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Die Sowjetmacht Bd. 2: Das Erste Jahr
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Die Sowjetmacht Bd. 2: Das Erste Jahr
eBook944 Seiten25 Stunden

Die Sowjetmacht Bd. 2: Das Erste Jahr

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Über dieses E-Book

Die Oktoberrevolution 1917 in Russland prägte nicht nur die Geschichte Europas, sondern veränderte die ganze Welt. Das erste Jahr der Herrschaft der Bolschewiki ist Gegenstand der umfangreichen Untersuchung des amerikanischen Historikers Alexander Rabinowitch. Der Mehring Verlag veröffentlicht im März 2010 das Buch 'Die Sowjetmacht. Das erste Jahr', das nach zwanzigjähriger Forschungsarbeit entstanden ist. Seit 1991 war es Rabinowitch möglich, in den Archiven der Regierung und Kommunistischen Partei in Moskau und danach in Leningrad zu arbeiten. 1993 erhielt er sogar Zugang zu den ehemaligen KGB-Archiven. Detailreich folgt das Buch den Auseinandersetzungen innerhalb der bolschewistischen Partei, schildert Rabinowitch Persönlichkeiten der revolutionären Bewegung, zeigt er die bedrohlichen Hindernisse, die sich dem jungen Regime entgegenstellen. Gestützt auf sein Studium der Archive lehnt Rabinowitch die Darstellungen der Russischen Revolution ab, die viele Jahrzehnte die Geschichtswissenschaft und die öffentliche Diskussion dominiert haben: Erstens die Schule der stalinistischen Fälschung, die nicht nur in der ehemaligen Sowjetunion verbreitet war, und zweitens die Tendenz, die die Oktoberrevolution als Putsch einer Partei ansah, die über keine Unterstützung in den Massen verfügte und daher mit Terror regierte.
SpracheDeutsch
HerausgeberMEHRING Verlag
Erscheinungsdatum10. Dez. 2022
ISBN9783886347902
Die Sowjetmacht Bd. 2: Das Erste Jahr
Autor

Alexander Rabinowitch

Alexander Rabinowitch, emeritierter Professor an der Indiana University in Bloomington, wird weltweit als Experte für die Geschichte Russlands anerkannt. Besondere Beachtung verdient seine Vorreiterrolle bei der wissenschaftlichen Aufarbeitung der beiden Revolutionen des Jahres 1917. Weitere Schwerpunkte seiner Forschungen bildeten die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg und die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen. Als einer der ersten Wissenschaftler aus dem Westen erhielt er Zugang zu sowjetischen Archiven, um die Geschichte der Kommunistischen Partei zu rekonstruieren. Sein Klassiker 'The Bolsheviks Come to Power' (1976) war die erste umfangreiche Studie eines Historikers aus dem Westen, die unter Gorbatschow in der Sowjetunion publiziert wurde, und hat sich in der Fachwelt als Standardwerk etabliert. Rabinowitch ist Autor von “Prelude to Revolution: The Petrograd Bolsheviks and the July 1917 Uprising” (1968) und Mitherausgeber von “Russia in the Era of NEP: Explorations in Soviet Society and Culture” (1991). Er lehrte an Universitäten in Amerika, Europa, Russland und Asien und hat zahlreiche Beiträge für internationale Fachzeitschriften verfasst. Im Mehring Verlag ist Alexander Rabinowitchs Studie 'Die Sowjetmacht. Das erste Jahr' erschienen. 2012 folgte die Veröffentlichung der deutschen Ausgabe seines Hauptwerks 'Die Revolution der Bolschewiki 1917'.

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    Written by a respected american historian of the russian revolution and early soviet period, this book kind of completes a trilogy about the Bolshevik ascension to power that started with the author's study of the failed July 1917 coup (Prelude to Revolution) and continued with his study of the October revolution (The Bolsheviks Come To Power). This volume, the first to benefit from the opening of the soviet archives in the 1990s, is devoted to the study of the Petrograd (St. Petersburg) Bolsheviks in the first year after October 1917. This early period of soviet rule (1917-1918) saw truly revolutionary changes in Russia, and in Petrograd in particular, and in this very interesting study we can read about them in a masterful way: the dissent within the Bolsheviks, the election to, and the dismissal of, the Constituent Assembly, the separate peace with Germany and the Brest-Litovsk treaty that precipitated the end of the coalition government with the Left Socialist Revolutionaries and the inauguration of the Bolshevik one-party rule that would remain in force for more than seventy years, until the downfall of the soviet regime, and also the catastrophic domestic social, economic, political, and military situation, in Petrograd and in the country, in the Spring and Summer of 1918, that led to the proclamation of the Red Terror, the onset of the civil war, the formation and early development of the Cheka. All these momentous events are seen from the perspective of a city that lost its capital status to Moscow and whose dire economical and social conditions led to a growing disenchantment of the works with the Bolshviks, resulting in the formation of independent political bodies, and the increasing depopulation of the city. The attempts of the Bolshviks to remain in power at the various levels of decision making (from factory commitees and trade unions to city, local, and national government) in face of mounting difficulties and opposition lead very quickly to the dismissal of all democratic mechanisms and to the concomitant increase in the repression aparatus that would be one of the soviet regime's staples. Rabinowitch's new book is an important contribution to our understanding of these turbulent and seminal times.

Buchvorschau

Die Sowjetmacht Bd. 2 - Alexander Rabinowitch

Vorwort und Danksagung

Im Oktober 1917 ergriffen die Bolschewiki in Russland die Macht. Das Regime, das sie errichteten und das sich den weltweiten Sieg des Kommunismus auf die Fahnen geschrieben hatte, drückte der russischen Politik und Gesellschaft mehr als 75 Jahre seinen Stempel auf. Mit gutem Grund lässt sich behaupten, dass dies die Weltgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts nachhaltiger geprägt hat als irgendein anderes Ereignis.

Meine Aufmerksamkeit als Forscher und Publizist galt bislang vor allem der Oktoberrevolution von 1917 und deren unmittelbaren Folgen in Petrograd, der Stadt, die heute St. Petersburg heißt und damals die Hauptstadt erst des zaristischen und dann des revolutionären Russland war. In meinem ersten Buch, Prelude to Revolution: The Petrograd Bolsheviks and the July Uprising (Indiana University Press, 1968), ging ich den Ursachen, der Entwicklung und den Ergebnissen des gescheiterten Juli-Aufstands in Petrograd auf den Grund. Zum einen wollte ich so die tieferen Ursachen der allgemeinen Unzufriedenheit mit der liberal-gemäßigten sozialistischen Provisorischen Regierung aufdecken. Zum anderen ging es mir darum, das Programm, die Struktur, den Modus Operandi sowie die Stärken und Schwächen der bolschewistischen Partei (im Vergleich zu anderen politischen Parteien dieser Zeit) deutlich herauszuarbeiten. In meinem nächsten Buch, The Bolsheviks come to Power (1976) stützte ich mich auf die Erkenntnisse aus Prelude to Revolution, um ein tieferes Verständnis dafür zu entwickeln, was den Charakter der Oktoberrevolution von 1917 ausmachte, weshalb keine Demokratie nach westlichem Vorbild zustandekam und aus welchen Gründen Lenin und die Bolschewiki den Sieg davontrugen. Bei beiden Büchern ging es mir vor allem darum, die Ereignisse in Petrograd eingehender zu beleuchten, um wichtige, bis dahin wenig untersuchte Fragen zu den Bolschewiki und zum Verlauf der Oktoberrevolution zu erörtern.

The Bolsheviks come to Power und Prelude to Revolution widersprachen gängigen Vorstellungen von der Oktoberrevolution, sah man doch im Westen die Oktoberrevolution gemeinhin als eine Art Militärputsch, den eine kleine, verschworene Bande revolutionärer Fanatiker unter der genialen Führung Lenins angezettelt hatte. Demgegenüber ergaben meine Nachforschungen, dass die bolschewistische Partei in Petrograd 1917 zu einer Massenpartei herangewachsen war und keineswegs eine monolithische Bewegung darstellte, die sich im Gleichschritt hinter Lenin eingereiht hätte. Ihre Führung bestand vielmehr aus einem linken, einem zentristischen und einem gemäßigten Flügel, die alle dazu beitrugen, eine revolutionäre Strategie und Taktik zu entwickeln. Weiter zeigte sich, dass der Erfolg, der der Partei nach dem Sturz des Zaren im Februar 1917 im Kampf um die Macht beschieden war, folgenden ausschlaggebenden Faktoren zuzuschreiben war: der organisatorischen Flexibilität der Partei, ihrer Offenheit und Aufgeschlossenheit für die Anliegen der Bevölkerung sowie ihren engen und sorgsam gepflegten Verbindungen zu Fabrikarbeitern, Soldaten der Petrograder Garnison und den Matrosen der Baltischen Flotte. Ich kam zu dem Ergebnis, dass die Oktoberrevolution in Petrograd weniger eine militärische Operation war, sondern eher ein allmählicher Prozess auf dem Boden einer in der Bevölkerung tief verwurzelten politischen Kultur sowie einer weit verbreiteten Unzufriedenheit mit den Ergebnissen der Februarrevolution, kombiniert mit der unwiderstehlichen Anziehungskraft der Versprechen der Bolschewiki – sofortiger Friede, Brot, Land für die Bauern und Basisdemokratie durch Mehrparteiensowjets.

Diese Interpretation warf allerdings ebenso viele Fragen auf, wie sie beantwortete. Wenn der Erfolg der bolschewistischen Partei 1917, soviel schien klar, wenigstens zum Teil ihrem offenen, relativ demokratischen und dezentralisierten Charakter und Handeln zu verdanken war, wie war dann zu erklären, dass sich diese Partei so schnell in eine der am stärksten zentralisierten und autoritärsten politischen Organisationen der Neuzeit verwandelte? Und weiter, wenn die Sowjets 1917 zutiefst demokratische Organisationen waren, Organe der Volksherrschaft in embryonaler Form, wie es die Ergebnisse meiner Untersuchungen nahelegen, welche Faktoren führten dann dazu, dass ihre Unabhängigkeit wie auch die anderer Massenorganisationen in so kurzer Zeit zerstört wurde? Die vielleicht entscheidendste Frage lautete: Wenn ein großer Teil der unzufriedenen Unterschicht Petrograds, die den Sturz der Provisorischen Regierung anführte und den Bolschewiki die Machtergreifung leicht machte, eine egalitäre Gesellschaft und ein demokratisch-sozialistisches politisches System anstrebte, das Platz für viele Parteien bieten sollte, und wenn – auch das belegen meine Studien – viele bekannte Bolschewiki dieses Ziel ebenfalls verfolgten, wie lässt sich dann erklären, dass diese Ideale in so kurzer Zeit ausgehöhlt wurden und die autoritäre bolschewistische Herrschaft sich derart verfestigen konnte?

