umschreibungen immer noch eine enorme Faszination ausübt, macht sich auf Althussers Hände auf vielfältige Weise bemerkbar: als Metapher für das Problem der Wirkungen der individuellen Erfahrung auf die Theorie, als Patron der theoretischen Durchlöcherung strukturalistischer Determinierungen der Postmoderne oder als Prinzip einer »bösartigen« Handlungstheorie, deren implizite Frage lautet: Was könnten die Hände von Althusser tun? Wozu sind die Hände jenes Mannes fähig, dessen Denken kein Denken eines Torsos war, sondern ein Leibdenken, ein Denken, das die Imaginationen des Unbewussten mit den Fingerkuppen kurzschloss. Aber auch in der zentralen Einsicht, dass die politische Gewalt, wie sie Milo Rau in seinen Arbeiten zeigt, personaler ist und weiter weg von der Ideologie, als die Postmoderne glauben machte.

    Raus Erkundungen der Begriffe auf dem Blog Althussers Hände zielen letztlich immer auf die politische Geschichte. Das Material dazu, so zumindest die Behauptung der entsprechenden Kapitelüberschriften im Buch, liefert indessen wesentlich die Befragung der Kunst, der Ideologie, des Stils beziehungsweise der Methode und immer wieder des Selbst.

    Dieses Selbst – ironisch und zugleich ernst gesetzt – ist deutlich als essayistisches Ich zu erkennen und operiert doch an zentralen Punkten mit autobiografischen Details. Das Private dient Rau als Anlass, um den Dingen allgemein auf den Grund zu gehen. So geht es in dem wichtigen Essay Was mit »Lynch« gemeint ist zunächst einfach darum herauszufinden, was ein realistisches Set-Design ist. Rau geht von der selbst erfahrenen Schwierigkeit aus, den von ihm gesuchten »unheimlichen Realismus« für seine Mitarbeiter in Worte zu fassen, und von seiner sprachlichen Notlösung: »wie bei Lynch eben«. Diese praktische Problematik bringt ihn dazu, den Lynchkosmos genauer zu beschreiben: »Die sogenannte Zivilgesellschaft, der ›öffentliche Raum‹ ist hier höchstens ein guter Witz, eben der Ort, an dem sich die Käuze treffen (oder über den Tisch gezogen werden), unfähig, sich selbst (oder ihre Welt) zu analysieren. Twin Peaks ist eine Welt der Hinterzimmer, mit allen damit verbundenen paranoischen Wundern der Innenarchitektur.«

    Der Realismus, der in diesen Texten aus einer fundamentalen Kritik von Begriffen wie Naturalismus, Konstruktion oder Abbildung destilliert und so gewissermaßen der Postmoderne abgetrotzt wird, bleibt bei Rau zwar die Kunstform der Klassischen Moderne und diese insofern sein immer wieder – etwa in den Hymnen auf Evreinov – genannter Bezugspunkt. Aber das Unheimliche, das hinter dem leichten Plauder­ton und der Ironie bereits in Raus frühen Filmen und Stücken zu spüren war, ist dabei das Zentrum des Deutungsprozesses. Der Realismus, so Rau in seinem Essay über David Lynch, sei »geborgt«. Er sei ein Effekt des Set-Designs, der Beleuchtung. Das Reale, welches den Realismus übersteige, habe deshalb die Qualitäten, wie Lacan sie beschreibt, und nicht die eines additiven Fernsehrealismus. Hier ist also bereits genauestens angelegt, was Rau bei späteren Stücken wie Die letzten Tage der Ceausescus oder Hate Radio zur beklemmenden Szenerie formen wird, in der sich aus der Assemblage des Gegensätzlichen – in den Ceausescus etwa der realen Farben und der Farben aus der TV-Übertragung – eine klaustrophobische Welt ergibt, in die sich alles, was passiert, zwanghaft integriert. Die fröhliche Zufälligkeit, wie sie noch in der Postmoderne als Befreiung gefeiert wurde, ist des Feldes verwiesen. Es gibt keine Beliebigkeit des Gegenständlichen, keine Beliebigkeit der Handlung mehr. Geist und Materialität können nicht auseinander gedacht werden.

