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Der doppelte Boden: Ein Gespräch über Literatur und Kritik
Der doppelte Boden: Ein Gespräch über Literatur und Kritik
Der doppelte Boden: Ein Gespräch über Literatur und Kritik
eBook281 Seiten3 Stunden

Der doppelte Boden: Ein Gespräch über Literatur und Kritik

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Über dieses E-Book

Gute Literatur, hat Marcel Reich- Ranicki gesagt, ähnele einem Koffer für Schmuggelware. Auch sie hat einen doppelten Boden, in dem sich Dinge zunächst unsichtbar transportieren lassen. Und selbst wenn der Leser versteckte Bedeutungen nicht entdeckt, genießt er doch die Lektüre. Denn gute Literatur sei vor allem eines: nicht langweilig. In den Gesprächen, die der Literaturwissenschaftler Peter von Matt in den Jahren 1986 bis 1991 mit Marcel Reich-Ranicki geführt hat, geht es um Fragen wie diese: Welche Aufgaben, welche Bedeutung hat Literaturkritik? Wie ist es um das Verhältnis zwischen Literaturwissenschaft und Literaturkritik bestellt? Die Werke welcher Autorinnen und Autoren sollten wir alle lesen und warum? Der Germanist und Nachlassverwalter Marcel Reich-Ranickis, Thomas Anz, hat den Interviews vier spätere Essays von Matts über Reich-Ranicki hinzugefügt und sie mit einem Vorwort versehen.
SpracheDeutsch
HerausgeberKampa Verlag
Erscheinungsdatum25. März 2020
ISBN9783311701507
Der doppelte Boden: Ein Gespräch über Literatur und Kritik
Autor

Marcel Reich-Ranicki

Marcel Reich-Ranicki, geboren 1920 in der polnischen Kleinstadt Włocławek, gestorben 2013 in Frankfurt am Main, gilt als einflussreichster Literaturkritiker der Gegenwart. Von 1973 bis 1988 leitete er bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung das Ressort für Literatur und literarisches Leben, von 1988 bis 2001 moderierte er die Fernsehsendung Das Literarische Quartett. Von seinen zahlreichen Veröffentlichungen fand die 1999 erschienene Autobiographie Mein Leben weltweit große Beachtung.

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    Buchvorschau

    Der doppelte Boden - Marcel Reich-Ranicki

    Kampa

    Thomas Anz

    Literaturkritik und Literaturwissenschaft im Gespräch

    Vor 28 Jahren erschien Der doppelte Boden: ein langes, spannendes, höchst anregendes, lehrreiches und zugleich gewitztes »Gespräch« über Literatur und Literaturkritik. Eigentlich waren es mehrere Gespräche in dichter Folge. Der an der Universität Zürich lehrende Literaturwissenschaftler Peter von Matt hatte sie 1986 mit dem Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki geführt, der die Literaturredaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung leitete. Eine kürzere Fortsetzung der Gespräche folgte 1991 in einer historisch und persönlich veränderten Situation. Reich-Ranicki blieb in der Zeitung zwar Redakteur der von ihm begründeten Frankfurter Anthologie, war aber im Alter von 68 Jahren als Redaktionsleiter des Literaturteils von Frank Schirrmacher abgelöst worden. Seine öffentliche Präsenz als Kritiker wurde dadurch allerdings nicht beeinträchtigt. Im Gegenteil: Das seit 1988 gesendete Literarische Quartett machte ihn so populär wie nie zuvor. Noch deutlicher zeigt sich in den Gesprächen von 1991 jedoch, dass sie bald nach dem Ende der deutschen Teilung stattfanden. Der Streit um Christa Wolf im eben erst vereinten Deutschland, um ihre Erzählung Was bleibt und um ihre Rolle in der ehemaligen DDR war nur eines der Themen, die der veränderten Situation Rechnung trugen. Und ein Phänomen, das schon 1986 wiederholt aufgegriffen wurde, das Neben-, Gegen- und Miteinander von vier deutschsprachigen Literaturen – aus der BRD, der DDR, der Schweiz und Österreich –, bot nach dem Ende der DDR neue Anlässe zur Diskussion.