Um diese Kernfragen geht es im vorliegenden Buch. Diesen Band fertigzustellen kostete sehr viel Zeit, ironischerweise gerade durch die Liberalisierung, die Gorbatschow auf kulturellem Gebiet eingeleitet hatte. Anfang der 1980er Jahre hatte ich umfassende Recherchen vor Ort in Leningrader und Moskauer Bibliotheken abgeschlossen. Lange vor Gorbatschows Amtsantritt und dem Ende der Sowjetunion 1991 hatte ich damit begonnen, die wichtigsten Kapitel in einer Rohfassung niederzuschreiben. Allerdings ließen die Ergebnisse in meinen Augen zu wünschen übrig; dies galt insbesondere für die Phase, in deren Gefolge im ersten Halbjahr 1918 ein großer Teil der nicht-bolschewistischen Presse eingestellt wurde, womit ich eine der wichtigsten Quellen meiner Forschungstätigkeit verlor. Selbst die nur bedingt aufschlussreichen veröffentlichten Dokumente zu Ereignissen, Institutionen, gesellschaftlichen Gruppen und politischen Persönlichkeiten und Parteien, insbesondere zur bolschewistischen Partei in Petrograd, die für meine Untersuchungen zum Jahr 1917 von größter Wichtigkeit waren, fehlten für 1918 völlig. Um dieses Buch zu vollenden, brauchte ich daher Zugang zu den Archiven der sowjetischen Regierung und der Kommunistischen Partei, die zur damaligen Zeit noch strengster Geheimhaltung unterlagen.

Ein erster bedeutsamer Hinweis auf die einschneidende Veränderung, die die Liberalisierung unter Gorbatschow für meine Arbeit als westlicher Historiker der russischen Revolution und der Anfänge der Sowjetherrschaft bedeuten würde, war die Publikation meines Buches The Bolsheviks come to Power im Jahr 1989. Damit wurde erstmals eine westliche Studie der Revolution in der Sowjetunion veröffentlicht. Ich erinnere mich an die Buchvorstellung im Verlagshaus Progress Publishing in Moskau; es war einer der Höhepunkte meines Lebens. Doch selbst nach der Veröffentlichung des Buches in der Sowjetunion schien die Möglichkeit, dass ein »bürgerlicher Fälscher« wie ich schon bald sowjetische historische Archive würde auswerten können, noch in weiter Ferne zu liegen.

Dies änderte sich schlagartig, als ich im Juni 1991 Russland besuchte, um in Moskauer und Leningrader Bibliotheken weitere Nachforschungen anzustellen. Mit der Unterstützung sowjetischer Kollegen ersuchte ich um Zugang zu staatlichen Archiven und zu Archiven der Kommunistischen Partei in Moskau und Leningrad – und zu meiner großen Überraschung wurde mir dieser Zugang gewährt. Natürlich war klar, dass manches, was für mich von größtem Interesse war, weiterhin der Geheimhaltung unterliegen würde; doch mir stand nun Quellenmaterial zur Verfügung, das um ein Vielfaches umfangreicher war als zuvor. Als ich dann 1993 zum ersten Mal in den Archiven des ehemaligen KGB arbeiten durfte, kam noch viel Material hinzu, und in den verbleibenden Jahren bis 2000, als immer mehr Dokumente freigegeben wurden, standen mir schließlich weitaus reichhaltigere Quellen zur Verfügung als zuvor. Soviel zur positiven Seite der Medaille. Die negative war, dass ich mit meinen Recherchen praktisch von vorne anfangen musste.

Ein Verzeichnis der Quellen, auf die sich diese Arbeit stützt, findet sich in der Bibliografie am Ende dieses Buches. Zu den wichtigen, unveröffentlichten Quellen über das erste Jahr der Sowjetmacht in Petrograd, zu denen ich Zugang hatte, zählen Sitzungsprotokolle des bolschewistischen Petersburger Komitees aus dem Jahr 1918 und Protokolle anderer Petrograder Parteiforen, Sitzungsprotokolle von Bezirkskomitees der Bolschewiki, Sitzungsprotokolle des Rats der Volkskommissare (Sownarkom), stenografische Aufzeichnungen wichtiger Sitzungen des Petrograder Sowjets und seiner Führungsgremien, Sitzungsprotokolle von Petrograder Bezirkssowjets, interne Vermerke, Korrespondenz, unveröffentlichte Memoiren, ausführliche Aufzeichnungen für andere Parteien und Regierungs-, Verwaltungs- und städtische Gremien sowie die Personalakten von wichtigen bolschewistischen Führern dieser Periode. Außerdem konnte ich einige (natürlich bei Weitem nicht alle) aussagekräftige Fallakten der Allrussischen Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage (Tscheka) sowie Fallakten damaliger lokaler Ermittlungsbehörden auswerten. Ähnlich wertvoll für mich waren umfangreiche, mit ausführlichen Anmerkungen versehene Sammlungen ehedem als geheim eingestufter Akten über die Geschichte anderer politischer Organisationen als der bolschewistischen Partei während der revolutionären und der unmittelbar nachrevolutionären Phase, die in Russland in den letzten anderthalb Jahrzehnten für die Öffentlichkeit freigegeben wurden.

Dieses erstmals zugängliche Quellenmaterial in seiner Gesamtheit hat es zum ersten Mal ermöglicht, die Debatten und die Entscheidungsfindung innerhalb der bolschewistischen Partei von der Parteispitze bis hinunter zur Parteibasis in Petrograd zu untersuchen und die Entwicklung der Partei- und Regierungsin­stitutionen und ihr Verhältnis zueinander auf allen Ebenen ebenso zu erforschen wie die Herausbildung der politischen Anschauungen der breiten Bevölkerung während des ersten Jahres der Sowjetmacht. Anhand dieser Analyse habe ich dann versucht, die Dynamik in der Anfangsphase der Entwicklung des repressiven, ultraautoritären sowjetischen politischen Systems zu rekonstruieren – vor dem Hintergrund der gravierenden politischen, ökonomischen, sozialen und militärischen Krise, mit der sich Petrograd nach der Oktoberrevolution konfrontiert sah. Ich hoffe, dass diese Rekonstruktion, die gewiss noch unvollständig ist, neue Einsichten zu einer der wichtigsten geschichtswissenschaftlichen Fragestellungen in Bezug auf die frühe sowjetische Geschichte liefern wird: Wie entscheidend war der Einfluss der aktuellen Ereignisse und Entwicklungen sowie der Reaktionen darauf für die Herausbildung des hoch zentralisierten, autoritären politischen Systems Russlands im Verhältnis zum Einfluss der vorgefassten revolutionären Ideologie beziehungsweise der strikten und diktatorisch geprägten Verhaltensmuster der Bolschewiki?

Die Sowjetmacht. Das erste Jahr gliedert sich in vier Teile. Teil 1 behandelt die Phase von der Oktoberrevolution bis zur Auflösung der Konstituierenden Versammlung im Januar 1918. In diesem Zeitraum festigten die Bolschewiki ihre Herrschaft in Petrograd, und Lenin gelang es, gemäßigte Bolschewiki im Schach zu halten, die die Aussicht auf baldige sozialistische Revolutionen im Ausland skeptisch beurteilten und ihre Hoffnungen stattdessen in eine den Sozialisten wohlgesinnte Konstituierende Versammlung setzten, welche die Revolution in Russland vorantreiben sollte. Im Brennpunkt des zweiten Teils stehen Verlauf und Folgen der erbitterten Auseinandersetzungen um den Brester Friedensvertrag. Die Kontroverse um diesen Separatfrieden mit Deutschland entzündete sich im Januar 1918 zwischen einer Mehrheit führender Petrograder Bolschewiki und Lenin. Sie endete im März, als die deutschen Truppen bis Petrograd vorstießen, mit der panischen Flucht der Sowjetregierung nach Moskau und der Ratifizierung des Vertrags. Im dritten Teil widme ich mich den verheerenden innenpolitischen und militärischen Krisen Petrograds im Frühjahr und Frühsommer 1918 sowie den Reaktionen der Arbeiter darauf. Außerdem gehe ich der Frage nach, wie diese Krisen die Haltung der Bolschewiki zum Regieren in der mittlerweile »zweitwichtigsten Stadt« Russlands prägten. Abschließend beleuchte ich das Scheitern des Bündnisses zwischen Bolschewiki und Linken Sozialrevolutionären in der Nördlichen Oblast und die Wende zur Einparteienherrschaft Anfang Juli. Teil 4 schließlich befasst sich hauptsächlich mit den Petrograder Bolschewiki und den politischen Entwicklungen im Juli und August 1918, die im Herbst in die Ausrufung des »Roten Terrors« mündeten, außerdem behandelt es die Dynamik und die Folgen des Terrors in Petrograd. Das dritte Kapitel des vierten Teils beschreibt die Organisation und Durchführung der Mammutfeiern zum ersten Jahrestag der Oktoberrevolution in Petrograd. Mein Ziel ist es, anhand der Festlichkeiten den Zustand, die revolutionären Hoffnungen und das Selbstbild der Petrograder Bolschewiki zu beurteilen, und auch die veränderte Struktur der Petrograder Regierung nach zwölf Monaten verzweifelten Kampfes, bis zum Ausbruch der sehnsüchtig erwarteten, entscheidenden sozialistischen Revolutionen im Westen an der Macht zu bleiben. Im gesamten Buch nehme ich bestimmte Ereignisse und Situationen ins Visier, die besonders wertvolle Einsichten zur Beantwortung zentraler Fragen liefern, die heute noch Rätsel aufgeben, beispielsweise die Frage, wie sich der Charakter der bolschewistischen Partei und der Sowjets im Anschluss an die Oktoberrevolution veränderte, und die Frage, wie die Kluft zwischen den ursprünglichen Zielen der Revolution und ihren frühen Ergebnissen zu erklären ist.

***

Die russischen Namen sind in der deutschen Übersetzung im Interesse der Lesefreundlichkeit nach der aussprachenahen Transkription des Duden wiedergegeben. Eine Ausnahme bilden Namen, deren Schreibweise im Deutschen durch Gewohnheit bereits derart verankert ist, dass eine andere Wiedergabe den Leser nur irritieren würde. Für die Bibliografie und die Quellennachweise in den Anmerkungen wurde die wissenschaftliche Transliteration gewählt. Der herausgebende Verlag hält diesen formalen Bruch insofern für angemessen und vertretbar, als der akademisch interessierte Leser auf diese Weise die Quellen besser auffinden kann, ohne dass die Lektüre ansonsten unnötig erschwert wird. Diese Lösung versucht sowohl dem einschlägig vorgebildeten Fachpublikum als auch interessierten Laien gerecht zu werden.