    Die Themen der hier ausgewählten Texte sind für Rau immer auch ein Anlass, sich mit seiner eigenen Arbeit auseinanderzusetzen, um die Reizkräfte der verschiedenen Dinge zu erproben und sie in eine bestimmte Komposition zu bringen. Es sind Essays, Texte des Suchens und Versuchens. Doch gehen sie nie vollständig auf im rein Experimentellen, sondern haben immer eine Art prospektiven Bedeutungsüberschuss, woraus sich Linien zu späteren Positionen und Aktionen Raus ziehen lassen.

    Im Essay Céline und die Schafe wird auf zwei Ebenen deutlich, weshalb man Althussers Hände als eine Vorbereitungs- oder Übergangsplattform bezeichnen kann. Céline und die Schafe ist ein Text über den französischen Dichter Louis-Ferdinand Céline und im zweiten Teil auch eine für einige Aspekte von Raus Arbeitsweise aufschlussreiche Besprechung einer Inszenierung von Célines spätem Interview-Roman Entretiens avec le Professeur Y an der Berliner Volksbühne. Zum einen werden darin Fragen gestellt, die sehr plastisch die Art von Raus dramatischem Zugang zu den Figuren vorführen: »Wie haben die diese verdammte, eingebildete, unsympathische Ratte, diesen Übersteigerer und Selbsterniedriger, exakt lebensgroß auf die Bühne gebracht? Wie spielt Herbert Sand [der Darsteller Célines in der Inszenierung, Anmerkung d. Hg.] einen Mann, der uns beleidigt, um geschätzt zu werden? […] Wie spielt man das: diese absichtliche Schizophrenie – ohne expressionistisch zu werden? Den Größenwahn des genialischen Verlierers – ohne nur Theatergesichter und Theaterideen aufeinanderzuhäufen? Wie spielt, wie inszeniert man das so menschlich, so sanftmütig bei allem besserwisserischem Zorn, dass der Zuschauer am Ende versöhnt und wie aufgehoben von der Menschlichkeit dieses doch so hinterhältigen und rachsüchtigen und auch noch ziemlich schwer verständlichen Textes aus dem Saal geht?« Zum anderen vollzieht Rau in seinem Céline-Text bereits diese für ihn so typische Konzentration auf das Zweideutige des Menschlichen – seinen eigenen künstlerischen Ansatz, dass es keine taugliche Theorie oder Aktion gibt, wenn nicht Gut und Böse zugleich auftreten. »Es ist in der Kunst einfach nicht möglich, das Gute zu tun«, hat Rau es einmal in einem Interview das Céline-Prinzip auf einen Nenner gebracht. Célines Ausgangspunkt – etwa in seinem berühmten Roman Reise ans Ende der Nacht – war die Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg. Das, was damals kaputtgegangen ist, der Optimismus der Aufklärung, ist nicht mehr zu heilen. Und Céline, dieser großartige Stilist und pathogene Schreibtischtäter, hat – wie sein ferner Nachfahre Michel Houellebecq – für sich den Schluss gezogen, dass man selbst ekelhaft sein muss, um das Ekelhafte zu beschreiben. Denn die Aufnahme und Verinnerlichung von Erfahrung bis hin zu ihrer Sakralisierung im Genuss ist nicht zu trennen von ihrer Verwerfung und Ausscheidung als Exkrement und Ekel. Diese verstörende Untrennbarkeit von Schönheit und Schrecken ist das Thema von Raus Essayistik und Dramatik. Raus emphatischer, mit Begriffen wie Erlösung oder Wahrheit stilisierter Bezug zu Film, Theater oder Literatur fällt daher zusammen mit einer fundamentalen Faszination für die Zwiespältigkeit des Menschen und seiner Geschichte, deren Medium Raus Kunst wiederum zu sein beansprucht. Das ist es auch, was Rau den »Heroismus der Erfahrung« nennt. (Wie vorsätzlich ignorant die Kunstkritik oft daran vorbeischreibt, ist mit viel Witz und Pathos in den zwei Polemiken Gegen das Drama und Die Dummheit der Kunst festgehalten.)

