China und die Neuordnung der Welt
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Über dieses E-Book
Ihre profunde Kenntnis Chinas verbindet die Autorin mit einer scharfsichtigen Analyse der Haltung Pekings im russischen Krieg gegen die Ukraine und des strategischen Dreiecks im – eben nicht nur bipolaren – Kalten Krieg. Heute, da sich die Welt neu ordnet, kann und muss Europa auch gegenüber China eine aktive Rolle einnehmen.
Dieses Buch füllt eine wichtige Lücke, um die Interessen der Volksrepublik und die Perspektiven Europas zu erkennen. Denn: Man kann die Welt nicht ohne China denken!
Susanne Weigelin-Schwiedrzik
Susanne Weigelin-Schwiedrzik studierte Sinologie, Politikwissenschaft, Japanologie und chinesische Sprache in Bonn, Peking und Bochum. Von 1989 bis 2002 war sie Universitätsprofessorin für Moderne Sinologie in Heidelberg, von 2002 bis 2020 Professorin für Sinologie an der Universität Wien. Schon 1975 reiste Weigelin-Schwiedrzik nach China, studierte in Peking an der Fakultät für Philosophie und erlebte politische Meilensteine wie das Ende der Kulturrevolution persönlich mit. Das moderne China bildet den Schwerpunkt ihrer Forschung. Ihre jahrzehntelange Auseinandersetzung mit dem Land macht sie zu einer Koryphäe der Chinawissenschaft; als Expertin für internationale Beziehungen unter Einbezug Chinas ist sie gefragte Ansprechpartnerin der Medien.
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Buchvorschau
China und die Neuordnung der Welt - Susanne Weigelin-Schwiedrzik
1
Wie China zum Krieg in der Ukraine steht
Am 24. Februar 2022, dem Tag, an dem russische Truppen in der Ukraine einmarschierten, saß ich abends in einer Talkshow, die, wie nicht anders zu erwarten, unter dem Eindruck der dramatischen und für viele unerwarteten Ereignisse stand. Von einem Tag auf den anderen waren wir alle mit einem heißen Krieg in der Mitte Europas konfrontiert, und von einem Tag auf den anderen reagierte die Öffentlichkeit in Europa auf diese neue Lage, indem sie der Logik des Krieges freien Lauf ließ. So auch in dieser Talkshow, zu der ich geladen war, um Auskunft über die Reaktion der Volksrepublik China (VR China) auf die Ereignisse zu geben. Ich tat dies und brachte damit unversehens eine Perspektive auf die Dinge ein, die in der Runde zunächst auf Unverständnis, später auf Beachtung stieß: Das chinesische Außenministerium hatte in seiner Reaktion auf den Kriegsausbruch sowohl Verständnis für die Sicherheitsinteressen Russlands (ohne Russland zu nennen) signalisiert als auch die Notwendigkeit betont, die territoriale Integrität und Souveränität eines jeden Landes zu respektieren (ohne die Ukraine zu nennen). China positionierte sich an diesem ersten Tag des Krieges gegen die Ukraine nicht auf der Seite des »Westens«, aber auch nicht auf der Seite Russlands. Weil es sich aber nicht eindeutig auf die Seite des »Westens« stellte, wurde es von den USA von Beginn des Krieges an kritisiert, es unterstütze heimlich Russland und stünde eindeutig auf dessen Seite.
Am Ende der Talkshow wurde ich von dem Moderator gefragt, wie man sich ein Ende des Krieges vorstellen könnte. Inzwischen hatte die Runde sich etwas von der Kriegslogik abgewandt und intensiv darüber gesprochen, welche Folgen der Krieg für Europa heraufbeschwört. Ich antwortete damals, dass ich mir vorstellen könnte, die Herstellung eines Waffenstillstands oder gar Friedens könne ohne ein Zutun Chinas kaum bewerkstelligt werden. Die Reaktion des Moderators: Das wäre ein so kompliziertes Szenario, dass wir uns das überhaupt nicht vorstellen können.
Kann China als Moderator im Ukraine-Konflikt fungieren?