    Die Initiative zu dem Gespräch kam aus der Schweiz. Der Ammann Verlag in Zürich hatte 1990 Reich-Ranickis gesammelte Essays über Thomas Bernhard veröffentlicht, 1991 folgten entsprechende Bände über Martin Walser und Max Frisch, 1992 über Günter Grass, später über Vladimir Nabokov und Wolfgang Koeppen. Von diesen Autoren und von vielen anderen ist in den Gesprächen die Rede. Ammann veröffentlichte die Aufzeichnungen 1992, zwei Jahre später der Fischer Taschenbuch Verlag. Das Buch war lange Zeit vergriffen und liegt nun in einer neuen Ausgabe vor. Der Gesprächstext und die damaligen Informationen über Marcel Reich-Ranicki wie über Peter von Matt wurden als historische Dokumente unverändert übernommen, aber im Anhang vor allem durch vier spätere Essays Peter von Matts über Reich-Ranicki ergänzt. Sie lassen sich als eine Art Fortsetzung der früheren Gespräche verstehen. In dem Essay zum 85. Geburtstag des Kritikers erinnert sich Peter von Matt: »In den achtziger Jahren habe ich mit ihm auf Aufforderung des Verlegers Egon Ammann einige lange Gespräche geführt. Das geschah in der Frankfurter Wohnung in der Gustav-Freytag-Straße. Ammann saß mit dem Tonband daneben; im Hintergrund, kettenrauchend, Frau Tosia. Sie hörte lautlos zu, und wenn ihrem Mann ein Name, ein Titel nicht gleich auf die Zunge kam, warf sie das Wort blitzschnell in den Raum. Aus den Gesprächen wurde dann das Buch.«

    Die Gespräche sind heute ein bemerkens- und bewahrenswertes Dokument zur Erinnerung an das literarische Leben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, an einen Dialog auch zwischen Literaturkritik und Literaturwissenschaft, und sie haben mit zahlreichen Problemstellungen, die Autoren, Kritiker, Verleger, Wissenschaftler und andere Leser gleichermaßen bewegen, nichts von ihrer damaligen Aktualität verloren. Was im Klappentext der mit großer Sorgfalt und verlegerischem Engagement erstellten Erstausgabe stand, ist nach wie vor zutreffend: »Das Gespräch mit Peter von Matt betrifft ausschließlich die Literatur, die Arbeit des Kritikers, Bücher und Autoren, Strömungen und Positionen, wobei Peter von Matt sich nicht mit der Rolle des Stichwortgebers begnügt, sondern auch eigene Einsichten und Wertungen darlegt, die sich mit jenen Marcel Reich-Ranickis nicht immer decken. Dieses sehr persönliche Buch ist eine Tour d’horizon durch die Literatur unseres Jahrhunderts, ein Logbuch der Beschäftigung mit Literatur, anregend und verführend zugleich, herausfordernd in jedem Fall.«

    »Gespräche« haben in der Geschichte der Literaturkritik eine lange Tradition. Als eine der ersten und maßgeblichen Zeitschriften, die Literaturkritik im heutigen Sinne veröffentlichten, gelten die von dem Frühaufklärer Christian Thomasius zwischen 1688 und 1690 publizierten Monats-Gespräche. Hier wurden Neuerscheinungen im wörtlichen Sinn »besprochen«, und zwar nicht in der lateinischen Sprache der Gelehrten, sondern in allgemeinverständlichem Deutsch. Und besprochen wurden sie in Form von fiktiven Dialogen zwischen zwei und fünf Personen. Diese Form erfundener Gespräche wurde im 18. Jahrhundert zwar bald aufgegeben, aber den Charakter von Dialogen hat Literaturkritik behalten, wenn ihre Einschätzungen nicht als quasi richterliche und autoritative Urteile einer einzelnen Person, sondern als Anregungen und Beiträge zu einer offenen Diskussion verstanden werden wollten. Diesem undogmatischen Selbstverständnis der Literaturkritik sind ausdrücklich auch einige Literaturwissenschaftler gefolgt. Nicht zufällig einem Buch über Probleme der literarischen Wertung, einem der ersten zu diesem die Literaturkritik unmittelbar tangierenden Problemfeld, stellte etwa Walter Müller-Seidel 1965 ein Motto voran, das den im selben Jahr gestorbenen jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber mit dem Satz zitiert: »Ich habe keine Lehre, aber ich führe ein Gespräch.« Im 20. Jahrhundert haben der Rundfunk und das Fernsehen dem echten, dem mündlichen Gespräch über Literatur neue Möglichkeiten der Verbreitung eröffnet. Literaturkritik im Internet, deren Stil vielfach einer Verlagerung privater Gespräche in den öffentlichen Raum gleicht, setzt inzwischen die dialogischen Traditionen in unterschiedlichen Varianten und Qualitäten fort.

