Gab es eine Alternative zum Stalinismus?: Artikel und Reden
Von Wadim S Rogowin
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Über dieses E-Book
Aus dem Inhalt:
Warum es in Rußland keine starken, linken gesellschaftlichen und politischen Bewegungen gibt
Wolkogonows Trotzki
Gab es eine Alternative zum Stalinismus?
Gab es in der Sowjetunion eine Alternative zum Stalinismus?
Ursachen und Folgen von Stalins großem Terror
Leo Trotzki und das Schicksal des Marxismus in der UdSSR
Wadim S. Rogowin ist Professor der Philosophischen Wissenschaften am Institut für Soziologie der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau.
Er ist Autor von mehr als 250 wissenschaftlichen Studien und arbeitet zur Zeit an einer sechsbändigen Geschichte der Opposition gegen den Stalinismus, die im Mehring Verlag in deutscher Sprache erscheint:
In russischer Sprache sind folgende Bände bereits erschienen:
I. Trotzkismus (1922- 1927)
II. Sralins Kriegskommunismus (1928-1933)
III. Stalins NeoNEP (1934-1936)
IV. 1937
V. Die Partei der Hingerichteten
VI. Weltrevolution und Weltkrieg
Pressestimmen
Einen besonderen Platz unter den obengenannten Ausgaben nimmt das Buch von V.Z. Rogovin ein. Die Kernfrage, die der Autor zu beantworten versucht, zielt auf die Hauptursachen für den Stalinschen Terror. Der Autor stützt sich dabei auf kürzlich noch unzugängliche Dokumente, auf Berichte von Augenzeugen und Betroffenen der tragischen Ereignisse jener Jahre, widerlegt Meinungen dazu sowohl von Stalinisten wie auch von heutigen "Demokraten". Indem Rogovin die heute publizistisch weit verbreiteten stereotypen Vorstellungen von der "monolithischen Geschlossenheit" der Partei in den dreißiger Jahren, von der Übereinstimmung der Ideen des Stalinismus und des Bolschewismus widerlegt, beweist er, daß die "große Säuberung" Mitte der dreißiger Jahre eine Reaktion auf das Anwachsen der oppositionellen Kräfte innerhalb des Landes als auch innerhalb der internationalen kommunistischen Bewegung während Stalins "Neo-NEP" zwischen 1934 und 1936 war.
Osteuropa, August 1996
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Buchvorschau
Gab es eine Alternative zum Stalinismus? - Wadim S Rogowin
Vorwort
Der Historiker Wadim S. Rogowin ist eine Ausnahmeerscheinung in der russischen Intelligenz. Er war während seiner gesamten akademischen Laufbahn ein linker Gegner des Stalinismus und ist bis heute überzeugter Sozialist. Dieses Buch gibt eine Einführung in sein Werk.
Den ersten Essay, »Gab es eine Alternative zum Stalinismus?«, verfasste er als Vorwort zu einer sechsbändigen Geschichte des Widerstands gegen den Stalinismus in der Sowjetunion, von der inzwischen vier Bände im Druck erschienen sind. Es folgen drei Vorlesungen zum selben Themenkreis, die er 1995 und 1996 an Universitäten in den USA, Großbritannien und Australien hielt. Er hat diese Länder auf Einladung des Internationalen Komitees der Vierten Internationale besucht und seine öffentlichen Vorträge sind auf immenses Interesse gestoßen. Weiter enthält dieser Band eine Besprechung der verleumderischen Trotzki-Biographie von Dimitri Wolkogonow, die auch ins Deutsche übersetzt worden ist. Den Abschluss bildet eine Studie der sozialen und politischen Hintergründe der Perestroika, die 1992 unter dem Titel »Warum es in Russland keine starken linken gesellschaftlichen und politischen Bewegungen gibt« erschienen ist.
Rogowin, Jahrgang 1938, ist Doktor der philosophischen Wissenschaften und Professor am soziologischen Institut der russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau. Er hat 250 wissenschaftliche Arbeiten verfasst, darunter acht Monographien über Probleme der Sozialpolitik, die Geschichte des gesellschaftlichen Denkens und die Geschichte politischer Bewegungen in der ehemaligen Sowjetunion. Er war schon lange vor der Gorbatschow-Ära als grundsätzlicher Gegner der Bürokratie und ihrer Privilegien bekannt und hatte zahlreiche Artikel veröffentlicht, die sich mit der gesellschaftlichen Differenzierung in der Sowjetunion, der Lohnpolitik der Regierung und verschiedenen Quellen der Korruption in der herrschenden Kaste befassen.
Ursprünglich hatte er gehofft, Gorbatschows Politik werde zu einem echten Bruch mit dem Stalinismus und zu einer sozialistischen Erneuerung führen, und sich der politischen Reformbewegung angeschlossen. Als aber dann der prokapitalistische Charakter der Perestroika immer deutlicher hervortrat, brach er mit zahlreichen Kollegen, die ihre sozialistischen Überzeugungen bequemerweise aufgaben, wie mit Sergei Schatalin, dem Autor von Gorbatschows unglückseligem »500-Tage-Plan«.