    Der unverkennbare Stil der Leichtigkeit und Sorglosigkeit auf Althussers Hände und auch der früh und mühelos adaptierte alterslose Stil in den hier aufgenommenen, etwa zeitgleich entstandenen Texten aus dem Feuilleton der NZZ oder der WOZ vermitteln einen Eindruck vom sportlichen Charakter von Raus Denken und Schreiben. Doch zugleich ist dieses Schreiben auch besessen vom unbedingten Stilwillen, von Kaskaden originärer Gedankenketten, pathetischer Wort­prägungen, des Hin und Her zwischen exakter, privater Erfahrungsreflexion und geschichtsphilosophischer Phantasmagorie. Kurz: nichts, was man schreibt, wenn man nicht muss. Es gibt die Aussage von Gilles Deleuze, dass man nicht denken kann, wenn man normal und gesund ist, dass es zum Denken immer die Erfahrung von Brüchen braucht. In welchem Maße trifft dies auf Milo Rau zu? Kann man von einer schicksalhaften »Berufung zum Schreiben« in Proust’scher Manier ausgehen oder doch eher von einer klaffenden Lücke infolge einer traumatischen Urverwundung? Die verstreuten autobiografischen Angaben und Selbststilisierungen lassen beide Deutungen zu, oder aber sie drängen zur Einsicht, dass beides – Berufung und Verwundung – ein und dasselbe sind.

    KUNST

    Was ist Unst?

    Die Unst bevölkert die Gesellschaft und schlägt ihr Gedächtnis auf. Die Unst sammelt, kopiert, zeigt. Die Unst ist der Resteverwalter jener Wirklichkeit, die im Vorwissen der Kunst vergessen wurde. Die Unst ist die reine Wiederholung. Denn wir haben begriffen, dass die Kunst sich loswerden muss, um wieder eine zu werden.

    Was bedeutet Unst?

    Die Unst ist ein Wort. Es schreibt sich wie Kunst, nur ohne K: Unst. Sagt jemand: »Kunst«, so antworten wir ihm wörtlich: »Unst«. Schreibt jemand: »Kunst«, so benutzen wir den Radiergummi und gelangen zur Unst. Begegnet uns ein Künstler, so bekehren wir ihn durch ein einziges Wort. Denn die Unst ist die Wörtlichkeit. Und die Liebhaber der Unst sind die Ünstler.

    Was begeistert den Ünstler?

    Der Ünstler ruft außer sich: »Süße Schönheit!«, wenn das Mikrofon des Diktators rauscht, wenn der Kies unter den Füßen des Zeugen knirscht, wenn ein Flugzeug ein verlassenes Braunkohlegebiet überfliegt, wenn der Scherz dem Erzähler entgleitet, wenn die Quellen sich widersprechen, wenn der Dezember für Klarheit sorgt, wenn ein Berg ein Echo wirft, wenn ein Unbekannter einen Einkaufszettel schreibt. Denn das alles ist Unst, und die Unst ist das ureigene Gebiet des Ünstlers.

    Warum feiert die Unst das Leben?

    Die Unst feiert das Leben nicht, weil es widersprüchlich ist (aber auch). Die Unst feiert das Leben nicht, weil es lustig ist (aber auch). Die Unst feiert nicht das Tragische, nicht das Wahre, nicht die Geschichte, nicht die Revolution, nicht die Melancholie, nicht das fremde Geschlecht und nicht die Naivität (aber manchmal schon). Die Unst verkündet nicht die Lehre der Hysterie, der Poesie oder des Understatements (nur ab und zu). Die Unst gründet seine Belehrungen nicht auf die Armut oder den Reichtum, die Jugend oder das Greisenalter, die Bildung oder den Pop, die Linke oder die Rechte, die Tradition oder die Revolution, Hollywood oder den Iran, das Rätselhafte oder das Klare (all das zwischendurch). Die Unst ist weder elitär noch mittelständisch, weder gründlich noch oberflächlich, weder dramatisch noch episch, weder poetisch noch kalt (höchstens zum Spaß).