***

Am 1. Februar 1918 wechselte Russland vom Julianischen zum westlichen Gregorianischen Kalender, der dem Julianischen um 13 Tage vordatiert war. Soweit nicht anders angegeben, stimmen alle Datumsangaben im Text mit dem zu diesem Datum geltenden Kalender überein.

Bei der langjährigen Arbeit an diesem Buch hat mich eine immense Zahl von Personen und Institutionen unterstützt, sodass es beim besten Willen nicht möglich ist, ihnen allen namentlich meinen Dank auszusprechen. Ohne die großzügige Unterstützung der im Folgenden aufgeführten Einrichtungen und Institutionen wäre dieses Buch nie vollendet worden: John Simon Guggenheim Memorial Foundation; John D. and Catherine T. MacArthur Foundation; International Research and Exchanges Board; National Council for Eurasian and East European Research; American Council of Learned Societies; Harriman Institute (Columbia University); Hoover Institution (Stanford University); Office of International Programs; Russian and East European Institute und Office of the Vice President for Research (Indiana University).

Mein tief empfundener Dank gilt auch den Mitarbeitern folgender Einrichtungen und Institutionen: Hoover Institution; New York Public Library; Library of Congress; Indiana University Library; National Library, London; Bibliothèque de documentation internationale contemporaine (BDIC), Nanterre; Russische Staatsbibliothek Moskau und Russische Nationalbibliothek St. Petersburg; Staatliche Öffentliche Historische Bibliothek Russlands in Moskau; Informationsinstitut für Gesellschaftswissenschaften an der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau, Bibliothek der Russischen Akademie der Wissenschaften, St. Petersburg; Staatliches Museum für die politische Geschichte Russlands, St. Petersburg; National Archives of the United Kingdom (TNA), Public Records Office (PRO); Staatliches Archiv der Russischen Föderation, Moskau (GARF); Russisches Staatsarchiv für sozio-politische Geschichte (RGASPI); Zentrales Staatsarchiv von St. Petersburg (TsGA SPb); Zentrales Staatsarchiv für historisch-politische Dokumente, St. Petersburg (TsGAIPD); Archiv der Oblast Leningrad in Wyborg (LOGAV); Zentrales Staatsarchiv der Marine, St. Petersburg (TsGAVMF); Archivverwaltung des Inlandsgeheimdienstes der Russischen Föderation, Moskau (AU FSB RF); Archivverwaltung des Inlandsgeheimdienstes für St. Petersburg und die Leningrader Oblast (AU FSB SPb i LO).

Seit Beginn der 1980er Jahre haben meine Untersuchungen und Veröffentlichungen besonders vom Austausch mit Historikern in Moskau und St. Petersburg profitiert, insbesondere mit Genrich Joffe, Michail Iroschnikow, Viktor Miller, Albert Nenanorkow, Genadi Sobolew, Vitali Starzew, Pawel Wolobuew und Oleg Snamenski. Seit der Auflösung der Sowjetunion haben sich die Beziehungen zwischen westlichen und russischen Wissenschaftlern normalisiert; diese begrüßenswerte Entwicklung kam mir und vielen anderen zugute. Seit dem ersten Tag meiner Forschungsarbeiten im Leningrader Archiv der [Kommunistischen] Partei (heute TSGAIPD) hat Irina Ilmarowna Sasonowa, Forschungsgruppenleiterin und Archivarin, mir geholfen, wo sie nur konnte; sie ließ mich an ihrem enormen Wissen teilhaben und unterstützte meine Forschungsarbeit in vielerlei Weise. Ebenso die Historikerin und leitende Archivexpertin Taisija Pawlowna, deren wissenschaftliche Hauptinteressen sich mit den meinen decken. Sie ist heute noch so hilfsbereit wie am ersten Tag.

Die St. Petersburger Abteilung des Instituts für Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften kann sich glücklich schätzen, eine Gruppe von herausragenden Wissenschaftlern zu haben, deren Interessensgebiete sich ebenfalls mit dem meinigen überschneiden. Von den Mitarbeitern des Instituts danke ich im Besonderen Boris Ananitsch, Tamara Abrosimowa, Wladimir Tschernjajew, Rafael Ganelin, Boris Kolonizki, Sergei Potolow und Nikolai Smirnow. Sie haben mir Mut zugesprochen und mich mit ihrem Fachwissen ebenso unterstützt wie durch ihre Freundschaft. Für ihren Rat und ihre Unterstützung danke ich außerdem besonders Barbara Allen, Stanislaw Bernew, Richard Bidlack, Nadeschda Tscherepinina, Sergej Tschernow, Barbara Evans Clements, Pete Glatter, Leopold Haimson, Wladlen Ismosik, Alexander Kalmykow, Swetlana Korenewa, Anatoli Krajusch­kin, Carol Leadenham, Sergei Leonow, Jaroslaw Leontjew, Moshe Lewin, Alexei Litwin, Nikita Lomagin, Wladlen Loginow, Andrea Lynn, Michael Melancon, Larissa Malaschenko, Wladimir Naumow, Oleg Naumow, Michaela Pohl, Toivo Raun, Anatoli Rasgon, Larissa Rogowaja, Jonathan Sanders, Richard Spence, Michail Schkarowski, Stanislaw Tjutjukin, Phil Tomaseli und Rex Wade. Meine Studenten am Seminar für Geschichte der Indiana University waren mir in den vielen Jahren immer eine Quelle der Inspiration. Auch ihnen bin ich zu großem Dank verpflichtet. Nicht vergessen möchte ich, dass mir Mary McAuleys bahnbrechende Studie, Bread and Justice: State and Society in Petrograd, 1917–1922, zu einem besseren Verständnis der größeren Zusammenhänge verholfen hat, in die meine Arbeit eingebettet ist. Dasselbe gilt auch für die Bücher von Donald J. Raleigh, Experiencing Russia’s Civil War: Politics, Society, and Revolutionary Culture in Saratow, 1917–1922; Peter Holquists Making War, Forging Revolution: Russia’s Continuum of Crisis, 19141921 und Richard Sakwas Soviet Communists in Power: A Study of Moscow during the Civil War, 1918–1921. Eine umfassende Sammlung von Essays aus der Zeit nach der Sowjetunion, herausgegeben von V. A. Šiškin, Petrograd na perelome epoch: gorod i ego žiteli v godu revoljucii i graždanskoj vojny, lieferten mir anregende Erkenntnisse heutiger Petersburger Historiker, die von besonders großem Interesse für mich sind.

Mein Dank gebührt den Mitarbeitern des Verlags Indiana University Press für ihre Sorgfalt und ihr Engagement bei der Redaktion und Herstellung meines Buches. Und last not least wäre dieses Buch nie erschienen ohne die kontinuierliche Unterstützung, Ermutigung und die stets klugen Ratschläge meiner Frau Janet. Sie las das gesamte Manuskript und machte Verbesserungsvorschläge für mehrere Entwürfe der jeweiligen Kapitel, die mir bei der Überarbeitung unschätzbare Dienste geleistet haben. Für verbleibende Mängel trage selbstverständlich ich allein die Verantwortung.

Prolog – Die Bolschewiki und die Oktoberrevolution in Petrograd

Die Ursachen für die Entwicklung der Bolschewistischen Partei während des ersten Jahrs der Sowjetmacht in Petrograd und die Faktoren für die Herausbildung eines autoritären Einparteiensystems sind einerseits in den Umständen zu suchen, die durch die Februarrevolution und den Sturz von Zar Nikolaus II. geschaffen worden waren, liegen andererseits aber auch im Charakter und in der Zusammensetzung der Bolschewistischen Partei von 1917 und in der Dynamik der Oktoberrevolution, die sie an die Macht getragen hatte.

Aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg hatte die russische Gesellschaft politische und wirtschaftliche Instabilität, technologische Rückständigkeit und eine tiefe soziale Spaltung geerbt. Vor diesem Hintergrund wirkten eine verheerende Kriegsführung, eine Kette militärischer Niederlagen, volkswirtschaftliche Verwerfungen und die allgemeine Empörung über die Ausschweifungen der Monarchie als Auslöser der Februarrevolution, die zwei Anwärter auf die Staatsmacht hervorbrachte: Da war zum einen die offizielle Provisorische Regierung, in der zunächst bekannte Liberale den Ton angaben und die später, von April an, aus einer brüchigen Koalition zwischen Liberalen (vorwiegend Konstitutionellen Demokraten bzw. Kadetten) und gemäßigten Sozialisten bestand. (Letztere gehörten vorwiegend den gemäßigten Sozialdemokraten bzw. Menschewiki und den Sozialrevolutionären als Vertretern der Bauernschaft an.) Der zweite Anwärter auf die Macht war der Sowjet – zunächst der Petrograder Sowjet, der während der Februarrevolution entstanden war, und von Mitte des Sommers an auch die nationalen Exekutivkomitees weiterer Sowjets: das Gesamtrussische Zentrale Exekutivkomitee der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten und das Gesamtrussische Exekutivkomitee der Sowjets der Bauerndeputierten. Diese nationalen Ausschüsse wurden auf Kongressen gewählt, zu denen Vertreter der Stadt- und Bauernsowjets aus dem ganzen Land entsandt wurden, und verfügten daher aufgrund ihrer weitaus größeren und überdies ständig zunehmenden Unterstützung von Arbeitern, Bauern, Soldaten und Matrosen über mehr politisches Gewicht als die Provisorische Regierung.

Solange die Exekutivorgane der Sowjets von den gemäßigten Sozialisten dominiert wurden, erkannten sie die Provisorische Regierung an und unterstützten im Interesse einer fortgesetzten Partnerschaft mit den Liberalen deren Politik, durchgreifende politische, wirtschaftliche und soziale Reformen sowie die Einberufung einer Konstituierenden Versammlung hinauszuzögern. In ihren Augen war die Regierungsbeteiligung der Liberalen eine unabdingbare Voraussetzung für die militärische Sicherheit und nationale Wiedergeburt Russlands. Doch je mehr vom Frühjahr und Sommer 1917 an in der Bevölkerung Enttäuschung über die Ergebnisse der Februarrevolution um sich griff, desto stärker setzten die aufständischen Massen Petrograds die – von den gemäßigten Sozialisten beherrschten – nationalen Sowjetgremien unter Druck, die Macht in die eigenen Hände zu nehmen. Wie die weiteren Ereignisse zeigten, konnten die elementaren gesellschaftlichen Kräfte, die in der Februarrevolution freigesetzt worden waren, nicht wieder zurückgedrängt oder in vollem Lauf aufgehalten werden. Die Sowjets galten der Bevölkerung als Vorboten und Werkzeuge des gesellschaftlichen Fortschritts.