Die Wende zur Restauration des Kapitalismus ging mit scharfen Angriffen auf die Tradition des Bolschewismus einher. Diese Angriffe stützten sich auf die durch Tatsachen nicht begründbare Behauptung, Lenin und Trotzki seien für das totalitäre System in der Sowjetunion verantwortlich. Das geistige Leben in der ehemaligen Sowjetunion hat einen atemberaubenden Niedergang durchgemacht. Die »historischen Mythen«, die heute fabriziert werden, sind – wie Rogowin schreibt – »so willkürlich und fantastisch, dass sie selbst die ideologischen Blüten der stalinistischen Schule der Fälschung übertreffen«. [1]
Zahlreiche Karrieristen, die ihr ganzes Leben damit verbracht hatten, den sowjetischen »Sozialismus« und das stalinistische Regime zu verherrlichen, reagierten auf die veränderten Umstände, indem sie sich in wütende Antikommunisten verwandelten. Wolkogonow ist ein typischer Vertreter dieser Spezies. »Alles, dem er gestern noch ein positives Vorzeichen zugeordnet hat, versucht er jetzt mit einem negativen zu versehen«, schreibt Rogowin. [2]
Rogowins Schriften stellen eine bedeutsame Ausnahme von dieser Entwicklung dar. Er vertritt den Standpunkt, dass der Stalinsche Terror einem bewussten politischen Zweck diente. »Die große Säuberung von 1936 bis 1938«, schreibt er, »war kein irrationaler, sinnloser und krankhafter Gewaltausbruch, der in Stalins blindem Argwohn … oder in dem ›satanischen‹ Charakter des Bolschewismus … begründet lag. Es handelte sich vielmehr um einen politischen Völkermord gegen sowjetische und ausländische Kommunisten, um einen präventiven Bürgerkrieg als einziges politisches Mittel, das Stalin zur Verfügung stand, um seine Macht zu behalten und jene politischen Kräfte in der sowjetischen und internationalen kommunistischen Bewegung zu unterdrücken, die potenziell oder tatsächlich eine Alternative zu seinem totalitären Regime boten.« [3]
Im Jahr 1992 veröffentlichte Rogowin den ersten Band seiner Geschichte der Opposition gegen die Sowjetbürokratie, »Gab es eine Alternative? Der Trotzkismus, der sich mit dem Zeitraum von 1923 bis 1927 befasst, von Lenins tödlicher Erkrankung und der Gründung der Linken Opposition bis zum Ausschluss Trotzkis aus der Kommunistischen Partei. Der zweite Band, »Stalins Kriegskommunismus«, erschien ein Jahr später. Er behandelt die Jahre 1928 bis 1933 und geht nicht nur auf Trotzki und die Linke Opposition ein, sondern auch auf die Strömungen, die von Bucharin, Rjutin, Eismont und anderen geführt wurden. Im Frühjahr 1995 erschien der dritte Band »Stalins Neo-NEP«. Er geht auf die Jahre 1934 bis 1936 ein und dokumentiert den Angriff der Bürokratie auf die egalitären Ideale der Oktoberrevolution, die Anhäufung von Privilegien durch bestimmte Gesellschaftsschichten und in diesem Zusammenhang die Vorbereitung der physischen Vernichtung der sozialistischen Intelligenz und der bolschewistischen Arbeiter in der Sowjetunion im Jahr 1937. Der vierte Band, veröffentlicht im Sommer 1996, befasst sich mit der Durchführung dieser historischen Verbrechen und trägt den Titel »1937«. Dasselbe Thema behandelt der fünfte Band, »Die Partei der Hingerichteten«. Der abschließende Band über die Jahre 1938 bis 1940 untersucht die Verschwörung der sowjetischen Regierung und ihres Geheimdienstes zur Ermordung Leo Trotzkis (»Weltrevolution und Weltkrieg«).
Rogowins Werke heben sich wohltuend von den Schriften jener westlichen und östlichen Historiker ab, die sich ihre akademischen Titel durch die Anpassung historischer Fakten an die vorherrschenden politischen Bedürfnisse erworben haben. Sie sind ein bedeutender Beitrag zur Klärung des wirklichen Charakters des Stalinismus und seines Gegenpols, der trotzkistischen Bewegung.
[1]
Siehe weiter hinten in diesem Band.
[2]
Siehe weiter hinten in diesem Band.
[3]
Siehe weiter hinten in diesem Band.
Gab es eine Alternative zum Stalinismus?
Jede große Revolution stellt die Wissenschaft vor historische Kardinalfragen. Die weitreichendste, komplexeste und bedeutsamste Frage, die von der bolschewistischen Revolution und ihren Nachwirkungen gestellt wird, betrifft die Beziehung zwischen Bolschewismus und Stalinismus.
