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Literaturdidaktik Deutsch als Fremd- und Zweitsprache: Eine Einführung für Studium und Unterricht
Literaturdidaktik Deutsch als Fremd- und Zweitsprache: Eine Einführung für Studium und Unterricht
Literaturdidaktik Deutsch als Fremd- und Zweitsprache: Eine Einführung für Studium und Unterricht
eBook599 Seiten9 Stunden

Literaturdidaktik Deutsch als Fremd- und Zweitsprache: Eine Einführung für Studium und Unterricht

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Über dieses E-Book

Die Einführung gibt einen Überblick über die Literaturdidaktik aus der Perspektive des Faches Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Sie kann für die universitäre und außeruniversitäre Aus- und Fortbildung sowie zum Selbststudium verwendet werden. Ziel ist es, unterschiedliche Ansätze für die Arbeit mit literarischen Texten auf den Sprachniveaus A1–C2 vorzustellen. Dabei stehen theoretische Grundlagen wie praktische Unterrichtsvorschläge gleichermaßen im Fokus.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum6. Sept. 2021
ISBN9783823302193
Literaturdidaktik Deutsch als Fremd- und Zweitsprache: Eine Einführung für Studium und Unterricht
Autor

Almut Hille

Almut Hille ist Juniorprofessorin für Deutsch als Fremdsprache/Kulturvermittlung an der FU Berlin.

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    Buchvorschau

    Literaturdidaktik Deutsch als Fremd- und Zweitsprache - Almut Hille

    Literaturdidaktik in Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Konzepte und Perspektiven

    „Insofern hat das Poetische den Charakter einer Baustelle. Nicht die geordnete Struktur einer Anstalt, sondern Material, Baugrund, Arbeitskraft in freier Bewegung."

    Alexander Kluge (2020: 44)

    In jüngeren Forschungsdebatten zum Fremdsprachenunterricht kommt der Literatur eine zunehmend wichtiger werdende Rolle zu. Nicht zuletzt im neuen Begleitband zum Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen (2020) wird sie als Bereich verstanden, den es in den komplexen Zusammenhängen fremdsprachlichen Lehrens und Lernens zu berücksichtigen gilt.

    In den aktuellen Forschungsdebatten von Deutsch als Fremd- und Zweitsprache sind es die literarischen Texte an sich und nicht ihre möglichen Funktionalisierungen für das sprachliche oder kulturelle Lernen, die als Ausgangspunkt dienen. Insofern möchten wir die literarischen Texte – in ihren weiten Fassungen über gedruckte, auditive und audiovisuelle Texte bis hin zu digitalen Texten – in das Zentrum dieses Bandes stellen. Ziel ist es – auf der Grundlage eines weiten Textbegriffs und kulturwissenschaftlich orientierter Forschungen, die Texte in ihrer Verwobenheit in Diskurse lesen, – die Texte in ihrer Spezifik und unterschiedlichen Medialität in das komplexe Bedingungsgefüge unterrichtlichen Geschehens zu integrieren.

    Es kristallisiert sich eine Reihe von Aspekten für die Lektüren literarischer Texte in unterrichtlichen Kontexten von Deutsch als Fremd- und Zweitsprache heraus:

    Im Fokus steht die Berücksichtigung von Einzeltexten bei dem gleichzeitigen Bemühen, wo immer möglich, mehrere Texte einzubeziehen, etwa indem man mit Textnetzen arbeitet.

    Texte werden verstanden als rezeptiv und produktiv auf gesellschaftliche Diskurse bezogen, und so wären Einblicke in Konstruktionsprozesse und -muster gesellschaftlicher Zusammenhänge und eine fremdsprachliche Diskursfähigkeit als übergreifende Zielsetzungen des Unterrichts zu verstehen.

    Es gilt, für (Be-)Deutungsbildungsprozesse und die dazugehörigen Strategien zu sensibilisieren, sprachliche Verfahren wahrzunehmen und in ihren möglichen Wirkungen zu betrachten. Ein solches Vorgehen berücksichtigt die Form literarischer Texte als (be-)deutungsgenerierenden Faktor und macht ihre Literarizität für Verstehensprozesse produktiv.

    Die skizzierten Forschungsdiskussionen sind bisher nur in Einzelpublikationen, vor allem in Form von Artikeln in Fachzeitschriften und Sammelbänden nachzuvollziehen. Daneben gibt es Beiträge in allgemeinen Einführungen für Deutsch als Fremdsprache und Deutsch als Zweitsprache wie die von Hans-Werner Huneke und Wolfgang Steinig (2013/1997), Heidi Rösch (2011) und Dietmar Rösler (2012) bzw. in Handbüchern und Fachlexika wie den Bänden des Internationalen Handbuchs für Deutsch als Fremdsprache (2001) und Deutsch als Fremd- und Zweitsprache (2010) und dem von Hans Barkowski und Hans-Jürgen Krumm herausgegebenen Fachlexikon Deutsch als Fremd- und Zweitsprache (2010). Als Handbucheinträge sind sie weniger an der Diskussion beteiligt als vielmehr auf die Präsentation von Diskussionspositionen und einzelnen Argumenten gerichtet. Die einzige umfangreichere Einführung zur Lektüre von literarischen Texten in Kontexten von Deutsch als Fremdsprache hat Jürgen Koppensteiner 2001 mit einem Fokus auf kreativen Verfahren vorgelegt; komplett überarbeitet und aktualisiert von Eveline Schwarz ist sie 2012 in einer erweiterten Version erschienen und bietet folglich keinen Einblick in die Diskussionen und das breite Spektrum an literaturdidaktischen Fragestellungen der jüngeren Zeit. Hinweise auf Optionen für das Lesen literarischer Texte in Deutsch als Fremd- und Zweitsprache finden sich natürlich auch in Lehrwerken und Zusatzmaterialien, die – je nach Ausrichtung an fachwissenschaftlichen Positionen – mehr oder weniger Raum in den Publikationen einnehmen.

    Es fehlt jedoch eine konsistente Darstellung literaturdidaktischer Konzeptualisierungen auf der Grundlage neuerer wissenschaftlicher Orientierungen. Diese möchten wir mit diesem Band zur Verfügung stellen und damit auch – durchaus mit einem Blick ‚zurück‘ in Entwicklungen des Faches seit den 1980er Jahren – verschiedene Vorschläge und Ansätze gebündelt präsentieren.