Wladimir Iljitsch Lenin, Gründer und Kopf der Bolschewistischen Partei, war praktisch der einzige führende Politiker Russlands, der diese Zusammenhänge instinktiv erfasste. Schon bei Kriegsausbruch war er davon überzeugt, dass der Weltkrieg unweigerlich in allen beteiligten Ländern zu sozialistischen Revolutionen führen werde. Als das alte Regime gestürzt wurde, befand sich Lenin in der Schweiz. Bei seiner Rückkehr nach Petrograd Anfang April 1917 rief er zu einer sofortigen zweiten, »sozialistischen« Revolution in Russland auf. Nachdem er sich mit den Umständen genauer vertraut gemacht hatte (wobei er unter anderem feststellte, dass viele seiner engsten Mitarbeiter wenig Verständnis für eine schroffe, radikale revolutionäre Aktion aufbrachten), ließ er diesen Plan zwar als unmittelbares Ziel fallen, bereitete jedoch die Bolschewistische Partei darauf vor, die Provisorische Regierung bei nächster Gelegenheit durch eine linke »Sowjetregierung« zu ersetzen. Eben darin lag seine brillante historische Leistung zu jener Zeit.

Allerdings darf bei der Beurteilung der Rolle Lenins nicht außer Acht gelassen werden, dass er sich von Februar bis Oktober 1917 vorwiegend im Ausland oder in Verstecken aufhielt und sich daher nicht regelmäßig mit seinen Mitstreitern in Russland austauschen konnte. Die bolschewistische Führungsspitze zerfiel damals in drei Gruppen. Zur Gruppe der Linken zählten unter anderem Lenin und Leo Trotzki. Für sie war die Errichtung einer revolutionären Sowjetregierung in Russland kein eigenständiges Ziel, sondern der Auftakt zur unmittelbar bevorstehenden sozialistischen Weltrevolution. Die Mitte setzte sich aus einer Gruppe oftmals recht eigenwilliger Köpfe zusammen, deren Ansichten über die Zukunft der russischen Revolution mit ihrer Auslegung der aktuellen Lage wechselten. Die Rechte schließlich bestand aus der sehr einflussreichen Gruppe nationaler Parteiführer um Lew Kamenew, die eine weitaus gemäßigtere Einstellung vertrat. Zu ihr zählten Grigori Sinowjew, Wladimir Miljutin, Alexei Rykow und Viktor Nogin (Mitglieder des bolschewistischen Zentralkomitees) sowie Anatoli Lunatscharski. Der Beitritt einflussreicher linker Menschewiki, unter ihnen Juri Larin, Solomon Losowski und der selbstständige Denker, Gewerkschaftsführer, Marxist und Humanist David Rjasanow, auf dem Sechsten Gesamtrussischen Parteitag der Bolschewistischen Partei Ende Juli bescherte den Rechten einen deutlichen Zuwachs an Anhängern und Einfluss. Diese Gruppe bezweifelte, dass im Westen in Kürze größere sozialistische Revolutionen zu erwarten waren. In ihren Augen sollte die Übergabe der Macht an die Sowjets in der zweiten Hälfte des Jahres 1917 die linken sozialistischen Parteien und Fraktionen zu einem festen Bündnis zusammenschmieden. Dieses sollte für eine Übergangszeit eine rein sozialistische Koalitionsregierung bilden, Friedensverhandlungen einleiten und durch die Einberufung der Konstituierenden Versammlung eine grundlegende Reform der Gesellschaft vorbereiten. In Lenins Abwesenheit war die Orientierung dieser Gruppe maßgeblich für das politische Programm, das die Bolschewiki in der Öffentlichkeit vertraten.

Zudem nahmen die Ereignisse oftmals einen so raschen Verlauf, dass das Zentralkomitee der Bolschewiki gar nicht dazu kam, seine Politik mit Lenin abzustimmen. Darüber hinaus mussten untergeordnete Parteigremien unter den damaligen Umständen häufig ohne Anweisungen von oben oder sogar im Widerspruch dazu auf neue Gegebenheiten reagieren. Hinzu kommt, dass die Bolschewiki infolge deutlich gelockerter Mitgliedschaftsbedingungen 1917 zu einer Massenpartei anwuchsen. Auch waren ihr Programm und ihre Politik 1917 von dem starken, direkten Einfluss der einfachen Mitglieder geprägt und spiegelten daher die Bestrebungen der Bevölkerung unmittelbar wider.

Gleichzeitig entwickelte die Revolution unter Fabrikarbeitern, Soldaten und Bauern eine so starke Eigendynamik, dass die Bolschewiki bisweilen ihrer Basis folgen mussten, statt umgekehrt. Am 1. Juli beispielsweise wies das Zentralkomitee unter dem Einfluss seines gemäßigten Flügels die Regionalkomitees an, mit aller Kraft auf einen möglichst baldigen Kongress der linken Sozialisten hinzuarbeiten, der alle demokratischen Kräfte zusammenführen sollte, einschließlich der Gewerkschaftsführer und der Vertreter der internationalistischen Flügel jener Parteien, die noch nicht mit den Vaterlandsverteidigern gebrochen hatten (beispielsweise die Linken Sozialrevolutionäre und die Menschewiki-Internationalisten). 1

Gleichzeitig wurden die Regionalkomitees aufgefordert, Wahlen für die Konstituierende Versammlung vorzubereiten. 2

Doch auf Druck ihrer überaus militanten Basis beteiligten sich radikale Mitglieder des Petersburger Komitees und der Militärischen Organisation nur zwei Tage später gegen den Willen der Gemäßigten und Lenins sowie seiner engsten Mitarbeiter maßgeblich an dem erfolglosen Juli-Aufstand.

***

Oberflächlich betrachtet endete der Juli-Aufstand für die Bolschewiki mit einer verheerenden Niederlage. Selbst die meisten gemäßigten Sozialisten wandten sich gegen sie. Lenin musste sich verstecken, viele bolschewistische Führer wurden inhaftiert, das Wachstum der Partei kam vorübergehend zum Stillstand, und die Vorbereitungen auf einen Kongress der sozialistischen Linken wurden eingestellt. Doch die wütende Verfolgung der Bolschewiki hatte auch andere, unbeabsichtigte Folgen: Sie bewirkte eine weitere Radikalisierung und Stärkung linker Gruppen innerhalb des gemäßigten sozialistischen Lagers, beispielsweise der Menschewiki-Internationalisten und der Linken Sozialrevolutionäre. Dies wiederum veranlasste die Mehrheit des bolschewistischen Zentralkomitees (wenn auch nicht Lenin) dazu, das Projekt eines linken sozialistischen Blocks neu zu beleben. Mitte Juli erging eine Einladung an die »Internationalisten« der anderen Parteien, mit beratender Stimme am bevorstehenden nationalen Parteitag der Bolschewiki teilzunehmen. Auf lokaler Ebene arbeiteten Bolschewiki, Menschewiki-Internationalisten und Linke Sozialrevolutionäre in Basisorganisationen wie den Bezirkssowjets ohnehin bereits erfolgreich zusammen. Der bemerkenswerteste Aspekt des Juli-Aufstands, betrachtet man ihn im Lichte der erfolgreichen Taktik der Bolschewiki in der Oktoberrevolution, dürfte allerdings darin bestehen, dass er die große Anziehungskraft ihres revolutionären Programms auf die Bevölkerung zum Ausdruck brachte.

Worin bestand dieses Programm? Im Gegensatz zu weit verbreiteten Vorstellungen traten die Bolschewiki 1917 nicht für die Diktatur einer einzelnen Partei ein. Vielmehr forderten sie eine demokratische »Volksmacht«, die vorbehaltlich der baldigen Einberufung der Konstituierenden Versammlung von einer Mehrparteienregierung ausgeübt werden und ausschließlich aus Sozialisten und Vertretern der Sowjets bestehen sollte. Außerdem forderten sie mehr Land für Einzelbauern, mehr Mitspracherecht der Arbeiter bei der Leitung der Betriebe (»Arbeiterkontrolle«), eine sofortige Verbesserung der Lebensmittelversorgung und, vor allem, ein rasches Ende des Kriegs. Alle diese Ziele wurden in prägnante Parolen gefasst: »Brot, Land, Frieden!«, »Alle Macht den Sowjets!« und »Sofortige Einberufung der Konstituierenden Versammlung!«

Die kombinierte Wirkung und das politische Gewicht dieser beiden Schlüsselfaktoren – der Anziehungskraft des politischen Programms der Bolschewiki und ihrer sorgsam gepflegten Verbindungen zu revolutionären Arbeitern, Soldaten und Matrosen – zeigten sich im Herbst 1917, als die Linke einen Putsch des Oberbefehlshabers der russischen Armee, General Lawr Kornilow, binnen Kurzem niederschlug. Der Marsch der Kornilow-Truppen auf Petrograd wurde von allen in den Sowjets zusammengeschlossenen sozialistischen Gruppen gemeinsam zurückgeschlagen. Die Bolschewiki spielten dabei allerdings eine besonders entscheidende Rolle, weil sie in der Lage waren, kurzfristig Fabrikarbeiter, kasernierte Soldaten und Matrosen der Baltischen Flotte zur Verteidigung der Revolution zu mobilisieren. Die rasche Niederlage Kornilows steigerte daher das Ansehen der Bolschewiki in der Bevölkerung und wurde zugleich als eindeutige Bestätigung ihres gemäßigten Flügels aufgefasst, der den Zusammenschluss aller sozialistischen Gruppen im Interesse der revolutionären Ziele des bolschewistischen Parteiprogramms anstrebte.

Am 1. September verabschiedete der Petrograder Sowjet eine von Kamenew eingebrachte Resolution, die den Ausschluss der Bourgeoisie von der Staatsmacht und die Bildung einer neuen, ausschließlich sozialistischen Regierung forderte. Diese Resolution wurde von vielen als Aufruf zur Übertragung der politischen Macht an die Sowjets interpretiert, obwohl Kamenew selbst nicht auf dieser Auslegung bestand. Die gemäßigten Bolschewiki, die seinen Standpunkt teilten, hätten sich zunächst auch mit einer sozialistischen Koalitionsregierung zufriedengegeben, in der sämtliche sozialistischen Parteien und, neben den Sowjets, auch »demokratische« Einrichtungen wie Gewerkschaften, Semstwos, Stadtdumas und Genossenschaften vertreten gewesen wären.

Die Verabschiedung der Resolution Kamenews verschaffte den Bolschewiki de facto die Kontrolle über den Petrograder Sowjet, was ihnen die Machteroberung im Oktober wesentlich erleichterte. Von den nationalen Exekutivkomitees der Sowjets wurde sie jedoch zunächst verworfen.