    FRAGE: Für welche Qualität aber feiert die Unst das Leben?

    ANTWORT: Die Unst feiert das Leben, weil es GENAU SO ist. Die Unst liebt den Iran, das logische Rätsel, den Dezember und die Revolution, weil sie GENAU SOsind. Die Unst erforscht die Geschichte, die Hysterie, das Lustige und das Wahre, weil all das GENAU SO ist. Die Unst liebt sogar die Zukunft, weil sie GENAU SO ist.

    FRAGE: Was also ist die Unst?

    ANTWORT: Die Unst ist die Betrachtung des GENAU SO.

    Wie löst die Unst das Zeitproblem?

    FRAGE: Wie steht die Unst zur Jetztzeit, zur Geschichte und zu den Problemen der Zukunft?

    ANTWORT: Die Unst ist die Analyse des GENAU SO der Jetztzeit, welche aber im Augenblick ihrer Betrachtung bereits eine vergangene, also eine Vorzeit ist.

    FRAGE: Die Jetztzeit ist eine Vorzeit?

    ANTWORT: Oder umgekehrt.

    FRAGE: Und weiter?

    ANTWORT: Gegeben das gestische Voranschreiten der Unst im ­jeweils gegebenen Moment in beide Richtungen der Vor- und der Nachzeit, ist jede Erkenntnis des Ünstlers über das GENAU SO der Jetztzeit zugleich eine Handlungsanweisung für eine ebenfalls völlig gleichzeitig sich ereignende Nachzeit.

    FRAGE: Die Gegenwart des Ünstlers ist also eine Handlungsanweisung an die Zukunft?

    ANTWORT: Richtig. Unter der Voraussetzung natürlich, dass diese Anweisung nicht in irgendeiner übertragenen Weise, sondern ausschließlich GENAU SO, also FÜR DEN GEGEBENEN MOMENT, also WÖRTLICH gemeint ist. Aber ein Ünstler spricht immer wörtlich, sonst wäre er kein Ünstler.

    FRAGE: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden durch die Arbeit des Ünstlers ein und dasselbe?

    ANTWORT: Natürlich.

    FRAGE: Produziert ein Ünstler also Nachzeit?

    ANTWORT: Selbstverständlich. Jeder Ünstler ist eine völlig objektive Weisungsagentur der Nachzeit.

    FRAGE: Der Ünstler kennt die Zukunft?

    ANTWORT: Richtig. Aber nur für den jeweils gegebenen Moment. Nur innerhalb der jeweiligen Recherche. Nur wörtlich.

    FRAGE: Was also liefert der Ünstler der Gesellschaft?

    ANTWORT: Der Ünstler liefert eine völlig wörtliche Wiederholung der Gegenwart durch die Vergangenheit für die Zukunft.