    Wir verstehen den Band als Handbuch und Studienbuch für die Aus- und Fortbildung von Studierenden und (zukünftigen) Lehrkräften des Fachs. Bieten möchten wir einen breiten Überblick über

    Entwicklungen im Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache,

    theoretische Ansätze sowie didaktische und methodische Vorgehensweisen,

    die Fachgeschichte und die gegenwärtige Forschungsdiskussion.

    Daneben werden zahlreiche für den Unterricht geeignete literarische Texte sowie Ideen für ihre Lektüren präsentiert und ausführliche Literaturhinweise gegeben. Textbeispiele sind durch einen grauen Balken am linken Seitenrand hervorgehoben, Unterrichtsideen in graue Kästen eingefasst.

    Mit dem Begriff „Literaturdidaktik" soll keine kanonorientierte Konnotation verbunden sein, die sich auf das Medium des gedruckten belletristischen Buches konzentriert. Wie auch im neuen Begleitband zum Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen (2020: 71f.) empfohlen, spielen neben Romanen – zeitgenössischen und klassischen – auch kurze illustrierte Geschichten, Fotostorys, Comics, Liedtexte und Gedichte, sowohl in analogen wie in digitalen Formaten, in unseren Überlegungen eine Rolle.

    Diskutiert werden verschiedene Zugänge zur Literaturdidaktik, die sich jedoch nicht gegenseitig ausschließen, sondern ergänzen:

    Man kann sich der Literaturdidaktik von ihrem Gegenstand her nähern und anhand von literarischen Texten, die im besten Fall begeistern, überlegen, welche Lehr-Lernprozesse sich mit ihnen initiieren lassen.

    Man kann Positionen der literaturwissenschaftlichen Diskussion zum Ausgangspunkt nehmen und von dort aus lohnende Texte auswählen und Optionen für Lehr-Lern-Arrangements entwickeln.

    Man kann sich von Unterrichtsbeispielen und -modellen inspirieren lassen zu vielfältigen Lektüreoptionen und Vorgehensweisen in unterrichtlichen Kontexten.

    Man kann didaktische und methodische Zugänge wählen und an Lehr- und Lernzielen orientiert Texte auswählen, Lektüreprozesse gestalten und auf der Basis von methodischen Prinzipien und Aufgabenformaten literarische Texte in verschiedenen unterrichtlichen Zusammenhängen lesen.

    Mit dem Band verbinden wir die folgenden Anliegen:

    Wir möchten eine Auseinandersetzung anregen mit grundlegenden Kategorien wie Literatur, Literaturwissenschaft, Literaturdidaktik, Lesedidaktik und Kanon: Teil I mit den Kapiteln 1 bis 4.

    Wir möchten einen Überblick geben über die Fachdiskussion zur Literaturdidaktik in Deutsch als Fremd- und Zweitsprache: Teil II und III mit den Kapiteln 5 bis 16.

    Wir möchten Vorschläge entwickeln zu didaktischen und methodischen Fragen der Unterrichtspraxis, zu Textauswahl, Unterrichtsorganisation, Methoden und Verfahren: Teil IV mit den Kapiteln 17 bis 21.

    Wir möchten Literaturhinweise zusammenstellen zu literarischen Texten und einschlägigen wissenschaftlichen Publikationen für die eigene vertiefte Auseinandersetzung.

    An diesen Anliegen haben wir uns bei dem Aufbau des Bandes orientiert, sie strukturieren gleichzeitig den Aufbau der einzelnen Kapitel. Den Einstieg in die Kapitel bilden Darstellungen zu jeweils einschlägigen Theorien und Ausführungen dazu, wie diese Theorien im Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache rezipiert und für die spezifischen Kontexte des Faches adaptiert wurden. Darüber hinaus geben wir Einschätzungen zu ihren Positionen im Fach, zitieren, paraphrasieren oder nennen sowohl affirmative, als auch kritische Stimmen. Es werden Hinweise auf einschlägige Fachliteratur für die weitere Lektüre gegeben; mitunter weisen wir auch in Fußnoten auf zusätzliche Aspekte und Publikationen hin. Im Anschluss werden – in jedem Kapitel mit einem grauen Kasten hevorgehoben bzw. in einen grauen Kasten eingefasst – Beispiele von literarischen Texten und Skizzen möglicher Lektüren gegeben.

    Digitalität zieht sich als Querschnittsthema durch die verschiedenen Kapitel des Bandes. Sie ist für veränderte Textformate und sich verändernde Vorstellungen von Medien, von Wissen und Wissensgenerierung wie -speicherung sowie für Lehr- und Lernprozesse in der Gegenwart konstitutiv und wird es in den nächsten Jahren verstärkt sein. Ausführungen zur Digitalität finden sich nicht in einem eigenen Kapitel und auch nicht nur im Kapitel 11 zur Medialität, sondern z. B. mit Blick auf die Vorstellungen von Literatur als solcher (Kap. 1) und auf einen literarischen ‚Kanon‘ (Kap. 3), mit Blick auf die Lesedidaktik (Kap. 4), auf Aspekte von Diskursivität (Kap. 10), auf Unterrichtsgegenstände (Kap. 17), Unterrichtsmethoden (Kap. 19) und Unterrichtsverfahren (Kap. 18, 20, 21).

    Konzepte wie Diskursivität (Kap. 10), Medialität und Digitalität (Kap. 11), aber auch Literarizität (Kap. 9) und Performativität (Kap. 12) sind im Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache in den letzten Jahren zu neuen Leitbegriffen wissenschaftlicher Diskussionen und didaktisch-methodischer Entwicklungen geworden. Sie haben Eingang in erste Unterrichtskonzepte, -modelle und -materialien gefunden. Es gibt aber auch weitere Konzepte und Perspektiven wie Mehrsprachigkeit (Kap. 13), Wissen (Kap. 14), Postkolonialität (Kap. 15) und Gender (Kap. 16), deren Diskussion im Fach erst am Anfang steht. In aller Vorläufigkeit werden sie im vorliegenden Band in einzelnen Kapiteln präsentiert, ergänzt um erste Unterrichtsideen und -materialien.