Auch die »Demokratische Beratung«, auf der »demokratische« Organisationen aus ganz Russland vom 14. bis 22. September in Petrograd die Regierungsfrage erörterten, sprach sich gegen die Schaffung einer rein sozialistischen, auf die Sowjets gestützten Regierung aus. Dennoch zeigte die Beratung, dass die linken Menschewiki und Sozialrevolutionäre mit ihrer weitgehenden Unterstützung für das bolschewistische Programm, wie es in der Resolution des Petrograder Sowjets vom 1. September verkörpert war, innerhalb des gemäßigten sozialistischen Lagers stark an Einfluss hinzugewonnen hatten. Als die Demokratische Beratung dem allgemeinen Wunsch nach einem sofortigen Regierungswechsel nicht nachkam, richteten sich die Erwartungen der Bevölkerung folglich wieder auf die Sowjets: Sie sollten über die Politik Russlands entscheiden. Dieser Umschwung kam Ende September darin zum Ausdruck, dass die Linken Sozialrevolutionäre, deren unmittelbare politische Ziele mittlerweile mit denjenigen der Bolschewiki übereinstimmten, auf der Siebten Konferenz ihres Petrograder Verbands eine überwältigende Mehrheit erhielten. Am 21. September forderten die Bolschewiki und die Linken Sozialrevolutionäre gemeinsam die vorgezogene Einberufung eines zweiten gesamtrussischen Kongresses der Sowjets der Arbeiter- und Bauerndeputierten, der auf Drängen der Sowjetdelegierten in der Demokratischen Beratung für den 20. Oktober anberaumt (und später auf den 25. Oktober verschoben) wurde. Das in diesem Beschluss enthaltene grundlegende Ziel, dass dieser zweite gesamtrussische Sowjetkongress eine homogene sozialistische Regierung einsetzen sollte, bestimmte die politische Arbeit der Bolschewiki sowie der Linken Sozialrevolutionäre und Menschewiki-Internationalisten in der zweiten Septemberhälfte und ersten Oktoberwoche.

***

Lenin bemühte sich im August und September nach Kräften, von seinem Versteck in Finnland aus Einfluss auf die Politik der Bolschewiki zu nehmen. Nach dem kläglich gescheiterten Juli-Aufstand, der den Bolschewiki reichlich Kritik von der gemäßigt-sozialistischen Sowjetführung eingetragen hatte, ließen sich seine Parteikollegen nur schwer davon überzeugen, statt der Übertragung der Macht an die Sowjets einen unabhängigen bewaffneten Aufstand vorzubereiten. Später war selbst Lenin derart beeindruckt von der Leichtigkeit, mit der die Bolschewiki, Menschewiki und Sozialrevolutionäre gemeinsam Kornilow besiegt hatten, dass er in einem Essay von Anfang September, »Über Kompromisse«, die Möglichkeit einräumte, dass die Revolution doch noch einen friedlichen Verlauf nehmen könnte, wenn die nationale Sowjetführung ohne weitere Verzögerung die Macht übernehmen würde.

Doch seine versöhnliche Stimmung war nicht von Dauer. Schon Mitte September bestand Lenin erneut auf der unabdingbaren Notwendigkeit eines bewaffneten Aufstands im Interesse der Revolution. Die starke Stellung der extremen Linken in Finnland, die neu gewonnene bolschewistische Mehrheit in den Sowjets von Petrograd und Moskau, der enorme soziale Aufruhr unter den landhungrigen Bauern, die zunehmende Auflösung der Armee an der Front und die immer eindringlicheren Forderungen der Soldaten nach Frieden, die Anzeichen revolutionärer Stimmungen in der deutschen Flotte und weitere Faktoren dieser Art bestärkten Lenin in der Hoffnung, die Machteroberung der Bolschewiki werde in den Städten auf so große Unterstützung stoßen, dass aus der Provinz und von der Front kein Widerstand mehr zu erwarten sei. Vor allem hoffte er, ein gewaltsamer Volksaufstand und die Errichtung einer wahrhaft revolutionären Regierung in Russland werde als unmittelbarer Auslöser siegreicher Massenaufstände in anderen europäischen Ländern wirken. Aus diesen und ähnlichen Gründen forderte Lenin am 12. und 14. September, gerade als die Demokratische Beratung zusammentrat, das Zentralkomitee in zwei flammenden Briefen auf, die Beratung zu verlassen und »ohne eine Minute zu verlieren« die Organisation eines bewaffneten Aufstands in Angriff zu nehmen. 3

Die Parteiführer in Petrograd waren wie vom Donner gerührt. Am 15. September, wenige Stunden nach Eingang der Briefe, trat das Zentralkomitee der Bolschewiki zu einer außerordentlichen Sitzung zusammen. An dieser Sitzung nahmen nicht nur die üblichen Vertreter der Parteiführung aus Petrograd teil, sondern auch mehrere andere Mitglieder des Zentralkomitees, die sich aus Anlass der Demokratischen Beratung vorübergehend in der Hauptstadt aufhielten. Sie alle reagierten recht zurückhaltend auf Lenins Appelle. Am meisten beschäftigte sie offenbar die Frage, wie ihr Inhalt geheim gehalten werden konnte. Unbeirrt von Lenins Briefen hielt die bolschewistische Führung gemeinsam mit den Linken Sozialrevolutionären und anderen linken Gruppen an ihrem Kurs fest, auf dem bevorstehenden nationalen Sowjetkongress eine rein sozialistische Regierung zu bilden. Gleichzeitig beschloss die Parteiführung mit mehrheitlicher Zustimmung der bolschewistischen Delegierten der Demokratischen Beratung, für den 17. Oktober, kurz vor dem Sowjetkongress, einen außerordentlichen Parteitag einzuberufen. 4

Dort sollte über die Taktik der Bolschewiki gegenüber dem Sowjetkongress und über die direkt damit verbundene Frage, welcher Art und Zusammensetzung die neue Regierung sein solle, entschieden werden.

Lenin war über diese Abfuhr hell empört. Zunächst von Finnland, und ab Ende September von seinem Versteck am nördlichen Stadtrand Petrograds aus kanzelte er seine Parteikollegen in beißendem Ton ab und forderte in immer schärferen Worten den sofortigen Sturz der Provisorischen Regierung. Auf einer historischen Sitzung des Zentralkomitees am 10. Oktober war Lenin persönlich anwesend, um seinen Standpunkt zu vertreten. Streitpunkt war die Abkehr von der Strategie der friedlichen Machtübergabe an die Mehrparteiensowjets, der die Partei ihren außerordentlichen Zugewinn an Einfluss und Ansehen bei den revolutionären Massen in erster Linie verdankte. Darüber hinaus galt es die Parteiführung irgendwie davon zu überzeugen, dass diese Entscheidung aufgrund der äußerst prekären Lage nicht auf den nur eine Woche entfernten Parteitag verschoben werden konnte, da sich dieser, wie aus diesbezüglichen Debatten zwischen den Parteien der Demokratischen Beratung hervorging, einer Machtübernahme vor dem Zweiten Gesamtrussischen Sowjetkongress energisch widersetzt hätte. Da nur zwölf von 21 Mitgliedern an der Sitzung des Zentralkomitees teilnahmen, waren die Leninisten in der Diskussion im Vorteil. Am Ende beugten sich zehn der zwölf Teilnehmer (alle bis auf Kamenew und Sinowjew) dem Standpunkt Lenins und erklärten sich damit einverstanden, die Machteroberung »auf die Tagesordnung« zu setzen und somit dem geplanten Parteikongress – der niemals stattfand – zuvorzukommen.

***

Obwohl nun grünes Licht für einen bewaffneten Aufstand erteilt worden war, wurden kaum praktische Vorbereitungen getroffen, um dieses Ziel in rund drei Wochen zu erreichen. Zum einen hielten die gemäßigten Parteiführer unter dem unermüdlichen Kamenew ihren heftigen Widerstand gegen Lenins Kurs aufrecht. Die große Achtung, die den Gemäßigten (Kamenew, Sinowjew, Rykow, Nogin, Rjasanow und anderen) 1917 als Sprechern der Bolschewiki entgegengebracht wurde, rührte zum Teil daher, dass ihre Ansichten mit denjenigen anderer linker sozialistischer Gruppen (mit denen sie in ständigem Kontakt standen) und mit den Hoffnungen der unteren Klassen übereinstimmten. Ein weiterer Faktor, welcher der Organisation eines sofortigen eigenmächtigen Aufstands entgegenwirkte, war die Opposition Trotzkis und anderer Zentralkomiteemitglieder sowie radikal gesinnter Parteiführer aus Petrograd, die zwar eine vorgezogene sozialistische Revolution in Russland befürworteten, aber Zweifel hegten, ob die Arbeiter und Soldaten dem von Lenin verlangten »sofortigen Bajonettangriff« folgen würden. Ungeachtet dieser Vorbehalte begannen Mitglieder der Bolschewiki in Petrograd auf die Entscheidung des Zentralkomitees vom 10. Oktober hin, die Möglichkeiten eines sofortigen bewaffneten Aufstands ernsthaft zu erkunden. Nach einigen Tagen sahen sich viele zu der Schlussfolgerung genötigt, dass die Partei organisatorisch nicht auf einen Aufstand vorbereitet war und die meisten Arbeiter, Soldaten und Matrosen einem entsprechenden Aufruf vor dem Sowjetkongress ohnehin nicht folgen dürften. Darüber hinaus, so mussten sie sich eingestehen, setzten sie durch einen Vorgriff auf die Entscheidungen des Sowjetkongresses die zukünftige Zusammenarbeit mit wichtigen Verbündeten wie den Linken Sozialrevolutionären und den Menschewiki-Internationalisten aufs Spiel. Auch in den Gewerkschaften, den Fabrikkomitees, im Petrograder Sowjet und in anderen Massenorganisationen drohte ihnen ein Verlust an Unterstützung. Das größte Risiko bestand allerdings darin, dass Truppen von der nahe gelegenen Nordfront Widerstand leisten würden.

Nach einigem Schwanken, das hauptsächlich durch Lenins Drängen auf kühnere direkte Aktionen bedingt war, verfolgte die bolschewistische Führung in Petrograd – Lenins und Kamenews Anhänger gemeinsam – eine Strategie, die von folgenden Prämissen ausging: Nicht Parteiorgane, sondern die Sowjets (die bei den Massen großes Ansehen genossen) sollten den Sturz der Provisorischen Regierung bewerkstelligen; jeder Angriff auf die Regierung sollte im Interesse einer möglichst breiten Unterstützung mit der Verteidigung der Sowjets begründbar sein; daher musste ein passender Vorwand für den Angriff abgewartet werden. Um jeglichem Widerstand zuvorzukommen und die Erfolgsaussichten zu steigern, sollte jede Möglichkeit genutzt werden, die Autorität der Provisorischen Regierung auf friedlichem Wege zu untergraben. Die offizielle Absetzung der Regierung sollte auf die Beschlüsse des Zweiten Gesamtrussischen Sowjetkongresses abgestimmt und von diesem legitimiert werden. Lenin hingegen hielt es für »vollendete Idiotie«, den Kongress abzuwarten. 5

Vor dem Hintergrund der bisherigen Entwicklung der Revolution und der Mehrheitsmeinung der führenden Bolschewiki im ganzen Land erscheint die gewählte Strategie jedoch als angemessene, realistische Antwort auf das bestehende Kräfteverhältnis und die allgemeine Stimmung in der Bevölkerung.