Ein Jahr später, am 24. Februar 2023, legte China ein im »Westen« allenthalben als »Friedensplan« bezeichnetes Positionspapier vor, das die Regierungen in den USA und Europa einigermaßen irritiert hat. Die Reaktion der Medien offenbarte allerdings weniger Beunruhigung als die gewohnte Überheblichkeit: China habe in dieser Frage nichts mitzuteilen und verschleiere nur seine Unterstützung Russlands. US-Außenminister Blinken hatte die Initiative zuvor dadurch abqualifiziert, dass er auf der wenige Tage vor deren Veröffentlichung stattfindenden Münchner Sicherheitskonferenz die Weltöffentlichkeit informierte, man habe Hinweise darauf, dass China Waffenlieferungen an Russland erwäge. Dabei hatte die VR China immer wieder betont und durch ihr Abstimmungsverhalten in der UNO unter Beweis gestellt, dass sie eine »mittlere« Position in diesem Konflikt einnehmen möchte. China ist in diesem Konflikt nicht neutral, so könnte man die Äußerungen des chinesischen Außenministeriums deuten, denn es folgt ja der russischen Argumentation, wonach der Krieg durch das drohende Vorrücken der NATO an die russische Grenze provoziert worden sei. Aber es nimmt eine »mittlere« Haltung ein, insofern es in beiden Kriegsparteien Partner sieht, mit denen es vor dem Krieg und im Zuge der Beendigung des Krieges weiterhin zusammenarbeiten möchte. Zugleich beschreibt China seine »mittlere« Position unter Bezug auf die Haltung vieler Länder zur Frage der Sanktionen gegen Russland.
China ist aber vielleicht das einzige Land der Welt, das groß und einflussreich genug ist, um auf alle in diesem neuen Kalten Krieg verstrickten Akteure einwirken zu können.
Auch wenn die Abstimmungen in der UNO deutlich machen, dass die Mehrheit der Mitgliedsstaaten eindeutig für eine Ablehnung des russischen Vorgehens gegen die Ukraine eintritt, zeigt sich doch, dass die Mehrheit der UNO-Mitgliedsstaaten nicht an dem unter Führung der USA etablierten Sanktionsregime gegenüber Russland teilnimmt. China ist also nicht das einzige Land der Welt, das sich weder dem einen noch dem anderen Block im neuen Kalten Krieg zuordnen möchte. China ist aber vielleicht das einzige Land der Welt, das groß und einflussreich genug ist, um auf alle in diesen Krieg verstrickten Akteure einwirken zu können, das Denken und Handeln im Sinne der Kriegslogik durch eine aktive Suche nach Möglichkeiten zur Beendigung des Krieges zu ersetzen. Dass China eine »mittlere« Position einnehmen will, hat ein Ziel: In ihrem ureigenen Interesse möchte die Volksrepublik, dass der Krieg in der Ukraine so schnell wie möglich beendet wird. Und in diesem Sinne bietet sie sich als Moderator an.
Dabei gibt es ein interessantes historisches Beispiel, das zeigt, wie derartig unwahrscheinlich wirkende Lösungen Realität werden können. Im Russisch-Japanischen Krieg von 1904 bis 1905 kam es zu einem Zermürbungskrieg, wie wir ihn derzeit auch in der Ukraine beobachten können. Die japanische Seite hatte zwar Russland mehrfach empfindlich geschlagen und in der Schlacht von Tsushima die gesamte Baltische Flotte des Zarenreichs zerstört. Doch konnte sich Japan nicht als eindeutiger Sieger des Krieges positionieren. Japan erkannte, dass dem Land die ökonomischen und personellen Ressourcen für eine Fortführung des Krieges bis zum eindeutigen Sieg gegen das russische Zarenreich fehlten. In dieser Situation bat die japanische Regierung den amerikanischen Präsidenten Theodore Roosevelt, sich für eine baldige Beendigung des Krieges einzusetzen. Dieser willigte ein und empfahl Japan, Teile der zu Russland gehörenden Insel Sachalin zu besetzen, um Russland an den Verhandlungstisch zwingen und Verhandlungsmasse in die späteren Gespräche einbringen zu können. Der von Japan gebetene Moderator erwies sich als geschickter Taktiker: Am 8. Juli 1905 besetzten japanische Truppen die Insel, und Zar Nikolaus II. gab am 11. Juli seine Einwilligung zu Friedensgesprächen.
Wie von japanischer Seite erwünscht, übernahmen die USA die Rolle des Mediators in den Friedensverhandlungen. Dabei sollte Sachalin eine ausschlaggebende Rolle spielen. Der kriegsentscheidende Vorschlag Roosevelts, damals natürlich nicht der Öffentlichkeit bekannt, stärkte die Moderatorenfunktion der USA, auch wenn er eigentlich eine einseitige Bevorzugung Japans beinhaltete und deshalb der Vermittlungsposition hätte im Wege stehen können. Noch wichtiger aber war, dass durch die Besetzung des vormals vom Krieg unberührten russischen Territoriums Russland psychologisch dazu gedrängt wurde, die eigene Niederlage als gravierender zu betrachten, als sie objektiv war. Die Japaner wiederum konnten durch die Besetzung der Insel Sachalin die eigene Bevölkerung davon überzeugen, dass der blutige und kostspielige Krieg einen Sieg erbracht hatte. Damit gewann die Verhandlungsdelegation Spielraum und entledigte sich zumindest ein Stück weit des durch eine angeheizte nationalistische Stimmung in Japan entstandenen Drucks. Schließlich führte die Besetzung der Insel Sachalin dazu, dass der Krieg beendet werden konnte. Ausschlaggebend dafür war Russlands Vorschlag, die Insel zu teilen, sodass sowohl Japan als auch Russland jeweils einen Teil der Insel ihr Eigen nennen konnten. Als Japan, das ursprünglich gar nicht auf Sachalin spekuliert hatte, diesem Angebot zustimmte, wendete sich das Blatt zu seinen Gunsten. Am Verhandlungstisch in Portsmouth gelang Japan, was es militärisch nicht hatte erreichen können. Es setzte seine Machtansprüche in Ostasien weitestgehend durch. Der am 5. September 1905 unterschriebene Vertrag von Portsmouth wurde in Japan als Sieg über Russland gefeiert.