    Wir verstehen die Einführung als einen Zugang zu einem breit gefächerten thematischen Spektrum, die auch darauf ausgerichtet ist, Hinweise zu geben, wie man an verschiedenen Inhalten weiterarbeiten kann.

    Insofern haben wir uns entschieden, einen ‚mehrdimensionalen‘ Text zu schreiben, wie er in der Wissenschaft üblich ist, in Einführungen jedoch eher nicht. Er bietet Darstellungen, Kommentare, Originalzitate und Hinweise auf die Fachdiskussion mit bibliografischen Angaben im Fließtext und weiterführenden Informationen in den Fußnoten. So können wir Hinweise geben, woher Argumentationen kommen und wo man Ausführlicheres lesen kann, wenn man über die kurzen Darstellungen hinaus an einem Thema arbeiten möchte. Wir verfolgen mit der Entscheidung für einen ‚mehrdimensionalen‘ Text auch das Anliegen, gerade Studierende von Anfang an mit einer Art von Text vertraut zu machen, die sie in ihrem Studium kennenlernen, verstehen lernen und selbst schreiben lernen sollen. Gleichzeitig ist der Band so gestaltet, dass er auch produktiv zu verwenden ist, wenn man an den wissenschaftlichen Diskussionen weniger interessiert ist und vorrangig Vorschläge zu möglichen Texten und Unterrichtsszenarien sucht.

    Theoretische Grundlagen und Konzepte, unterrichtspraktische Vorschläge und literarische Texte sollen Inspirationen geben für die eigenen Arbeitszusammenhänge, seien es Forschungsaktivitäten, akademische Lehre oder Literatur- und Sprachunterricht in Deutsch als Fremd- und Zweitsprache.

    Sicher noch zu klären ist die Verwendung der Bezeichnung Deutsch als Fremd- und Zweitsprache im Band. Die Diskussion zu Literatur im Unterricht beginnt Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre in Deutsch als Fremdsprache und ist seit Begründung des Hochschulfaches einer seiner wichtigen Bestandteile mit entsprechenden Publikationen und Lehrangeboten. Wenn wir – besonders in Teil II des Bandes – Konzepte und Publikationen vorstellen, die in diesem Kontext verortet sind, sprechen wir von Deutsch als Fremdsprache. Möchte man aktuell auf diese Konzepte und Vorschläge zurückgreifen, heißt das nicht, dass sie ausschließlich für Deutsch als Fremdsprache geeignet sind. Es ist nur der wissenschaftlichen Präzision geschuldet, frühere Konzepte hier nicht ungenau darzustellen.

    Im überwiegend schulischen Kontext von Deutsch als Zweitsprache standen seit den 1990er Jahren vor allem Texte der sogenannten ‚Migrationsliteratur‘ und deren Potenzial für Lehr- und Lernprozesse im Fokus. Die in diesem Forschungs- und Lehrzusammenhang entstandenen Publikationen wurden zunehmend auch in Deutsch als Fremdsprache rezipiert und so lässt sich in der Publikations- und Rezeptionsgeschichte auch der Weg zur inzwischen unstrittigen Fachkonzeption und Fachbezeichnung Deutsch als Fremd- und Zweitsprache nachvollziehen.

    Wenn es also um Publikationen geht, die sich explizit in einem der beiden Bereiche Deutsch als Fremdsprache oder Deutsch als Zweitsprache verorten, benutzen wir die jeweilige Bezeichnung Deutsch als Fremdsprache oder Deutsch als Zweitsprache. Wenn wir ansonsten über Konzepte sprechen, nutzen wir immer die inzwischen etablierte Fachbezeichnung Deutsch als Fremd- und Zweitsprache.

    Spezifisch für Konzepte und Perspektiven im Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache ist, dass sehr unterschiedliche unterrichtliche Kontexte aufgerufen werden. Der Fokus kann auf dem Literaturunterricht bzw. literaturwissenschaftlichen Seminaren in Studiengängen der internationalen Germanistiken liegen ebenso wie auf dem Lesen von literarischen Texten im Sprachunterricht. Auch im Hinblick auf die institutionellen Kontexte wäre eine große Bandbreite im Blick zu behalten – von vorschulischen Zusammenhängen über Schulen und Universitäten bis hin zur außeruniversitären Erwachsenenbildung in Goethe-Instituten, Sprachschulen und Integrationskursen. Außerdem kann die Zusammensetzung der Lerngruppen sehr unterschiedlich sein. Es können homogene oder heterogene Gruppen von Lernenden sein im Hinblick auf deren L1, auf das Sprachniveau der Einzelnen, deren potenzielle Mehrsprachigkeit sowie deren schulische und ggf. auch universitäre (Lern-)Sozialisation.

    Wir danken dem Verlag Narr Francke Attempto für die Initiative zu diesem Band.

    Wir danken den vielen Kolleg*innen, mit denen wir seit vielen Jahren über Literatur im Unterricht diskutieren, und die den Bereich der Literaturdidaktik in Deutsch als Fremd- und Zweitsprache mit ihrer Kenntnis theoretischer Positionen und ihrer Kreativität in der Entwicklung von Lektürevorschlägen und Lehr- und Lernarrangements zu einem – wie wir meinen – überaus faszinierenden und vielfältigen Lehr- und Forschungsbereich entwickelt haben. Wir haben versucht, möglichst viele von ihnen in diesem Band wenigstens zu erwähnen. Vollständigkeit gelingt leider nur selten.

    Wichtig ist uns, dass der vorgestellte Lehr- und Forschungsbereich in der Dimension seiner wissenschaftlichen Diskussion wahrgenommen wird, die die eristische Verfasstheit von Wissenschaft, deren diskursive Struktur, Dynamik und Prozesshaftigkeit berücksichtigt. Deshalb kommen verschiedene Positionen zu Wort, ergänzen einander, zustimmend, modifizierend oder durchaus auch kritisch widersprechend.

    Wir hoffen, dass wir Wege durch ein weites Terrain vorschlagen können, die es ermöglichen, Konzepte und Perspektiven näher kennenzulernen und für den Unterricht eine begründete Wahl von Texten und Vorgehensweisen zu treffen. Wir möchten zur Arbeit mit literarischen Texten inspirieren, nicht nur in der unterrichtlichen Praxis, sondern auch in Lehre und Forschung.