Vom 21. bis zum 24. Oktober widersetzten sich die bolschewistischen Führer hartnäckig der von Lenin verlangten sofortigen revolutionären Offensive und bereiteten stattdessen einen Entscheidungskampf gegen die Provisorische Regierung auf dem bevorstehenden Sowjetkongress vor. In der Parteipresse und auf riesigen öffentlichen Versammlungen griffen sie die Politik der Provisorischen Regierung an und festigten die Unterstützung der Bevölkerung für deren Absetzung durch den Sowjetkongress. Unter Berufung auf die öffentlich erklärte Absicht der Provisorischen Regierung, den größten Teil der Petrograder Garnison an die Front zu verlegen, rechtfertigte die bolschewistische Führung ihr Vorgehen überdies als Verteidigungsmaßnahme gegen die Konterrevolution. Mit Hilfe des bolschewistisch dominierten Militärischen Revolutionskomitees des Petrograder Sowjets, das am 9. Oktober gegründet worden war, um die von der Regierung angeordneten Truppenbewegungen zu überwachen, brachte sie die meisten Militäreinheiten in Petrograd unter ihr Kommando. Die Bolschewiki versorgten ihre Anhänger mit Waffen und Munition aus den wichtigsten Arsenalen der Stadt. Obwohl das Militärische Revolutionskomitee strikt im Rahmen von Verteidigungsmaßnahmen blieb und alles unterließ, was als Vorgriff auf die Entscheidungen des Kongresses ausgelegt werden konnte, wurde die Provisorische Regierung de facto entmachtet, ohne dass ein einziger Schuss gefallen wäre.

Am Morgen des 24. Oktober, einen Tag vor der geplanten Eröffnung des Zweiten Gesamtrussischen Sowjetkongresses, der sich mit Sicherheit mehrheitlich für die Bildung einer rein sozialistischen Sowjetregierung aussprechen würde, unternahm Kerenski daraufhin einen Versuch, die Linke in die Schranken zu weisen. Erneut ergingen Haftbefehle gegen die führenden Bolschewiki, die bereits nach dem Juli-Aufstand ins Gefängnis geworfen und zur Zeit des Kornilow-Zwischenfalls wieder freigelassen worden waren. Regierungstreue Kadetten aus der Militärschule und Stoßtrupps aus den Vorstädten wurden am Winterpalais, dem Sitz der Regierung, zusammengezogen. Das Zentralorgan der Bolschewiki wurde verboten. Es dauerte allerdings nicht lange, bis revolutionäre Truppen die Druckerei befreiten. Ebenso vereitelten sie das Vorhaben regierungstreuer Kadetten, die strategisch wichtigen Brücken über den Fluss Newa zu kontrollieren, und besetzten die wichtigsten Einrichtungen des Post-, Telegrafen- und Eisenbahnwesens. All dies geschah im Namen der Verteidigung. Erst auf direkte und persönliche Intervention Lenins im Smolny, dem Hauptquartier der Partei, begann der Sturz der Provisorischen Regierung, den er seit einem Monat gefordert hatte. Dies trug sich zu, noch bevor der Morgen des 25. Oktober anbrach. Von nun an ließ man jeden Anschein fallen, dass das Militärische Revolutionskomitee lediglich die Revolution verteidige und bemüht sei, die bestehenden Verhältnisse bis zu einer Willensbekundung des Kongresses aufrechtzuerhalten. Alles wurde nun offen daran gesetzt, den Delegierten den Sturz der Provisorischen Regierung noch vor Kongressbeginn als vollendete Tatsache zu präsentieren.

Am Morgen des 25. Oktober besetzten vom Militärischen Revolutionskomitee befehligte militärische Abteilungen alle strategisch wichtigen Brücken, Regierungsgebäude, Bahnhöfe und Kraftwerke sowie Post- und Telegrafenämter, die sich noch nicht in ihren Händen befanden. Außerdem belagerten sie das Winterpalais, das nur von wenigen, demoralisierten und stetig dahinschwindenden Truppen verteidigt wurde. Bevor sich der Ring schloss, gelang Kerenski auf der Suche nach Truppen die Flucht an die Front. Der »Sturm auf das Winterpalais«, der in Eisensteins Filmklassiker »Oktober« so eindrucksvoll dargestellt wird, war ein sowjetischer Mythos. Mit Einbruch der Dunkelheit wurde das historische Gebäude nach kurzem Kanonenbeschuss aus der Peter-Pauls-Festung mühelos eingenommen und die dort verbliebenen Regierungsmitglieder wurden verhaftet. Bereits Stunden zuvor war eine von Lenin verfasste Proklamation über den Sturz der Provisorischen Regierung ins ganze Land telegrafiert worden.

Rückblickend liegt auf der Hand, dass Lenin in erster Linie deshalb auf dem gewaltsamen Sturz der Provisorischen Regierung vor Eröffnung des Sowjetkongresses bestand, weil er ausschließen wollte, dass der Kongress eine sozialistische Koalitionsregierung einsetzen würde, in der die gemäßigten Sozialisten großen Einfluss hätten. Diese Strategie bewährte sich. Am Vorabend der Kongresseröffnung, noch vor Beginn der offenen Militäroperationen, die in der Einnahme des Winterpalais gipfelten, stand aufgrund der Parteizugehörigkeit der anreisenden Delegierten und ihrer Haltung zur Regierungsfrage praktisch fest, dass den Verfechtern einer demokratischen sozialistischen Mehrparteienregierung, deren Programm Frieden und grundlegende Reformen vorsah, Erfolg beschieden sein würde. 6

Dies gilt es zu berücksichtigen, um den Sturz der Provisorischen Regierung vor Eröffnung des Sowjetkongresses in seiner ganzen Bedeutung zu erfassen. Die enorme politische Wirkung dieses Vorgehens wurde deutlich, sobald der Zweite Gesamtrussische Sowjetkongress begann. Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre verweigerten aus Protest ihre Teilnahme am Präsidium. Kaum hatte das mehrheitlich von Bolschewiki besetzte Präsidium unter der Leitung Kamenews die von der »alten«, gemäßigt-sozialistischen Sowjetführung geräumten Plätze eingenommen und das Thema der Staatsmacht als ersten Tagesordnungspunkt angekündigt, da eilte schon Juli Martow als glühender Verfechter eines Regierungswechsel an das Rednerpult, um eine außerordentliche Erklärung zu verlesen. Unter dem bedrohlichen Donnern des nahen Kanonenfeuers, nach Atem ringend wegen der Tuberkulose, die ihn wenige Jahre später das Leben kosten sollte, beschwor Martow die Delegierten mit sich vor Aufregung überschlagender Stimme, den Straßenkämpfen ein Ende zu bereiten und sofort Verhandlungen zwischen allen sozialistischen Parteien in die Wege zu leiten, um eine für alle Seiten annehmbare »demokratische« Regierung zu bilden. 7

Da die Mehrheit der Kongressdelegierten – Menschewiki, Linke Sozialrevolutionäre, die meisten Bolschewiki und, obgleich zögernd, auch viele zentristische Menschewiki und Sozialrevolutionäre – eine Zusammenarbeit zwischen den Sozialisten sehnlich wünschten, wurde Martows Appell natürlich mit tosendem Beifall aufgenommen. Die Vertreter der Vereinigten Sozialdemokraten –Internationalisten 8

und der Linken Sozialrevolutionäre erhoben sich, um ihre Unterstützung zu bekunden. Auch Lunatscharski erhob sich als Vertreter der Bolschewiki. Aus Berichten über den Kongress geht hervor, dass Martows Vorschlag binnen kurzer Zeit einstimmig angenommen wurde. Einen Augenblick lang hatte es den Anschein, als ob der Kongress doch noch auf einen Weg zurückgebracht werden könnte, der zu einer Regierung aus allen sozialistischen Parteien führen würde. 9

Doch es kam anders. Bevor überhaupt daran zu denken war, den vom Kongress gebilligten Vorschlag Martows in die Tat umzusetzen, verurteilten mehrere Redner der Menschewiki und Sozialrevolutionäre die Bolschewiki als Usurpatoren und kündigten an, den Kongress zu verlassen, um gegen sie zu kämpfen. Der Geist der Zusammenarbeit, der am Vorabend des Kongresses ein breites Spektrum der Sozialisten beseelt hatte, verflüchtigte sich in grimmigen Wortgefechten, in deren Verlauf die meisten Menschewiki und Sozialrevolutionäre den Saal verließen, um sich an der Koordination des Widerstands gegen die bolschewistisch geführten Militäroperationen zu beteiligen. 10

Kurz darauf unternahm Martow einen letzten vergeblichen Versuch, die verbliebenen Delegierten zur Verwirklichung seines Vorschlags zu bewegen. Doch mittlerweile war die Stimmung auf dem Kongress derart aufgeheizt, dass seine Worte im Tumult untergingen. Hatte die Atmosphäre auf früheren Kongressen die gemäßigten Bolschewiki begünstigt, die eine Einigung mit allen sozialistischen Gruppen anstrebten, so war es nun genau umgekehrt. Diesen Umschwung machte sich Trotzki zunutze, um den Bruch mit den gemäßigten Sozialisten zu vertiefen. Wie der linke Menschewik und unübertroffene Chronist der Revolution Nikolas Suchanow schildert, rief Trotzki aus: »Der Aufstand der Volksmassen bedarf nicht der Rechtfertigung … Schert euch hin, wohin ihr von nun an gehört: auf den Kehrichthaufen der Geschichte!«, worauf Martow laut Suchanow zurückgab: »Dann gehen wir!« 11

Martow wegwinkend brachte Trotzki eine Resolution ein, die den Aufstand in den Straßen unterstützte und die Menschewiki und Sozialrevolutionäre als Lakaien der Bourgeoisie anklagte. 12

Viele Jahre später erinnerte sich der renommierte Historiker Boris Nikolajewski, der damals als Menschewik gemeinsam mit Martow den Saal verließ, dass Martow schweigend hinausging, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ein junger bolschewistischer Arbeiter in einem schwarzen, umgürteten Hemd wandte sich ihm zu und rief mit unverhüllter Trauer in der Stimme: »Wir rechneten untereinander schon damit, dass einige uns im Stich lassen würden, aber doch nicht Martow.« Bei diesen Worten hielt Martow inne. Er blieb kurz stehen, schüttelte in seiner typischen Art den Kopf und schien etwas antworten zu wollen. Doch dann überlegte er es sich anders und murmelte lediglich, als er hinaustrat: »Eines Tages werdet ihr verstehen, an welchem Verbrechen ihr euch beteiligt.« 13