    Fragen der Methode I

    Der Ünstler unterscheidet sich vom Künstler durch seinen wissenschaftlichen Eifer und seine vollkommene Objektivität. Für den Ünstler ist jeder Augenblick seiner privaten Arbeit ein Teil der großen Arbeit am Welt-Objekt, welches wiederum bloß Voraussetzung des Augenblicks ist. Schauspiel, Beleuchtung, Sprache, Musik. Der Blick der Zuschauer, der Diktatoren, ihrer Verräter, der Statisten, der Kameras. Die Kleinschreibung, die Großschreibung, das Exposé, die Recherche, die Kritik, der Absatz und die Abweichung. Die Kosten des Schauspiels, die künstlerische Wahrheit, das Husten im Publikum. Das Gerede, die Urteile, die Benachrichtigungen, die Plötzlichkeit, die Montage. Die Komik, die Unsicherheit, die Wut, das Missverständnis und die Absicht. Die Glut des Dokuments, des Augenblicks und der Zukunft. Die Gerechtigkeit, die Ironie und das Geld. Die drei Akte, die Übergänge und das Fragment. Die Dramaturgie, die Geschichte, die Zeugnisse und der Zufall. Alle Stimmen, alle Reisen, alle Fahrpläne, das Frühstück, der tiefere Sinn, die Tugend, die Witterung und die Geometrie. Der aktuelle Krieg und der Persische, der Nebensatz, die Dialektik, die Erdanziehung, die Pause, der Schlaf. All das ist Teil der großen Arbeit des Ünstlers. All das gehört zur Methode der Unst. Die Hilfsmittel des Ünstlers sind also zahllos in ihrer Art und unendlich in ihrer Wirksamkeit.

    Fragen der Methode II

    Wir wiederholen (um der Wiederholung willen): Die Arbeit des Ünstlers ist niemals subjektiv, sondern immer völlig objektiv. Denn der Ünstler vertraut auf den GEGEBENEN MOMENT, der die Lehrsätze der Kybernetik, des Varietés, der Kriminologie, der Evolutionstheorie, der Quantenphysik, der Gesprächsanalyse, der Mystik, der Autobiografie und so fort bis ans Ende der Wissenschaften in sich vereinigt. Der Ünstler handelt wie jener Weise, der das Fleisch nicht teilt, indem er es schneidet – sondern das Messer dort ansetzt, wo das Gewebe sich WIE VON ALLEIN teilt.

    FRAGE: Aber woher nimmt der Ünstler dieses Messer, welches WIE VON ALLEIN teilt?

    ANTWORT: Jeder Moment enthält das Messer, mit dem er vom Ünstler WIE VON ALLEIN geteilt werden kann.

    FRAGE: Wie erkenne ich das Messer?

    ANTWORT: Das Messer zeigt sich erst in der ünstlerischen Teilung.

    FRAGE: Es geht also darum, das Messer, das den Moment WIE VON ALLEIN teilt, in demselben Moment zu finden, in dem er sich dank des Messers teilt?

    ANTWORT: Natürlich.

    FRAGE: Und wie komme ich zu diesem Moment?

    ANTWORT: Wie von allein. Das ist die Objektivität der Unst.

    Genau dies.

    Was ist in einem Wort das Ziel der Unst?

    Was ist der Lebenszweck des Ünstlers?

    Sich zu erheben

    Zu hören

    Und zu sehen.

    Was?

    Alles, aber nur DIES.

    Wann?

    Immer, aber nur in DIESEM Moment.

    Wie?

    Auf alle Arten, aber nur GENAU SO.

    Wo?

    Überall, aber nur HIER.

    Denn GENAU DIES

    Ist das Ziel.

    3.10.2008

    Die Welt ohne uns

    Vorgestern war es, dass ich anlässlich eines kleinen Essays über Christoph Ransmayr und seinen Roman Morbus Kitahara wieder einmal auf den Morgenthau-Plan gestoßen bin: den hirnrissigen und poetischen Plan, das Dritte Reich in ein reines Agrarland zu verwandeln.