    Wir hoffen, dass damit die Literaturdidaktik in Deutsch als Fremd- und Zweitsprache als facettenreiches und produktives Feld sichtbar wird – wie wir es in unserer eigenen Arbeit mit Studierenden unserer Bachelor-, Master- und Lehramtsstudiengänge in Deutsch als Fremd- und Zweitsprache, im Rahmen von Fortbildungen, Vorträgen und Gastdozenturen in verschiedenen Ländern mit Lernenden, Studierenden, Lehrenden und Forschenden seit vielen Jahren erleben.

    Berlin und Jena, im August 2021 Almut Hille und Simone Schiedermair

    I Theoretische Perspektiven

    1 Was ist Literatur?

    „Die geschriebene Literatur hat, historisch gesehen, nur wenige Jahrhunderte lang eine dominierende Rolle gespielt. Die Vorherrschaft des Buches wirkt heute bereits wie eine Episode. Ein unvergleichlich längerer Zeitraum ging ihr voraus, in dem die Literatur mündlich war; nunmehr wird sie vom Zeitalter der elektronischen Medien abgelöst, die ihrer Tendenz nach wiederum einen jeden zum Sprechen bringen."

    Hans Magnus Enzensberger (1970: 125)

    Angesichts dieser Einschätzung von geschriebener Literatur als einer „Episode" der literarischen Kommunikation wäre eingangs zu fragen: Was ist eigentlich Literatur?

    Abgeleitet wird der Begriff „Literatur von den lateinischen Termini „littera (Buchstabe) bzw. „litteratura (Buchstabenschrift). Er umfasst zunächst alles, was in geschriebener oder gedruckter Form vorliegt. Man kann dafür auch den Begriff „Text verwenden. Texte – auch literarische Texte – können aber nicht nur in geschriebener oder gedruckter, sondern auch in bildlicher oder in mündlicher Form vorliegen bzw. vorgetragen werden. Mit der Digitalisierung haben sich zudem neue Möglichkeiten der Speicherung von geschriebenen, bildlichen wie auch mündlich präsentierten Texten entwickelt.

    Im Unterschied zu dieser sehr allgemeinen Bestimmung von „Literatur assoziiert man mit dem alltagssprachlichen Begriff der Literatur in der Regel eine Subkategorie von Texten, die sogenannte „schöne Literatur oder „Belletristik". Wie Ralf Klausnitzer in seinem Studienbuch Literaturwissenschaft (2012) darlegt, wird sie besonders in ihrer Differenz zu anderen Texten, etwa Sach- und Informationstexten, fassbar:

    Literarische Texte

    wollen nicht (primär) informieren, sondern „unterhalten und faszinieren, indem sie „intensiv und dauerhaft die „Einbildungskraft ihrer Leser*innen „mobilisieren.

    vermitteln keine „kodifizierten oder formalisierbaren Erkenntnisse", sondern Einsichten in individuelle oder kollektive Problemlagen und -verarbeitungen.

    „geben keine Handlungsanweisungen für reale Situationen", sondern ermöglichen ihren Leser*innen ein „symbolisches Probehandeln in imaginierten Welten"; gleichzeitig gibt es auch literarische Texte, die keine fiktiven Welten imaginieren, sondern Darstellungen von ‚Wirklichkeit‘ erproben wie etwa Autobiografien, Memoiren, Reiseberichte und Reportagen.

    befreien durch eine irritierende Sprache die Wahrnehmung ihrer Leser*innen von Automatismen" (vgl. Klausnitzer 2012: 15, Hervorh. i.O.).

    In dieser Differenzierung sind Dimensionen eines möglichen Begriffs von Literatur angedeutet, die für die Literaturdidaktik fruchtbar zu machen sind. Sie beziehen sich – bei aller Schwierigkeit, diese tatsächlich klar zu bestimmen – erstens auf Charakteristika und zweitens auf Funktionen als mögliche Kriterien der Bestimmung eines Begriffs von Literatur. Einer möglichen Bestimmung dieses Begriffs kann man sich drittens auch von der Kommunikationssituation und viertens von dem umfassenderen Begriff des Erzählens aus nähern.

    Zunächst zu den möglichen Charakteristika von Literatur: Poetizität und Verfremdung, Mehrdeutigkeiten und Unbestimmtheiten, Fiktionalität sowie Diskursivität. Frühe Bestimmungen der Poetizität stammen von Viktor Šklovskij und Roman Jakobson, die ihre Überlegungen im Kontext des russischen Formalismus bzw. des Prager Strukturalismus entwickelt haben. In ihren grundlegenden Aufsätzen Die Kunst als Verfahren (Šklovskij1994/1969/russ.1916) und Linguistik und Poetik (Jakobson 2005/1971/engl. 1960) untersuchen sie die Darstellungsstrategien literarischer Texte. Die fachwissenschaftliche Diskussion zur Rolle von literarischen Texten in Deutsch als Fremd- und Zweitsprache hat von Anfang an auf diese beiden Konzepte Bezug genommen¹ und lässt sich bis heute von ihnen inspirieren.²

    Die besondere sprachliche Gestaltung von literarischen Texten wäre nach Roman Jakobson mit dem Begriff der „Poetizität" zu fassen und steht in engem Zusammenhang mit der poetischen Funktion von Sprache.³ Diese realisiert sich in der besonderen und dadurch auffallenden Verwendung von sprachlichen Zeichen, durch die eine Differenz zur Alltagssprache mit ihren Gewohnheiten und Automatismen des Lesens, Hörens, Schreibens, Sprechens und Sehens entsteht.