Unterdessen zog sich die Eröffnungssitzung des Kongresses in die Länge, ständig unterbrochen von begeisterten revolutionären Siegesmeldungen. Im Namen der Linken Sozialrevolutionäre beschwor Boris Kamkow die Delegierten, Trotzkis Resolution nicht anzunehmen, da sie zu scharf formuliert sei. Seiner Ansicht nach konnte der Kampf gegen die Konterrevolution nur dann Erfolg haben, wenn er von den gemäßigten Vertretern der Demokratie und insbesondere der Bauernschaft, bei der die Bolschewiki wenig Einfluss besaßen, unterstützt wurde. »Im Interesse einer vereinten revolutionären Front ist eine möglichst breite demokratische Staatsmacht unverzichtbar«, erklärte Kamkow. 14

Etwa um drei Uhr morgens wurde bekannt gegeben, dass die vom Militärischen Revolutionskomitee geführten Truppen das Winterpalais eingenommen und die dort versammelten Minister der Provisorischen Regierung verhaftet hätten. Zu diesem Zeitpunkt kehrte Naum Kapelinski, ein Vertreter der Menschewiki-Internationalisten, in den Saal zurück und unternahm einen letzten vergeblichen Versuch, die Delegierten zu Bemühungen um eine friedliche Beilegung der Krise zu bewegen. Kamenew konnte nichts weiter tun, als die Abstimmung über die Resolution Trotzkis, dessen flammende Anklage gegen die Menschewiki und Sozialrevolutionäre den Kongress polarisierte, stillschweigend zu vertagen, um die Tür für eine zukünftige Zusammenarbeit offenzuhalten. Kurz darauf befasste sich der Kongress mit einem von Lenin verfassten Manifest, »An alle Arbeiter, Soldaten und Bauern«, das den Aufstand in Petrograd guthieß, den Übergang der politischen Macht in die Hände des Kongresses und der lokalen Sowjets in ganz Russland verkündete und die Ziele der Sowjetmacht bekanntgab: sofortiges Friedensangebot, vereinfachte Übertragung des Bodens an die Bauernschaft, Wahrung der Rechte der Soldaten, völlige Demokratisierung der Armee, Arbeiterkontrolle über die Industrie, baldige Einberufung der Konstituierenden Versammlung, Belieferung der Städte mit Getreide und des Landes mit Industriegütern sowie Gewährung des Selbstbestimmungsrechts für alle Nationen. Mit der Verabschiedung dieses Manifests endete am 26. Oktober um fünf Uhr morgens die historische erste Sitzung des Zweiten Gesamtrussischen Sowjetkongresses. Das Zeitalter der Sowjets in der Geschichte Russlands hatte begonnen.

***

Die Oktoberrevolution in Petrograd wird oft als brillant inszenierter Staatsstreich dargestellt, der ohne Unterstützung der Bevölkerung von einem verschworenen Trupp Berufsrevolutionäre unter der genialen Führung des Fanatikers Lenin durchgeführt und überdies von den Deutschen großzügig finanziert wurde. Diese Interpretation, von der »revisionistischen« Geschichtsschreibung der 1970er- und 1980er-Jahre in Frage gestellt, wurde nach der Auflösung der Sowjetunion zum Ende der Gorbatschow-Ära wieder aus der Versenkung geholt, obwohl die Fakten, die aus den soeben freigegebenen sowjetischen Archiven hervorgingen, die Erkenntnisse der Revisionisten bestätigten. Am anderen Ende des politischen Spektrums stellten die sowjetischen Historiker, die an einen strikten Kanon zur Rechtfertigung des sowjetischen Staats und seiner Führung gebunden waren, die Oktoberrevolution als einen breiten Volksaufstand der revolutionären russischen Massen dar. Dieser Lesart zufolge wurzelte der Aufstand in der historischen Entwicklung des russischen Zarenreichs und wurde in seinem Verlauf von den universalen Gesetzen der Geschichte bestimmt, die Karl Marx erstmals formuliert hatte und die Lenin anwandte.

In Wirklichkeit wird man der Oktoberrevolution in Petrograd weder durch den Begriff des Militärputschs noch durch denjenigen des Volksaufstands gerecht. Wie oben aufgezeigt, setzte sie sich in Wirklichkeit aus beiden Elementen zusammen. Ihre Wurzeln liegen in den Besonderheiten der politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung des vorrevolutionären Russlands und in dessen kriegsbedingten Erschütterungen. Man kann sie zum einen als Höhepunkt eines langen politischen Kampfs auffassen: Auf der einen Seite stand das ständig wachsende Spektrum linker sozialistischer Gruppen, unterstützt von der überwiegenden Mehrheit der Petrograder Arbeiter, Soldaten und Matrosen, die sich mit den Ergebnissen der Februarrevolution nicht zufriedengaben. Ihnen gegenüber befand sich das zunehmend isolierte Bündnis aus Liberalen und gemäßigten Sozialisten, das die Provisorische Regierung kontrollierte, sowie zwischen Februar und Oktober 1917 die nationalen Führungsgremien der Sowjets. Als am 25. Oktober der Zweite Gesamtrussische Sowjetkongress zusammentrat, stand der relativ friedliche Sieg des erstgenannten Lagers so gut wie fest. Man kann die Oktoberrevolution aber auch als eine Auseinandersetzung auffassen, die zunächst vorwiegend innerhalb der bolschewistischen Führung ausgetragen wurde: Auf der einen Seite standen die Befürworter einer ausschließlich aus Sozialisten gebildeten Mehrparteienregierung, die Russland eine von den Sozialisten dominierte Konstituierende Versammlung verschaffen sollte, und auf der andere Seite die Leninisten, in deren Augen die gewaltsame revolutionäre Aktion das geeignetste Mittel darstellte, Russland auf einen ultra-radikalen, unabhängigen revolutionären Weg zu führen, der im Ausland bahnbrechende sozialistische Revolutionen auslösen sollte.

Dieser Konflikt, der 1917 immer wieder auf- und abflammte, brach im Vorfeld der Oktoberrevolution und unmittelbar danach mit besonderer Heftigkeit aus. Der von den Bolschewiki organisierte Sturz der Provisorischen Regierung vor dem Zweiten Gesamtrussischen Sowjetkongress, der Auszug der Menschewiki und Sozialrevolutionäre und, wie noch aufzuzeigen ist, die kompromisslose Haltung der Bolschewiki in den Verhandlungen über die Bildung einer breiten sozialistischen Koalitionsregierung nach dem Kongress (die mit ihren ersten militärischen Siegen über regierungstreue Truppen zusammenfiel) verurteilten die Bemühungen der gemäßigten Bolschewiki um die Teilung der Staatsmacht zum Scheitern und trugen dazu bei, dass sich am Ende das autoritäre Regierungssystem sowjetischer Prägung durchsetzte. Alles hing davon ab, ob Lenins Wette auf die internationale Revolution aufging. Der Ausgang der Ereignisse sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Oktoberrevolution in Petrograd in hohem Maße ein authentischer Ausdruck der allgemeinen Enttäuschung über die Ergebnisse der Februarrevolution und der Hoffnungen des Volks auf eine bessere, gerechtere Zukunft war.

1

. Die Linken Sozialrevolutionäre, der wichtigste radikale Flügel dieser Partei, wandte sich gegen den Krieg und gegen eine Koalition mit den Liberalen. Die Linken Sozialrevolutionäre forderten eine ausschließlich aus den sozialistischen Parteien gebildete Regierung unter Vorherrschaft der Sowjets. Eine analoge Gruppe bildeten in der Menschewistischen Partei die Menschewiki-Internationalisten unter der Führung von Juli Martow. Martow und seine Anhänger verlangten einen sofortigen Frieden ohne Annexionen und Kontributionen. Im Frühjahr 1917 wandten sie sich gegen eine Beteiligung der Sozialisten an der Provisorischen Regierung, und von Mitte des Sommers an sprachen sie sich für eine rein sozialistische Regierung aus. Sowohl die Linken Sozialrevolutionäre als auch die Menschewiki-Internationalisten hatten in den Petrograder Verbänden ihrer jeweiligen Parteien besonders großen Einfluss.

2

. RGASPI, f. 60, op. 1, d. 26, l. 4, 4 ob.

3

. V. I. Lenin, Polnoe sobranie sočinenij, 5. Auflage, Bd. 34. Moskau, 1962, S. 239–247. Werke Bd. 26, Berlin 1970, S. 4.

4

. RGASPI, f. 17, op. 1, d. 81, l. 1. Institut marksizma-leninizma pri CK KPSS, Perepiska sekretariata CK RSDRP (b)-RKP (b) s mestnymi partijnymi organizacijami, Bd. 1. Moskau, 1957, S. 52–53.

5

. Lenin, Polnoe sobranie sočinenij, Bd. 34, S. 281. Werke Bd. 26, Berlin, 1970, S. 65.

6

. Einem vorläufigen Bericht des Akkreditierungsausschusses zufolge waren von den 670 Delegierten 300 Bolschewiki, 193 Sozialrevolutionäre (davon mehr als die Hälfte Linke Sozialrevolutionäre), 68 Menschewiki, 16 Vereinigte Sozialdemokraten – Internationalisten, 14 Menschewiki-Internationalisten, und die übrigen gehörten entweder einer der kleineren oder gar keiner politischen Organisation an. Die überwiegende Mehrheit der Delegierten, etwa 550, unterstützten uneingeschränkt die Forderung »Alle Macht den Sowjets«, d. h. die Bildung einer Sowjetregierung, die den Mehrheitsverhältnissen auf dem Kongress entsprach (M. N. Pokrovskij/Ja. A. Jakovleva (Hrsg.), Vtoroj Vserossijskij s-ezd Sovetov R. i S. D. Moskau-Leningrad, 1928, S. 144–153).

7

. ebd., S. 4 und S. 34.

8

. Die Vereinigten Sozialdemokraten – Internationalisten wurden Mitte Oktober 1917 von linken Menschewiki gegründet, die mit der Tageszeitung Neues Leben Maxim Gorkis verbunden waren.

9

. Pokrovskij/Jakovleva, Vtoroj Vserossijskij s-ezd Sovetov, S. 4, 35.

10

. ebd., S. 4–7, 35–38.

11

. N. N. Suchanov, Zapiski o revoljucii, Bd. 3, Moskau, 1992, S. 307.

12

. Pokrovskij/Jakovleva, Vtoroj Vserossijskij s-ezd Sovetov, S. 7–8, 42–44.

13

. B. I. Nikolaevskij, Stranicy prošlogo: K 80-letiju L. O. Cederbaum-Dan, in: Socialističeskij vestnik, 1958, Nr. 7/8, S 150.