Auch die USA profitierten von ihrer Intervention als Moderator. Sie konnten sich international als Friedensvermittler positionieren und bereiteten damit ihr verstärktes Engagement als aufstrebende Weltmacht in Ostasien vor. Als unbeteiligter Akteur konnten sie die Situation im eigenen Interesse nutzen und zugleich ihre Beziehungen zu Japan verstärken, mit dessen Zustimmung sich die USA in den Wettbewerb um Einfluss in Ostasien einbringen konnten. Wenige Jahre später, am Ende des Ersten Weltkrieges, spielten die USA bereits eine führende Rolle auf der Konferenz von Versailles.
Der Russisch-Japanische Krieg ist weitgehend in Vergessenheit geraten, und doch enthält er vieles, das uns heute zu denken geben sollte. Ich selbst hatte diese Ereignisse im Hinterkopf, als ich bei der eingangs erwähnten Talkshow die Meinung äußerte, dass China eines Tages eine wichtige Rolle bei der Beendigung des Krieges in der Ukraine spielen könnte. China verfolgt durch seine »mittlere« Position das Ziel, sich selbst als »verantwortungsvolle Großmacht« in das Geschehen einzubringen und sich im System der internationalen Beziehungen mit einem Führungsanspruch zu positionieren. Wie die USA im Russisch-Japanischen Krieg ist China zunächst ein außerhalb der Region angesiedelter, unbeteiligter Akteur. Doch erkannten die USA die Chance, ihr weltweites Prestige durch eine erfolgreiche diplomatische Intervention erheblich erhöhen zu können. In einer ähnlichen Lage befindet sich China heute. Im Gegensatz zur Konstellation im Russisch-Japanischen Krieg zielt Chinas Taktik jedoch auf die Festigung einer dritten Position als Gegengewicht zur derzeit im Vordergrund stehenden Blockbildung. Damals drohten beide Seiten im Zermürbungskrieg unterzugehen. Obwohl Japan Russland militärisch überlegen war, gelang es ihm nicht, Russland zu besiegen; und obwohl Russland damals wie heute über die größeren Reserven verfügte, konnte es nicht lang genug durchhalten, um einen entscheidenden Sieg zu erringen. Japan drohte der ökonomische Zusammenbruch und eine gravierende innenpolitische Krise. Deshalb wollte es den Krieg beenden, obwohl es militärisch der Weltöffentlichkeit vor Augen führte, dass es in der Lage war, die mächtige russische Flotte zu zerstören.
Historische Kriegserfahrungen sind das Einzige, auf das wir zurückgreifen können, wenn wir zu verstehen versuchen, wie sich der Krieg in der Ukraine entwickeln könnte. Dabei steht in Europa die Erfahrung des Zweiten Weltkrieges im Vordergrund. Sowohl Russland als auch die USA und mit ihnen EU-Europa setzen ihre jeweilige Erzählung über den Krieg ein, um der Öffentlichkeit die Legitimität ihrer Vorgangsweise zu vermitteln. Die Teilung Europas zeigt sich dabei auch in dem Sinne, als dass die Zeitspanne seit dem Ende des Kalten Krieges nicht dafür genutzt wurde, eine gemeinsame Sicht auf die Geschichte des Zweiten Weltkrieges zu entwickeln. Dabei geht es nicht darum, sich darüber zu einigen, gegen wen der Zweite Weltkrieg geführt wurde, sondern darum zu erkennen, welches Land welchen Beitrag zur Niederringung Nazi-Deutschlands und Japans geleistet hat. Westeuropa folgt der Erzählung, dass die USA und die westlichen Alliierten, allen voran Großbritannien, den Hauptbeitrag geleistet haben; in Russland beinhaltet die Erzählung vom Großen Vaterländischen Krieg, dass Russland die größten Opfer im Kampf gegen den sogenannten Hitler-Faschismus erbracht und damit für den Frieden in Europa einen entscheidenden Beitrag geleistet hat. Die Anerkennung der Bedeutung der Sowjetunion für den