    Ein wichtiges Prinzip der Realisierung der poetischen Funktion von Sprache ist die Abweichung von sprachlichen Regeln oder Normen. So werden z. B. ungewöhnliche, überraschende Klang- oder Wortfiguren und Tropen in (literarischen) Texten verwendet: Alliterationen, Metaphern oder ironische Rede (→ Kap. 9). Durch ein sprachliches Experimentieren bei der Produktion von Texten können grammatische Regeln verletzt werden oder auch typografische Regeln beim Druck von Texten; man denke etwa an die Visuelle oder Konkrete Poesie. Mit diesen Strategien wird die Aufmerksamkeit der Lesenden auf die konkrete sprachliche Verfasstheit der Texte gelenkt; das Wie, d.h. die Form der Texte und deren Beitrag zur Bedeutungsbildung gerät so in den Fokus. Jakobson spricht davon, dass die poetische Funktion die „Einstellung auf die BOTSCHAFT als solche (Jakobson 2005: 92, Hervorh. i.O.) bewirkt. So stellen etwa Äquivalenzen auf der Klangebene wie Reime und Alliterationen sowie Wiederholungen Strategien dar, um Aufmerksamkeit zu erreichen (vgl. ebd.: 93). Aber auch die „grammatische Architektonik (Jakobson 2007: 691), die Häufigkeit und Verteilung von Satzarten und Wortarten sowie lexikalische und syntaktische Auffälligkeiten können solche Strategien sein, wie Jakobson an dem Gedicht Wir sind sie (1931) von Bertolt Brecht zeigt. So analysiert er beispielsweise, wie über die Verwendung einer „Kette identischer Diphthonge (Jakobson 2007: 707) verschiedene Ausdrücke in dem Gedicht „verbunden sind – „ei" etwa in „Partei", „in einem", „geheim" (ebd., Hervorh. i.O.) u.a. – und so über klangliche Wiederholung eine semantische Netzstruktur geschaffen wird, mit der Entfremdung und Verbindung des Einzelnen zur Partei kommentiert werden.

    Mit der poetischen Funktion meint Jakobson die Möglichkeiten der Sprache, auf sich selbst hinzuweisen, bzw. die Möglichkeiten von Texten – und insbesondere literarischen Texten –, ihre eigene sprachliche Verfasstheit auszustellen. Sie fasst den Selbstbezug der Sprache, eine Dominanz der Form über den Inhalt. Mit der poetischen Gestaltung von Sprache wird die Aufmerksamkeit auf die Form, auf die Beschaffenheit der Sprache selbst gelenkt – „und zwar so weit, dass der ‚Inhalt‘ der Mitteilung selbst in den Hintergrund gedrängt wird und wir der Sprache bei der Arbeit der Erzeugung von ‚Wirklichkeit‘ (die ja stets sprachlich vermittelt ist) förmlich zusehen können" (Klausnitzer 2012: 45f.). Der Selbstbezug der poetischen Sprache stellt eine Differenz zur situations- und zweckgebundenen, zielgerichteten Sprache von Informations- und Sachtexten (z. B. Berichte, Gebrauchsanweisungen u. ä.) her.

    Alltagssprache, aber auch eine bereits etablierte literarische Formensprache können auf diese Weise verfremdet werden. Durch die Verfremdung werden die Leser*innen irritiert und ihre Aufmerksamkeit auf gewohnte Wahrnehmungsmuster sowie deren Veränderungen gelenkt. Mit Viktor Šklovskij wäre auch von einer Deautomatisierung der Wahrnehmung zu sprechen. Die Begriffe „Verfremdung und „Deautomatisierung entwickelt Šklovskij in seinem bereits oben genannten Aufsatz Die Kunst als Verfahren. Er argumentiert, dass Automatisierung Wahrnehmung verhindere: „Automatisierung frißt die Dinge, das können „die Kleidung, die Möbel sein, aber auch der „Schrecken des Krieges (Šklovskij 1994: 15). Aufgabe der Kunst sei es, dies zu verhindern und durch Verfremdung die Dinge wieder sichtbar zu machen – „den Stein steinern zu machen (Šklovskij 1994: 15). Sowohl das Wahrnehmbare als auch der Akt des Wahrnehmens sollen in den Fokus gerückt werden:

    Ziel der Kunst ist es, ein Empfinden des Gegenstandes zu vermitteln, als Sehen und nicht als Wiedererkennen; das Verfahren der Kunst ist das Verfahren der ‚Verfremdung‘ der Dinge und das Verfahren der erschwerten Form, ein Verfahren, das die Schwierigkeit und Länge der Wahrnehmung steigert, denn der Wahrnehmungsprozeß ist in der Kunst Selbstzweck und muß verlängert werden; die Kunst ist ein Mittel, das Machen einer Sache zu erleben […]. (Šklovskij 1994: 15)

    Zu betonen wäre, dass Elemente einer Poetizität (wie es bei Jakobson heißt) oder Literarizität (wie es in der gegenwärtigen fachwissenschaftlichen Diskussion heißt) von Sprache grundsätzlich in allen Texten und allen Formen der Rede auftreten können. Von geradezu konstitutiver Bedeutung sind sie aber für die meisten literarischen Texte.

    Die Aufmerksamkeit für die Form bzw. für die Beschaffenheit von Sprache rückt auch die komplexen Wechselbeziehungen zwischen Zeichen und Bedeutungen in den Blick. In der Terminologie von Ferdinand de Saussure (1967: 76ff., 135–143) ist die materiale Gestalt eines Zeichens als Signifikant zu bezeichnen, dessen Wahrnehmung ein komplexer Prozess ist: Leser*innen (Betrachter*innen oder Hörer*innen)⁴ identifizieren ein Zeichen – einen Buchstaben, eine Buchstabenfolge, ein grafisches Symbol oder einen Wortklang – und ordnen ihm (mögliche) Bedeutungen zu. Diese Bedeutungen bilden den ideellen Gehalt eines Zeichens, der als Signifikat bezeichnet wird. Prozesse der Zuordnung von Signifikat(en) zu Signifikant(en) erfolgen mental, d.h. im Bewusstsein der Leser*innen und beruhen auf Zuordnungsregeln, die gesellschaftlichen oder kulturellen Konventionen, auch den Konventionen gesellschaftlicher Subsysteme wie verschiedenen Wissenskulturen oder Gruppierungen z. B. von Jugendlichen entsprechen können. Die vielfältigen möglichen Bedeutungen von Signifikanten sind als Konnotationen zu bezeichnen. Das Spiel mit möglichen Konnotationen erzeugt in (literarischen) Texten Unbestimmtheiten und Mehrdeutigkeiten (vgl. Klausnitzer 2012: 20f., 46f.), während Sach- und Informationstexte gerade Eindeutigkeit herzustellen suchen. Mehrdeutigkeiten und Unbestimmtheiten gelten neben Verfremdung und Poetizität als weitere mögliche Charakteristika von literarischen Texten. In der fachwissenschaftlichen Diskussion in Deutsch als Fremd- und Zweitsprache werden Unbestimmtheiten und Mehrdeutigkeiten auch auf der Ebene der Semantik einzelner sprachlicher Ausdrücke berücksichtigt, wie soeben mit Rückgriff auf die Saussure’sche Unterscheidung von Signifikant und Signifikat dargestellt. Darüber hinaus werden sie auf der Basis rezeptions- und wirkungsästhetischer Theoriebildung (→ Kap. 8, 20) verstanden. Diese geht von der Grundannahme aus, dass das literarische Werk im jeweils individuellen Lektüreprozess als Zusammenspiel zwischen dem Text und seinen Lesenden entsteht. Dabei ist die Beobachtung von zentraler Bedeutung, dass literarische Texte – im Gegensatz zu nicht-literarischen Texten – Unbestimmtheitsstellen aufweisen. Je nach „Füllung oder „Normalisierung dieser Unbestimmtheitsstellen oder Leerstellen kommt es zu unterschiedlichen Lesarten. So sind „Leerstellen eines literarischen Textes nicht als „Manko zu verstehen, denn sie „bilden einen elementaren Ansatzpunkt für seine Wirkung" (Iser 1974/1970: 15). Damit sind die Unbestimmtheitsstellen Beteiligungsangebote für die Lesenden und zugleich Angebote für individuelle Lesarten. Diese Bestimmung wurde und wird in der Literaturdidaktik als Grundlage für verschiedene Konzepte genutzt, etwa für das Konzept eines handlungs- und produktionsorientierten Unterrichts, das allerdings in den letzten Jahren zunehmend in die Kritik geraten ist (→ Kap. 20).