    Nachdem Reich-Ranicki 1958 Polen verließ und in der Bundesrepublik Deutschland bald zum prominentesten Literaturkritiker des Landes wurde, hat er das kritische Gespräch über Literatur in vielfältiger Weise gesucht, gefunden und gefördert: zuerst in der Gruppe 47. An den späteren öffentlichen Diskussionen, die er beim Klagenfurter Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis und im Literarischen Quartett leitete, war auch Peter von Matt beteiligt. Dass es lohnend sein könnte, mündliche Gespräche mit Reich-Ranicki zu verschriftlichen und im Buchformat zu veröffentlichen, war eine Idee des Verlegers Egon Ammann, die der Literaturwissenschaftler gerne und engagiert mit umzusetzen bereit war. Erst zehn Jahre nach der Veröffentlichung des in jeder Hinsicht geglückten Versuchs in Der doppelte Boden zeigten sich weitere Verlage an der Publikation von Büchern mit Gesprächen Reich-Ranickis interessiert. 2002 erschienen in dem Band Marcel Reich-Ranicki. Kritik als Beruf, herausgegeben von Peter Laemmle, dem damaligen Leiter des Nachtstudios des Bayerischen Rundfunks, im Fischer Taschenbuch Verlag seine vorher im Hörfunk gesendeten Gespräche mit Eva Demski, Wilfried F. Schoeller und Joachim Kaiser. Im selben Jahr veröffentlichte der Propyläen Verlag unter dem Titel Lauter schwierige Patienten seine zuerst im Fernsehen gesendeten »Gespräche mit Peter Voß über Schriftsteller des 20. Jahrhunderts«, so der Untertitel. 2006 erschien eine Auswahl der in Zeitungen und Zeitschriften gedruckten Interviews und Gespräche Reich-Ranickis aus der Zeit seit 1999 unter dem Titel Aus persönlicher Sicht.

    Das Gespräch mit Peter von Matt war und blieb, abgesehen vom Umfang, von den eigenständigen, gleichberechtigten Anteilen beider Gesprächspartner daran und von den so geordneten wie vielseitigen Reflexionen über wichtige, nicht auf einzelne Autoren oder Bücher fixierte Problembereiche, auch deshalb singulär, weil es zwischen einem Literaturkritiker und einem Literaturwissenschaftler geführt wurde. Neben der spannungsvollen Beziehung zwischen Literaturkritikern und Schriftstellern sowie der zwischen Literaturkritik und Buchhandel, die hier ein wiederkehrendes Thema sind, ist auch das Verhältnis zwischen Literaturwissenschaft und journalistischer Kritik schon immer problematisch gewesen. Der Literaturwissenschaft gilt die Literaturkritik gemeinhin als zu oberflächlich, flüchtig, subjektivistisch, kurz: als unwissenschaftlich; der Literaturkritik ist die Literaturwissenschaft zu akademisch, sprachlich zu abstrakt oder hermetisch, zu welt- und gegenwartsfern, zu sehr mit sich selbst beschäftigt, zu öffentlichkeitsfern und zu langsam. Die Beziehung zwischen beiden ist von vielen gegenseitigen Ressentiments, Rivalitäten und von Ignoranz geprägt – bis hin zur jüngsten Wiederbelebung alter Stereotype der Germanisten-Schelte, wie sie im Februar 2017 ein Redakteur des Spiegel zu initiieren versuchte. Dass ein Literaturwissenschaftler sich derart intensiv und herausfordernd mit einem in der Gegenwart agierenden Literaturkritiker auseinandersetzt, wie Peter von Matt es getan hat, ist heute immer noch selten. Und dass ein Literaturkritiker sich darauf einlässt, ebenfalls. Da hat sich seit der Entstehung der Literaturkritik vor mehr als drei Jahrhunderten nicht viel geändert.