    Ich mag die Literatur nicht, die Ransmayr schreibt, obwohl mich seine Themen faszinieren: Alternativgeschichten, narrative Rekonstruktionen, Reisen durch Länder, die so fremd sind, dass sie auch erfunden sein könnten. Aber alle Beobachtungen Ransmayrs sind derart in einem übergeordneten Stil aufgelöst, dass sie diese Art von Wahrheit, diese einzige Art von Wahrheit, die mich wirklich interessiert, eingebüßt haben – die Wahrheit des Sehens, Hörens, Erlebens, die weder mit einer Geschichte noch mit einer Form etwas zu tun hat, sondern mit einer eher philosophischen Fähigkeit: genau sein zu wollen. Sich beim Schreiben nicht ans Beschreiben oder ans Beschriebene, sondern an die genaue seelische Mechanik des Beobachtens zu erinnern und die Wirklichkeit aus diesen geistigen Aggregatzuständen rückwärts wieder abzuleiten. Die Wahrheitdes Erlebens im Beschreiben zu wiederholen, sie zu erwecken, ohne dabei den Elektroschock- und Herzmassagen-Expressionismus zu praktizieren, wie man ihn aus dem deutschen Theater kennt – die Welt also kühler, unverständlicher, unheimlicher, fremder, unmenschlicher und zugleich heißer, gegenwärtiger, zudringlicher, sichtbarer, menschlicher zu machen – das ist das Schwierigste.

    Es ist ja etwas sehr Kaltes, sehr Kartesianisches an dieser Vorstellung einer Genauigkeit diesseits der Form. Es ist die Angst, auf Vorgefertigtes hereinzufallen, sich von fertigen Bildern und fertigen Sätzen und Erzählgewohnheiten für dumm verkaufen zu lassen – »von einem Geist«, wie René Descartes sagt, und damit meint: von den Scholastikern, von den schlechten Philosophen, von den Formalisten. »Ich übte mich in meiner Methode des Zweifelns«, schreibt er, »und hielt alles für ungewiss, was andere für wahr halten.« Descartes deduziert und zögert, versteht und verwirft, tastet sich einen Schritt vorwärts und einen halben zurück, denkt wie auf Eis, beweist alles Mögliche, philosophiert sich einmal quer durchs Grand Siècle, kommt auf die numerische Unendlichkeit und schließlich sogar auf Gott.

    Wenn nun Descartes ein System gebraucht hat – die Logik, die Zahlen und Gott – um zu beweisen, dass es eine Welt und eine Wahrheit diesseits aller Formalismen gibt, dass Zweifel angebracht, aber nicht das Ende der Geschichte sind: Wie soll da ein einfacher moderner Schriftsteller, der uns unterhalten will, der vielleicht eine Geschichte erzählen will, der uns sagen will, wie etwas zugeht und in welcher Reihenfolgeundaus welchen Gründen, wie soll der nicht immerhin ein paar ganz kleine Gewissheiten, einen kleinen Stil, einen praktischen Formalismus zu seiner Verfügung haben dürfen? Es ist einfach zu viel verlangt, bei aller Gottlosigkeit auch noch auf den Stil zu verzichten. Die großen Kartesianer des Beobachtens: Claude Simon, Harold Brodkey – sie erzählen uns keine Geschichten. Aber Ransmayr, der erzählt ja, der will ja erzählen.

    In Morbus Kitahara wird beschlossen, ein im Krieg besiegtes Land nicht wieder aufzubauen, der Rest des Buches, eine Art Kampf aller gegen alle, eine Degeneration aller Propositionen des Begriffs Mensch, folgt aus dieser Idee. Es ist der Morgenthau-Plan, den Ransmayr da zu Ende denkt, nicht uninteressant, wenn auch eine ganz und gar faschistische Erzähl-Idee – hätte der Faschismus in Wahrheit über Ideen, und nicht nur über vage Vorstellungen, über mit Worten getarnte Großstimmungen verfügt. Politisch obszön, anthropologisch hirnrissig ist diese Idee, aber von den möglichen Bildern her natürlich so reichhaltig wie Speers Trümmerarchitektur – eine Bauweise, die darauf angelegt war, auch in allen Stadien des Verfalls noch schön auszusehen, ein Cadavre Exquis.

    Das Böse aus der Welt schaffen, indem man die Zivilisation insgesamt zerstört: Winston Churchill und Theodore Roosevelt haben Morgenthaus Plan in Erwägung gezogen. Nicht ernsthafter als andere Pläne, aber sie haben ihn auch

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