    Ein weiteres mögliches Charakteristikum von Literatur ist das der Fiktionalität. In der Alltagsauffassung gelten fiktionale Texte „als solche Texte, die Erfundenes darstellen oder erzählen" (Jannidis/Lauer/Winko 2009: 19); als eine Variante gilt die Autofiktion, die Autobiografisches und fiktionale Handlungsebenen verbindet und insbesondere in Texten der Gegenwartsliteratur eine wichtige Rolle spielt. In der Literaturwissenschaft wird der fiktionale Status literarischer Texte umfassend und heterogen diskutiert. Im Fokus der Debatten stehen die Fragen nach dem ‚Wesen‘ oder Status von Fiktionalität, nach Fiktionalitätssignalen in Texten sowie nach dem Verhältnis von Fiktionalität und Realität und/oder Wahrheit (vgl. Jannidis/Lauer/Winko 2009: 17).

    Weiterhin wird Diskursivität (→ Kap. 10) als ein mögliches Charakteristikum von Literatur verstanden. In aktuellen Diskussionen in der Literaturwissenschaft und im Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache wird das Verhältnis von literarischen Texten zu gesellschaftlichen Zusammenhängen und kulturellen Mustern im Modus der Diskursivität gedacht. Damit verbindet sich die Vorstellung, dass Literatur Diskurse nicht nur aufnimmt, sondern an ihnen partizipiert, sie mitgestaltet. Literatur ist gekennzeichnet durch „diskursive Mehrfachzugehörigkeiten" (Hille 2017: 17), nimmt an verschiedenen Diskursen teil, in flexibler und dynamischer, rezeptiver und produktiver Bezogenheit auf diese. Sie nimmt in komplexer Weise Bezug auf vielfältige Diskurszusammenhänge. Aus dieser spezifischen Relation ergibt sich ein kritisches Potenzial für literarische Texte als Orte der Aushandlung und Reflexion von gesellschaftlichen Diskursen.

    Als weitere Gruppe von Kriterien zur Bestimmung eines Begriffs von Literatur gelten deren mögliche Funktionen im Kontext literarischer Kommunikation: die Beobachtungsfunktion, Orientierungsfunktion, Simulationsfunktion, Utopiefunktion, Speicherfunktion, Bildungsfunktion und Unterhaltungsfunktion. Funktionen werden hier mit Jannidis/Lauer/Winko (2009: 22) als Relationen zwischen „Gegenständen (mit potenziellen Eigenschaften), ihren Wirkungen (im Falle einer Realisierung dieser Eigenschaften) und einer Bezugsgröße (Individuum, Kollektiv, u.a.)" aufgefasst. Funktionen sind als Potenziale vorstellbar, in jeweils unterschiedlichen Bedingungszusammenhängen mögliche Wirkungen hervorzubringen (vgl. ebd.).

    Als literaturdidaktisch bedeutsam wären die folgenden möglichen Funktionen literarischer Texte zu betrachten:

    Beobachtungsfunktion

    Sasha Marianna Salzmann verweist darauf, dass in der Literatur, in der Kunst allgemein „sehr wichtige Beobachtungen gemacht werden für eine Welt, die nach uns kommt".⁵ Literarische Texte, die seit jeher als „ausgezeichnete Form der Selbstbeobachtung von Gesellschaften (Böhme 1998: 482) gelten, speichern Beobachtungen von gesellschaftlicher Komplexität sowie von kollektiven und individuellen Problemlagen und -verarbeitungen. Dabei eröffnen sie auch „abweichende Beobachtungen vertrauter und eingespielter Sachverhalte, erzeugen auf diese Weise „Dissidenz" (Hörisch/Klinkert 2006: 10).

    Orientierungsfunktion

    Durch die poetische Gestaltung können literarische Texte das (gesellschaftlich) Beobachtete in fassbare Symbole, Bilder und Narrationen überführen und es in diesen verdichten. Gerade in unseren heutigen Gesellschaften scheint das Verdeutlichen bzw. das kommentierende und differenzierende Reflektieren von Komplexität, Pluralität und Mehrdeutigkeit zunehmend eine Funktion von Literatur, von Kunst überhaupt zu sein. Sie kann Orientierung bieten und das gerade nicht, indem sie – wie einige Formen der Alltags- und Mediensprache – einfache, die Komplexität der Welt reduzierende ‚Wahrheiten‘ zu propagieren versucht.