    Der »Criticus« ist ursprünglich der Typus des historisch universal gebildeten Gelehrten, der sich besonders im Umgang mit Texten griechischer und lateinischer Sprache eine besondere Beurteilungskompetenz erworben hat. In oft spöttischer Abgrenzung zu dem als welt- und publikumsfern geltenden »Bücherwurm« und seiner pedantischen Anhäufung historischen Wissens sowie zu dem an René Descartes geschulten Typus des rationalistischen Methodologen, dessen philologische Textkritik die gesicherte Erkenntnis seines Gegenstandes und die zuverlässige Rekonstruktion seiner Bedeutung sucht, entsteht in Frankreich im 17. Jahrhundert nach dem Vorbild des Essayisten Michel de Montaigne der neue Typus des »weltmännischen« Kritikers. Dessen critique mondaine richtet den Blick stärker auf die Gegenwart und die aktuelle Buchproduktion, er schreibt nicht mehr in der lateinischen Sprache der Gelehrten, sondern in der jeweiligen Volkssprache und wendet sich, bevorzugt in Zeitschriften, an ein breiteres Publikum. Dieser neue Typus des Criticus, aus dem der Literaturkritiker im heutigen Verständnis hervorging, etabliert sich im 18. Jahrhundert, gestützt auch durch das Prestige, das der Begriff »Kritik« im Zeitalter der Aufklärung gewinnt.

    In seinem hartnäckig propagierten Bemühen um Verständlichkeit und um eine Literatur, die einer breiteren Öffentlichkeit nicht unzugänglich bleibt, sowie um einen Stil der Auseinandersetzung mit Literatur, der die Kluft zwischen kulturellen Eliten und einem breiten Publikum zu schließen versucht, stand Reich-Ranicki, wie das Gespräch mit Peter von Matt deutlich erkennen lässt, in dieser Tradition. »Dass er kein Freund der Germanisten ist, hat sich herumgesprochen«, schreibt Peter von Matt in einem seiner Essays über ihn. Als Beleg dafür hätte er zwei Sätze aus Reich-Ranickis Autobiographie Mein Leben zitieren können, in denen dieser sich an die Jahre seiner Redaktionsleitung in der Frankfurter Allgemeinen erinnert: »Ihre Arbeiten, voll von Fremdwörtern und Fachausdrücken, deren Notwendigkeit in der Regel nicht einleuchtete, waren für die meisten Leser unverständlich. Überdies hatten ihre Manuskripte bisweilen einen penetranten, einen abstoßenden Geruch, den Kreidegeruch der Seminarräume.« Reich-Ranicki hat trotzdem eine Vielzahl von Hochschulgermanisten, auf deren Kompetenzen er nicht verzichten wollte, dazu animiert, sich auch zu Kritikern mit journalistischen Fähigkeiten zu entwickeln. Die Autobiographie blickt mit einigem Stolz auf das Ergebnis zurück: »Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Überwindung der traditionellen, der unseligen Kluft zwischen der deutschen Universitätsgermanistik und der Literaturkritik, vornehmlich der Kritik in der Presse, zum Wichtigsten gehört, was mir in den fünfzehn Jahren in der Frankfurter Allgemeinen gelungen ist.«

    Gelungen ist dies ebenfalls dem Hochschulgermanisten Peter von Matt. Er war seinerseits auch als Literaturkritiker erfolgreich – nicht zuletzt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. 1982 erschien seine erste Gedichtinterpretation in der Frankfurter Anthologie, es folgten viele andere. Ab 1998 verlieh die Zeitung an Interpreten, deren Beiträge für die Frankfurter Anthologie besonders hoch geschätzt wurden und die sich auch sonst um die Vermittlung von Lyrik verdient gemacht hatten, einen Preis. Peter von Matt war der Erste, der ihn erhielt. Zu den auf diese Weise Ausgezeichneten gehörten in den folgenden Jahren etliche Literaturwissenschaftler: Ruth Klüger, Wulf Segebrecht, Harald Hartung und Walter Hinck.