14

. Pokrovskij/Jakovleva, Vtoroj Vserossijskij s-ezd Sovetov, S. 8–9, 45.

Teil I: Die Niederlage der Gemäßigten

1. Die Regierungsbildung

Der schwere Rückschlag, den die gemäßigten Bolschewiki auf der Eröffnungssitzung des Zweiten Gesamtrussischen Sowjetkongresses hinnehmen mussten, hinderte weder sie noch andere linke sozialistische Gruppen daran, sich auf dem Kongress und im unmittelbaren Anschluss daran weiterhin um die Bildung einer ausschließlich aus Sozialisten bestehenden Mehrparteienregierung zu bemühen. Sie wollten die Bewegung für eine breite sozialistische Koalition wiederbeleben, die unmittelbar vor der Eröffnung des Sowjetkongresses durch den von Lenin bewerkstelligten Sturz der Provisorischen Regierung zerstört worden war. Als dies misslang, versuchten sie mit aller Kraft durchzusetzen, dass der Rat der Volkskommissare (Sownarkom) – das vom Kongress schließlich gebilligte, ausschließlich aus Bolschewiki bestehende Kabinett – dem Zentralen Exekutivkomitee (ZEK) untergeordnet würde.

***

Als die chaotische Eröffnungssitzung des Kongresses in den frühen Morgenstunden des 26. Oktober geschlossen wurde, hatte sie die Übertragung der Macht an die Sowjets bestätigt, aber noch keine neue Regierung eingesetzt. De facto gab es zu diesem Zeitpunkt keine gesamtrussische Regierung.

Auf seiner letzten Sitzung vor dem Sturz der Provisorischen Regierung am 24. Oktober hatte das bolschewistische Zentralkomitee Kamenew und Jan Bersin beauftragt, mit den Linken Sozialrevolutionären über deren Beteiligung an einer Sowjetregierung zu verhandeln. 1

Am nächsten Tag erkundeten sie die Haltung führender Linker Sozialrevolutionäre zu einer Koalitionsregierung mit den Bolschewiki. 2

Die Frage, ob man den Kongress verlassen oder der neuen Regierung beitreten solle, war am 26. Oktober Hauptthema auf den Fraktionssitzungen der Linken Sozialrevolutionäre.

Die Mitglieder dieser Fraktion standen den Bolschewiki, mit denen sie seit Wochen eng zusammenarbeiteten, zwar freundschaftlich gegenüber, hielten aber an der Grundüberzeugung fest, dass nur eine breit basierte Koalitionsregierung, an der sämtliche Sowjetparteien entsprechend ihrer Delegiertenzahl auf dem Kongress beteiligt sein müssten, das Überleben der Revolution sichern könne. Um dies zu erreichen, wollten sie zwar die enge Verbindung zu den Bolschewiki und den revolutionären Massen beibehalten, aber keine gemeinsame Regierung mit ihnen bilden. 3

Auf einer Zusammenkunft mit Mitgliedern des bolschewistischen Zentralkomitees am frühen Abend des 26. Oktober lehnten führende Linke Sozialrevolutionäre die Übernahme von Regierungsposten ab, solange keine breite sozialistische Koalition geschaffen werde. 4

Nachdem die Bemühungen um eine Beteiligung der Linken Sozialrevolutionäre an der Regierung gescheitert waren, eröffnete Kamenew am 26. Oktober um 21 Uhr die zweite Sitzung des Sowjetkongresses. Unter zustimmenden Rufen gab er folgende Anordnungen bekannt, die das Präsidium gemäß den Beschlüssen des Kongresses getroffen hatte: Abschaffung der Todesstrafe an der Front, Freilassung der für politische Vergehen inhaftierten Soldaten, Freilassung der von der früheren Regierung inhaftierten Mitglieder der Land- und Bauernkomitees und die Verhaftung Kerenskis. Per Akklamation verabschiedete der Kongress hastig formulierte Dekrete, mit denen diese Maßnahmen gutgeheißen wurden. 5

Der erste Tagesordnungspunkt dieses Abends war die Regierungsfrage. Sie ließ sich nicht ohne Weiteres lösen, weil die Linken Sozialrevolutionäre nicht bereit waren, allein mit den Bolschewiki eine Koalitionsregierung zu bilden. Also wurde die Tagesordnung umgestellt, um vor der Debatte über die Zusammensetzung der Sowjetregierung zunächst ihr Programm zu beschließen. Lenin trat ans Rednerpult, um »den Völkern und Regierungen aller Krieg führenden Länder« Friedensverhandlungen anzubieten. Es war sein erster Auftritt auf dem Kongress, und alle Quellen berichten übereinstimmend, dass er mit tosendem Applaus empfangen wurde. In seiner immer wieder von Beifall unterbrochenen Rede versprach er das Ende der Geheimdiplomatie und bot einen sofortigen Waffenstillstand sowie Verhandlungen über einen gerechten und demokratischen Frieden ohne Annexionen und Kontributionen an. Außerdem sicherte er allen unterworfenen Völkerschaften der Welt das Recht auf Selbstbestimmung zu, unabhängig davon, wann sie gewaltsam an einen größeren Staat angegliedert worden waren. 6

Trotzki, der als Nächster ans Rednerpult trat, sprach offen aus, dass sich diese Erklärung in erster Linie an die revolutionären Massen auf der ganzen Welt richtete. »Wir glauben selbstverständlich nicht, die imperialistischen Regierungen mit unseren Aufrufen beeinflussen zu können; aber solange es sie gibt, können wir sie nicht übergehen«, sagte er. »Doch wir setzen all unsere Hoffnungen darauf, dass unsere Revolution die europäische Revolution entfesselt. Wenn die aufständischen Völker Europas den Imperialismus nicht erwürgen, dann werden wir erwürgt werden.« 7

In der Friedensdeklaration und der anschließenden Diskussion legte Lenin Wert darauf, die Legitimität der Sowjetregierung mit der »Revolution vom 24.–25. Oktober« und nicht mit dem Sowjetkongress zu begründen. Dies sollte zu einem seiner Schlüsselthemen werden. Der Mythos des bewaffneten Oktober­aufstands wurde für die Bolschewiki identitätsstiftend. Wie bei allen Erlassen des Sowjetkongresses betonte Lenin, die Friedensdeklaration sei bis zu ihrer Bestätigung durch die Konstituierende Versammlung als »provisorisch« zu betrachten. Dennoch wurden fortan alle politischen Gruppen und Institutionen, einschließlich der Konstituierenden Versammlung, an ihrer Unterstützung für dieses Programm gemessen. Alle Aussagen der Friedensdeklaration gehörten seit Jahren zum Standardinventar der extremen Linken. Es überrascht daher nicht, dass sie ohne Gegenstimme verabschiedet wurde. Die Delegierten erhoben sich erneut, um Lenin zu applaudieren, und sangen die Internationale, die Hymne der sozialistischen Weltbewegung, bevor sie zum nächsten Tagesordnungspunkt übergingen. 8

Als Nächstes stellte Lenin das Dekret über die Bodenreform vor. Das Privateigentum an Grund und Boden wurde damit aufgehoben und alle privaten und kirchlichen Ländereien an die Landkomitees und die Sowjets der Bauerndeputierten übertragen, die sie bedarfsgerecht an die einzelnen Bauern verteilen sollten. Im Widerspruch zu langjährigen Prämissen der Bolschewiki, deren Programm die Überführung des Bodens in Gemeineigentum vorgesehen hatte, entsprach dieses Dekret dem populären Bodenreformprogramm der Sozialrevolutionäre. Nachdem mehrere Delegierte auf diese Tatsache hingewiesen hatten, erwiderte Lenin: »Sei’s drum … Als demokratische Regierung können wir die Wünsche der Massen nicht übergehen, selbst wenn wir mit ihnen nicht einverstanden sind.« Nach einer Pause, in der die Linken Sozialrevolutionäre das Dekret geprüft hatten, wurde es ohne weitere Aussprache mit überwältigender Mehrheit angenommen. 9

Erst kurz vor 2:30 Uhr in der Nacht zum 27. Oktober wandte sich der Kongress endlich der Frage zu, wie die neue nationale Regierung aufgebaut und zusammengesetzt werden sollte. Die Aufgabe, Lenins Position zu begründen, fiel Kamenew zu, der die Opposition gegen die einseitige Machteroberung der Bolschewiki angeführt hatte und aus theoretischen und praktischen Erwägungen weiterhin die Bildung einer breiten sozialistischen Koalition befürwortete. 10

Lenins Position schlug sich in einem knappen Dekret nieder, dem die Zusammensetzung einer neuen, »vorläufigen«, rein bolschewistischen Regierung beigefügt war. Demnach sollte die vom Kongress gebildete Arbeiter- und Bauernregierung, der Sownarkom, nur bis zur Einberufung der Konstituierenden Versammlung im Amt bleiben. Jede Abteilung, bzw. jedes »Volkskommissariat« dieser Regierung sollte von einer eigenen Kommission geleitet werden. Die Vorsitzenden dieser Kommissionen bildeten zusammen mit dem Vorsitzenden der Regierung den Rat der Volkskommissare (Sownarkom). Dieser wurde beauftragt, in enger Zusammenarbeit mit den Massenorganisationen das Programm des Sowjetkongresses durchzuführen. Das vom Kongress neu zu wählende Exekutivkomitee erhielt das Recht, die Tätigkeit der Volkskommissare zu kontrollieren und sie abzusetzen. Abschließend trug Kamenew die Liste der vorgeschlagenen Volkskommissare vor, die ausschließlich aus Bolschewiki bestand. Als Vorsitzender des Sownarkom war Lenin, als Volkskommissar für Auswärtiges Trotzki vorgesehen. Auffällig war das Fehlen Sinowjews, einst einer der engsten Mitstreiter Lenins. 11

Im Anschluss an Kamenews Ausführungen meldete sich Boris Awilow zu Wort. Er sprach für die Vereinigten Sozialdemokratischen Internationalisten und einige versprengte Menschewiki-Internationalisten, die den Kongress noch nicht verlassen hatten. Awilow erhob geradezu prophetische Einwände gegen die sofortige Bildung einer rein bolschewistischen Regierung, die von zahlreichen bolschewistischen Delegierten, einschließlich etwa des halben vorgeschlagenen Kabinetts, geteilt wurden. Er äußerte erhebliche Zweifel, ob eine rein bolschewistische Regierung in der Lage sein werde, die Lebensmittelknappheit zu lindern. Auch den Frieden könne sie nicht herbeiführen, da sie von den Alliierten nicht anerkannt würde und die Arbeiter und Bauern Europas noch weit von einem entscheidenden Aufstand entfernt seien. Daher gebe es nur zwei Möglichkeiten: Entweder die Mittelmächte und die Entente würden auf Kosten Russlands Frieden schließen, oder Russland würde zu einem

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