    Simulationsfunktion

    Gerade in der Abweichung und Dissidenz ermöglichen literarische Texte ihren Leser*innen Simulationen anderer möglicher Welten und des Handelns in ihnen. Bei der Lektüre literarischer Texte sind Leser*innen von den pragmatischen Regeln der Wirklichkeit und den Grenzen ihrer eigenen Existenz befreit. Sie können das Mögliche über das Reale hinaus denken und es von literarischen Figuren erproben lassen. Man spricht auch von einem für die Leser*innen möglichen „symbolische[n] Probehandeln in imaginierten Welten" (Klausnitzer 2012: 15, Hervorh. i.O.).

    Utopiefunktion

    Zukünftige andere Welten können literarische Texte als Utopien (und natürlich auch Dystopien) inszenieren. Sie können Zukunftsnarrative und -bilder entwerfen, die neben der Zukunft auch die Gegenwart und die Vergangenheit erfahrbar, verständlich und gestaltbar oder auch verstörend und zerstörerisch erscheinen lassen.

    Speicherfunktion

    Literarische Texte entstehen in gesellschaftlichen Zusammenhängen und beziehen sich in je spezifischen Bedingungsgefügen auf das kollektive Wissen ihrer Zeit, das individuelle Wissen der Autor*innen und der Leser*innen. Sie speichern gesellschaftliche Positionen, verdichten sie und spitzen sie zu. Dieses Wissen findet sich – wenn auch nicht in Form von Abbildung, sondern von „Verhandlungen (Heitmann 1999: 10) bzw. „negotiations (Greenblatt 1988) – in Texten. Im literaturdidaktischen Kontext ermöglicht es die Perspektive der Speicherfunktion, „sozusagen das Mikroskop auf das aus Diskursfäden gesponnene dichte Gewebe der Kultur bzw. Geschichte zu richten und einzelne Fäden daraus zu verfolgen, um jeweils ein Stück Komplexität, Unordnung, Polyphonie, Alogik und Vitalität der Geschichte zu rekonstruieren (Baßler 1995: 15). Jochen Hörisch (2007: 13f.) vertraut darauf, „daß sich das im Medium der schönen Literatur angesiedelte Wissen mit argumentativem Gewinn rekonstruieren lässt. Astrid Erll (2011: 2) verweist im Kontext einer kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung u.a. auf literarische Texte als Orte „kultureller Erinnerung". Auch in dieser Hinsicht ist ihre Speicher- bzw. Archivierungsfunktion von Relevanz.

    Bildungsfunktion

    Literarische Texte beobachten – das ist bereits ausgeführt worden – gesellschaftliche Komplexität sowie kollektive und individuelle Problemlagen, sie speichern und verdichten gesellschaftliche und individuelle Positionen, sie inszenieren Werte und Normen von Gesellschaften bzw. Gruppen und deren Wirkungen auf Individuen. Die Lektüren literarischer Texte initiieren „Prozesse des Verstehens von Selbst und Welt, sie gelten als „Sinn-/Bildungsprozesse (Decke-Cornill/Gebhard 2007: 10). In den „bildende[n] Begegnungen mit der Welt" (ebd.: 11) können Lesende Impulse für die eigene Persönlichkeits- und Identitäts- bzw. Zugehörigkeitsentwicklung finden.

    Unterhaltungsfunktion

    Nicht zu vergessen: Literarische Texte wollen nicht (primär) orientieren oder bilden, sondern unterhalten und unsere Einbildungskraft mobilisieren. Gerade deshalb werden sie – egal in welcher medialen Form – von vielen gelesen, gesehen oder gehört. Literarische Texte können dabei emotionale Wirkungen, spontane Reaktionen, (ästhetische) Urteile und weite Imaginationen der Leser*innen hervorrufen.

    Zu betonen wäre hier aber noch einmal, dass Literatur wie auch Kunst an sich keine Funktion(en) hat. Das Konzept der Autonomie der Literatur bzw. Kunst, ihrer Selbstbedeutsamkeit und Selbstwirksamkeit, spricht gegen diese Annahme. Mögliche Funktionen gewinnen Literatur und Kunst erst in der literarischen bzw. ästhetischen Kommunikation.

    Rückt man die Pragmatik bzw. Kommunikationssituation in den Fokus, wird eine weitere Annäherung an eine Bestimmung des Begriffs „Literatur" möglich. So wird auch das Verhältnis von Text und Kontext bedeutsam. Jannidis/Lauer/Winko verweisen in ihrem Band Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen (2009) darauf, dass gerade in der Diskussion um moderne Kunst der Kontext hohe Relevanz erlangt, „wenn etwa beim ready-made Alltagsobjekte in einen Kontext gestellt werden, der diese – ohne Veränderung an den Gegenständen selbst – zu Kunstobjekten macht (ebd.: 30, Herv. i. O.). Hier wird deutlich, dass der Begriff der Kunst bzw. der Literatur nicht aus den materialen Eigenschaften von Objekten abgeleitet werden kann. Texte können nur in Kontexten ‚verstanden‘ werden, wobei der Text einerseits als Zeichenkörper, andererseits als das Verstandene – „das mentale Gebilde, das das Ergebnis eines komplexen Verstehensvorgangs ist – gefasst wird:

    Der Vorgang des Verstehens ist nicht nur von material vorgegebenen Zeichen und etwaigen generellen Codes abhängig […], sondern ebenso vom […] Kontext, zu dem allgemein Weltwissen und […] Wissen über die Textsorte, das Vorwissen über die spezifischen Gebrauchsregeln in diesem Zeichensystem, denen alle an der Kommunikation Beteiligten unterliegen, und allgemeinere Annahmen über die Funktion eines Textes in dem jeweiligen Kontext gehören. (Jannidis/Lauer/Winko 2009: 30)

    Textbeispiel

    Ein oft zitiertes Beispiel ist das 1969 in dem Band Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt erschienene Gedicht von Peter Handke:

    Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg

    vom 27.1.1968

    WABRA

    LEUPOLD POPP

    LUDWIG MÜLLER WENAUER BLANKENBURG

    STAREK STREHL BRUNGS HEINZ MÜLLER VOLKERT

    Spielbeginn:

    15 Uhr

    Handke arbeitet hier mit einem ready-made. Er übernimmt die Namen der Fußballspieler in der Form, wie sie in Sportzeitschriften abgedruckt werden, in seinen Band, kontextualisiert sie damit neu und weist in dieser Weise darauf hin, dass Texte auch durch Kommunikationszusammenhänge, in denen sie erscheinen, zu literarischen Texten werden.⁶ Ähnlich funktionieren die Kassenbongedichte von Susann Körner (→ Kap. 6), bei denen ebenfalls die alltagspragmatische Form unverändert in einen Band mit literarischen Texten – hier in einen Gedichtband – aufgenommen wird.