    Peter von Matt widmete 2008 die Sammlung seiner »Kleinen Deutungen deutscher Gedichte« in dem Band Wörterleuchten Reich-Ranicki mit den Worten: »Die Form der Kleinen Deutung ist keine Erfindung des Verfassers. Sie ist Marcel Reich-Ranicki zu verdanken, der 1974 die Frankfurter Anthologie begründet hat und sie bis heute leitet. Die meisten Interpretationen des vorliegenden Bandes wurden für diese wöchentliche Reihe in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung geschrieben. Auch wenn es noch keine Theorie der Kleinen Deutung gibt, ist diese doch zu einer unverwechselbaren Gestalt der literarischen Kritik und Auslegung geworden. Sie zieht viele Literaturwissenschaftler an, andere lehnen sie grimmig ab. Der Verfasser des vorliegenden Buches war dem Spiel verfallen, seit er 1982 mit Chamissos Tragischer Geschichte den ersten Versuch machte. Er verdankt Marcel Reich-Ranicki manchen wertvollen Hinweis, bald auf einen Patzer, bald auf einen übersehenen Zusammenhang, auch viele konkrete Text-Vorschläge. Wem, wenn nicht ihm, sollte dieses Buch gewidmet sein?«

    Zur Überwindung der Kluft zwischen Literaturkritik und Literaturwissenschaft haben deutsche Universitäten, sieht man von der 1974 erfolgten Ernennung Reich-Ranickis zum Honorarprofessor an der Universität Tübingen ab, relativ spät beigetragen – im Gegensatz zu Universitäten in anderen Ländern: 1968 lehrte Reich-Ranicki ein Semester lang deutsche Literatur an der Washington University in Saint Louis. Von 1971 bis 1975 war er wiederholt als Gastprofessor für neuere deutsche Literatur an den Universitäten von Stockholm und Uppsala tätig. In Uppsala erhielt er 1972 die erste Auszeichnung in seiner Kritikerkarriere: die Ehrendoktorwürde der Universität. Erst nach zwei Jahrzehnten folgten entsprechende Auszeichnungen an deutschen Universitäten, zuerst 1992 an den Universitäten Augsburg und Bamberg, zuletzt 2006 und 2007 an zwei Universitäten in Berlin.

    2007 fand in Frankfurt die Einweihung des Marcel-Reich-Ranicki-Lehrstuhls der Universität Tel Aviv statt. Peter von Matt hielt dabei den Festvortrag und signalisierte damit, wie auch in seinen zahlreichen, keineswegs nur für Germanisten geschriebenen Buch-Veröffentlichungen, ein weiteres Mal, dass er Reich-Ranickis Anliegen, die »Überwindung der traditionellen, der unseligen Kluft zwischen der deutschen Universitätsgermanistik und der Literaturkritik«, teilte. Um eine damit verwandte Kluft geht es in einem der wichtigsten Gesprächsthemen des Buches, dem sich der Titel Der doppelte Boden verdankt: Was Literaturwissenschaftler mit abstrakten Begriffen wie »Mehrfachcodierung« oder »Doppelcodierung« zu benennen und zu analysieren versuchten, nämlich die Fähigkeit von Schriftstellern, mit ihren literarischen Texten sowohl populäre Unterhaltungs- als auch akademisch geschulte Auslegungsbedürfnisse zu bedienen, beschrieb er mit einem treffenden und vergnüglichen Vergleich.

    Reich-Ranicki schätzte eine Literatur, die ihre Leser weder unter- noch überfordert. Sein kritisches Engagement galt dem »intelligenten, dem gehobenen Unterhaltungsroman«. An jener massenhaft verbreiteten Unterhaltungsliteratur, die man auch als »Trivialliteratur« bezeichnet, hatte er kein Interesse. Ihr fehle der »doppelte Boden«, ohne den bessere Literatur nicht auskomme: »Wenn einem Text die Zeichenhaftigkeit fehlt, dann ist es keine Literatur, der doppelte Boden muss vorhanden sein.« Mit welcher Anschaulichkeit er darüber zu reden vermochte, als er den guten Schriftsteller dabei mit einem Schmuggler verglich, dessen Koffer mit doppeltem Boden mehr enthält und anderes als das, was auf den ersten Blick in ihm sichtbar ist, kann man sich bei der eigenen Lektüre des Gesprächs vor Augen führen lassen.

    Im selben Jahr, in dem Der doppelte Boden erschien, führte er ein Gespräch mit der Schriftstellerin Eva Demski, in dem er erklärte: »Das Fernsehen ist ein Medium für Diskussionen und der bisherige Erfolg des Literarischen Quartetts hat bestätigt, dass man Literatur den potentiellen Lesern besser so näher bringen kann als mit einer gedruckten Kritik. Denn selbst, wenn man sich bemüht, verständlich zu schreiben, ist man nicht so verständlich wie im Gespräch, in dem eine Formulierung sofort ergänzt, gedeutet und widerlegt werden kann.« In Peter von Matt hatte er einen idealen Gesprächspartner gefunden. Beiden ist es in ihrem Buch geglückt, die Vorzüge des mündlichen Gesprächs mit denen des gedruckten Worts zu verbinden.

    Das Gespräch

    Hauptteil

    (1986)

    Herr Reich-Ranicki, Sie lieben das Eindeutige und das klare Wort. Ich möchte gern eindeutig anfangen und Sie am Anfang bitten, vier Fragen so kurz wie möglich zu beantworten, mit Ja und Nein, wenn es geht. Nachher haben wir Zeit, alles zu präzisieren. Erste Frage: Sind Sie grausam?

    Ich bemühe mich, nicht grausam zu sein. Es gibt Fälle, wo eine gewisse Grausamkeit nötig ist.

    Haben Sie Feinde?

    Sehr viele. Das gehört zu meinem Beruf.

    Würde die deutsche Literatur der letzten zwanzig Jahre ohne Sie anders aussehen?

    Ein klein wenig, glaube ich. Nur: Es ist nicht meine Sache, dies zu beurteilen.

    Ist der deutsche Literaturbetrieb korrupt?

    Der Literaturbetrieb aller Länder ist korrupt. Der deutsche nicht mehr, als er es in der Weimarer Republik war, vielleicht etwas weniger.

    Ich möchte bei dem Stichwort Literaturbetrieb bleiben, und zwar eben in dem Problemfeld der möglichen Korruption. Wie ist das mit den Verlagen? Gibt es eine Einflussnahme der Verlage auf die Kritik, die dann tatsächlich diese Kritik steuert?

    Wie der Rechtsanwalt verpflichtet ist, seinen Mandanten zu verteidigen, was immer er getan haben mag, so muss der Verleger, wenn er sich einmal entschlossen hat, ein Buch zu publizieren, möglichst viel tun, um dieses Buch unter die Leser zu bringen. Der Einfluss auf die Kritik wird auf unterschiedliche Weise ausgeübt. Je größer und je mächtiger ein Verlag und je intelligenter dessen Leitung, desto subtiler und komplizierter die Einflussnahme.

    Gibt es direkte Bestechung?

    Nein, die gibt es meines Wissens nicht. Denn so viel verdienen die Verleger an ihren Büchern nun doch nicht, dass sie es sich leisten könnten, die Kritiker mit nennenswerten Beträgen zu bestechen.

    Sie haben also nie von einem Verlag ein Geschenk von einigem Wert bekommen oder angenommen? So von fünfzehn Flaschen Burgunder an aufwärts?

    Sie überschätzen die Großzügigkeit unserer Verlage. Noch nie habe ich mehr als sechs Flaschen erhalten. Dabei handelte es sich um Weihnachtsgaben von Verlagen, die meine Bücher publizieren. Vom Suhrkamp Verlag habe ich zum 60. Geburtstag einen Hibiskus bekommen, der übrigens noch heute auf meinem Balkon steht. Zum 70. Geburtstag hat mir derselbe Verlag eine Flasche Whisky geschenkt (von vorzüglicher Qualität).

    Gibt es nicht noch andere Wege der Korruption im Literaturbetrieb?