    Einer möglichen Bestimmung des Literaturbegriffs kann man sich auch von dem umfassenderen Begriff des Erzählens her nähern. Die Narratologie, die sich mit dem (literarischen) Erzählen beschäftigt, hat in der literaturwissenschaftlichen Diskussion der letzten Jahre sehr an Bedeutung gewonnen. Albrecht Koschorke spricht in seinem Band Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie (2012) vom Menschen als „homo narrans" und damit vom Erzählen als anthropologischer Grundausstattung (ebd.: 10, Hervorh. i.O.). Was er damit meint, verdeutlicht er mit einem Zitat aus Roland Barthes’ Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen (1988/frz. 1966):

    Die Menge der Erzählungen ist unüberschaubar. Da ist zunächst eine erstaunliche Vielfalt von Gattungen, die wieder auf verschiedene Substanzen verteilt sind, als ob dem Menschen jedes Material geeignet erschiene, ihm seine Erzählungen anzuvertrauen: Träger der Erzählung kann die gegliederte, mündliche oder geschriebene Sprache sein, das stehende oder bewegte Bild, die Geste oder das geordnete Zusammenspiel all dieser Substanzen; man findet sie im Mythos, in der Legende, der Fabel, dem Märchen, der Novelle, dem Epos, der Geschichte, der Tragödie, dem Drama, der Komödie, der Pantomime, dem gemalten Bild (man denke an die Heilige Ursula von Carpaccio), der Glasmalerei, dem Film, den Comics, im Lokalteil der Zeitungen und im Gespräch. Außerdem findet man die Erzählung in diesen nahezu unendlichen Formen zu allen Zeiten, an allen Orten und in allen Gesellschaften; die Erzählung beginnt mit der Geschichte der Menschheit; nirgends gibt und gab es jemals ein Volk ohne Erzählung; alle Klassen, alle menschlichen Gruppen besitzen ihre Erzählungen, und häufig werden diese Erzählungen von Menschen unterschiedlicher, ja sogar entgegengesetzter Kultur gemeinsam geschätzt: Die Erzählung schert sich nicht um gute oder schlechte Literatur: sie ist international, transhistorisch, transkulturell, und damit einfach da, so wie das Leben. (Barthes 1988: 102, Hervorh. i.O.)

    Hier wird die anthropologische Bedeutung des Erzählens deutlich: Es dient als Medium individueller wie kollektiver Selbstverständigungsprozesse. Vorstellungen von individuellem Leben und sozialem Zusammenleben, Problemlagen und Problembehandlungen, Denkmodelle und Konzeptualisierungen von Welt finden im Erzählen ihre sprachliche Form, werden damit zugänglich und verhandelbar. Auf dieser erzähltheoretischen bzw. narratologischen Basis kann man den literarischen Text als prominentes Medium des Erzählens verstehen. Literarische Texte erhalten einen spezifischen Stellenwert und sind nicht eine Textart unter vielen.

    Für das Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache ermöglicht die Arbeit mit literarischen Texten aus der Perspektive des Erzählens eine Auseinandersetzung mit individuellen wie kollektiven Reflexionsprozessen (vgl. Schiedermair 2014b, Riedner 2017). Wie sich in dem obigen Zitat schon andeutet, wird dabei ein weiter Textbegriff zugrunde gelegt, der z. B. auch Hörspiele, Filme, Video- und Werbeclips umfasst (→ Kap. 11). Der so entwickelte Begriff von Literatur ermöglicht es, eine große Vielfalt an medialen Formaten zu berücksichtigen.

    In der Gegenwart sind es weitere, neue Textformate, die unsere Vorstellungen von Literatur herausfordern. Diese besteht schon lange nicht (mehr) nur aus gedruckten und gebundenen Werken einzelner Autor*innen, die von einzelnen Leser*innen still rezipiert werden.

    Poetry Slams etwa können an einem Abend ein großes Publikum erreichen; die Texte werden nicht nur von Einzelnen, sondern auch von Teams verfasst und performt. Mit dem Erfolg von Poetry Slams sind die Mündlichkeit der Literatur, ihr Ereignischarakter und ihre Offenheit für alle Akteur*innen (wieder) in das Blickfeld gerückt.

    Die digitale Literatur steht dafür, dass die Grenzen zwischen Autor- und Leserschaft wie auch zwischen „Fiktion und inszenierter Wirklichkeit" verschwimmen (Winko 2016: 6). Der Begriff der digitalen Literatur bzw. Netzliteratur, Internetliteratur, New Media Literature oder Hyperfiction ist jedoch zu schärfen. Sie ist zunächst von einer digitalisierten Literatur (E-Books, Bibliotheken wie das Projekt Gutenberg) zu unterscheiden. Deren Lektüre erfolgt am Computer oder einem anderen (mobilen) Endgerät; verändert ist so vor allen Dingen die Rezeption von Texten (→ Kap. 4, 5). Als digitale Literatur hingegen werden Texte bezeichnet, deren Produktion und Rezeption am Computer erfolgt und die im digitalen Format, als zweifacher Text entstehen: dem auf dem Bildschirm sicht- und lesbaren Text und dem ihn bedingenden digitalen Code hinter der Oberfläche (vgl. Winko 2016: 4). Diese Texte sind oder erscheinen in einem weiten Sinn interaktiv: Die Lesenden wählen individuelle Lektürepfade, können z. B. Hyperlinks folgen oder eigene Texte eingeben (vgl. ebd.: 4). Insofern werden z. B. Texte im Hypertextformat (→ Kap. 11) auch als nichtlinear bezeichnet. Auch Netzliteratur ist digitale Literatur, spezifisch aber noch einmal dadurch charakterisiert, dass sie „des Internets bedarf, um produziert und rezipiert zu werden" (ebd.: 5). Sie wird im Internet publiziert und kann, etwa in Form von Schreibforen, Mitschreibprojekten oder literarischen Blogs konzipiert, nicht nur zur Rezeption, sondern auch

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