    Ich lebte noch nicht lange in der Bundesrepublik, war aber schon nicht ganz unbekannt. Damals habe ich ein übersetztes Buch ziemlich scharf abgelehnt. Der Verlag, der es herausgebracht hatte, meldete sich sofort und unterbreitete mir ein überraschendes Angebot: Er wollte einen Band mit meinen Kritiken verlegen. Das war offensichtlich ein Versuch, mich für künftige Zeiten von der negativen Kritik der Bücher dieses Verlages auszuschließen. So will man unbequeme Kritiker mundtot machen. Das ist übrigens in meinem Falle schon deshalb sinnlos, weil ich auch über Bücher von Verlagen schreibe, in denen meine eigenen Sachen erscheinen. Robert Musil hat einmal in seinem Tagebuch gespottet, Alfred Polgar sei ein glücklicher Mensch, dem meist Bücher gefallen – ich zitiere sinngemäß –, die bei seinem eigenen Verleger erschienen sind, nämlich bei Rowohlt. Auch Musil wurde von Rowohlt verlegt, aber er schrieb nicht über diese Bücher. Wollte Polgar seinem Verleger einen Gefallen tun? Das lässt sich nicht von der Hand weisen, obwohl Polgar – gar kein Zweifel – ein ehrlicher, ein integrer Kritiker war. Was mich betrifft: Ich schließe die Bücher der Verlage, in denen auch meine eigenen Sachen gedruckt werden, von meiner literarkritischen Tätigkeit nicht aus. Denn ich publiziere in mehreren Verlagen, es würde also gar zu viel wegfallen. Nur lasse ich mich von dem Umstand, dass ich Autor dieser Verlage bin, nicht beirren. Viele Jahre hat meine Bücher der Piper Verlag veröffentlicht. Gleichzeitig habe ich manche Bücher des Piper Verlages scharf abgelehnt. Andererseits erscheinen meine Bücher seit 1979 in der Deutschen Verlags-Anstalt, Stuttgart – und natürlich habe ich Titel auch dieses Verlages verrissen. Bei Suhrkamp, Insel und S. Fischer ist ebenfalls allerlei von mir veröffentlicht worden, vor allem Anthologien und Sammelbände. Die Verleger, mit denen ich zusammenarbeite, wissen, wie ich mich verhalte, und akzeptieren es. Nun sollten Sie aber nicht etwa meinen, dass ich mich hier meiner Unbestechlichkeit rühmen möchte. Wenn man den Beruf des Kritikers wirklich ernst nimmt, dann ist dies ganz und gar selbstverständlich. Überdies gibt es bei uns nicht wenige Kritiker, die keine Gefälligkeitsrezensionen schreiben. In meinem Fall ist dies nicht so schwierig, weil ich seit rund dreißig Jahren Gehaltsempfänger bin – zuerst vierzehn Jahre bei der Zeit und ab 1973 bei der FAZ – und nicht so kümmerlich entlohnt werde. Allerdings muss man noch berücksichtigen, dass ich seit 1973 sowohl Kritiker als auch Chef des größten Literaturteils in deutscher Sprache bin. So kreuzen sich in meiner Person sehr verschiedene Einflüsse.

    Damit ist das Spektrum möglicher Korruptionsfälle erschöpft?

    Nein, dieses Spektrum lässt sich nicht erschöpfen. Es gibt Verlage, die gern Bücher von Kritikern bringen oder von Germanisten, die Rezensionen veröffentlichen. Das sind in der Regel schwer verkäufliche Publikationen, doch die Zusammenarbeit mit ihren Autoren kann sich für den Verlag als nützlich erweisen. Kaum ist der Vertrag mit einem solchen Autor abgeschlossen, da wird er schon von dem Verleger auf irgendein neues Buch aus seinem Haus hingewiesen, das ihn, diesen Autor, gewiss interessieren werde. Dieser versteht natürlich den Wink und bemüht sich, in irgendeiner Zeitung oder Zeitschrift eine mehr oder weniger hymnische Kritik über die ihm zugeschickte Neuerscheinung unterzubringen. Denn ihm, dem aufstrebenden Germanisten oder Kritiker, ist sehr daran gelegen, dass der Verleger ihm gewogen bleibt, damit sein Band rasch und schön auf den Markt kommt. Solche und ähnliche Zusammenhänge gibt es nicht selten; ob hier das Wort Korruption am Platze ist, weiß ich nicht, ich möchte lieber sagen, dass sie sich der Korruption nähern.

    (Lacht.) Es gibt zu diesem Bereich eine Äußerung von Siegfried Unseld, den vielleicht doch bedenkenswerten Satz: »Ich möchte hier aus verständlichen Gründen nicht darüber sprechen, was die Autoren meines Hauses über meine Beziehungen zu Marcel Reich-Ranicki denken.« Verstehen Sie diesen Satz?

    Ja. Den kann ich Ihnen erklären. Natürlich gibt es Autoren, über deren Bücher ich mich ungünstig geäußert habe und die deswegen nichts von mir halten und denen meine Tätigkeit sogar schädlich scheint. Das ist verständlich, das war immer so in der Geschichte der Literatur, seit die Literaturkritik existiert. Ich habe auch viele Feinde, die nur deshalb gegen mich sind, weil ich sie nie besprochen habe und weil sie es als Beleidigung empfinden, dass ich ihre Bücher ignoriere. Hier ein Beispiel. Peter Weiss reagiert in seinen bei Suhrkamp erschienenen Notizbüchern 1971–1980 verwundert und verärgert auf

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