Von den dreißiger Jahren an bis hinein in die achtziger Jahre – eine Zeit unter erstickendem administrativen Druck – bot die sowjetische Geschichtsschreibung, mehr als jede andere Sozialwissenschaft, nur eine einzige, einseitige Antwort auf diese Frage. Der Begriff »Stalinismus« kam bei ihr gar nicht vor, sie stellte die gesamte Entwicklung der sowjetischen Gesellschaft nach dem Oktober als leibhaftigen Inbegriff der ursprünglichen Prinzipien des Marxismus-Leninismus dar. Jeder Gedanke an die bloße Möglichkeit abweichender Interpretationen wurde über mehrere Jahrzehnte hinweg verboten und als Ausdruck von Antikommunismus und Sowjetfeindlichkeit stigmatisiert. Auf diese Weise wurden so viele Mythen und Fälschungen angehäuft, dass keine einzige der Untersuchungen, die seit Ende der zwanziger Jahre in der UdSSR über die Periode nach dem Oktober erschienen sind, als wirklich wissenschaftlich bezeichnet werden darf.
Die Überprüfung der gesamten sowjetischen Geschichte in jüngster Zeit stellt die Forscher vor eine grundlegende Frage: Weshalb erstand aus dem historischen Boden, den die Oktoberrevolution bereitet hatte, das monströse Phänomen des Stalinismus, das die Idee des Sozialismus in den Augen von Millionen Menschen rund um die Welt gründlich in Misskredit gebracht hat?
Es gibt, so scheint es, nur zwei mögliche Antworten auf diese Frage. Die erste besagt in stark vereinfachender Manier, dass das Fortschreiten der sozialistischen Revolution zur terroristischen Diktatur Stalins historisch natürlich und unvermeidlich war, und dass es innerhalb des Bolschewismus keine politische Alternative dazu gab. Bei dieser Interpretation werden alle Zwischenstadien vom Oktober 1917 bis zur Machtbefestigung des stalinistischen Regimes bedeutungslose Zickzackbewegungen auf dem Kurs, den das Schicksal der Oktoberrevolution vorherbestimmt hatte. Der innerparteiliche Kampf der zwanziger Jahre war dann nur eine historische Episode, die unabhängig von ihrem anfänglichen Verlauf in jedem Falle zu einem ähnlichen Ergebnis wie der Stalinismus geführt hätte.
Die andere Interpretation geht von der Auffassung aus, dass der Stalinismus nicht das unvermeidliche, logische Ergebnis der Oktoberrevolution war, dass Stalins Sieg in gewissem Sinne einen historischen Zufall darstellte, dass es innerhalb des Bolschewismus eine starke Bewegung gab, die eine realistische Alternative zum Stalinismus bot, und dass in der Bekämpfung dieser Bewegung die hauptsächliche Funktion des stalinistischen Terrors lag.
Um die eine oder andere dieser Thesen wissenschaftlich zu untermauern, braucht man vor allem eine möglichst vollständige Sammlung der historischen Tatsachen. Wie Friedrich Engels bemerkte: »Unrichtige Vorstellungen in jeder Wissenschaft sind schließlich, wenn wir von Beobachtungsfehlern absehen, unrichtige Vorstellungen von richtigen Tatsachen. Die letzteren bleiben, wenn wir auch die ersteren als falsch nachgewiesen.« [1]
Öfter als in jeder anderen Wissenschaft gehen Fehlinterpretationen richtiger Tatsachen in Fragen der Geschichte nicht auf tatsächliche Irrtümer zurück, sondern auf die bewusste oder unbewusste Erfüllung politischer Forderungen. Dennoch kann man getrost sagen, dass es vor dem zwanzigsten Jahrhundert zu keiner Zeit eine solche Vielfalt an Geschichtsfälschungen gegeben hat, die sich auf die tendenziöse Überbetonung und Interpretation bestimmter Tatsachen und die völlige Vernachlässigung anderer stützten. Niemals zuvor haben Geschichtsfälschungen in so hohem Maße als ideologische Waffe gedient, um ein Volk zum Zwecke der Ausübung einer reaktionären Politik zu täuschen. Niemals zuvor gab es so viele ideologische Amalgame, die auf der willkürlichen Gleichsetzung völlig unterschiedlicher, sowohl räumlich als auch zeitlich getrennter historischer Erscheinungen basierten.
Das Begriff »Amalgam« (im wörtlichen Sinne eine Zusammenfügung unterschiedlicher Elemente) wurde im politischen Leben erstmals während der Großen Französischen Revolution verwandt. Nach dem konterrevolutionären Staatsstreich vom 27./28. Juli 1794 (laut dem Kalender der Republik der 9. Thermidor des Jahres II) beschrieb man mit diesem Begriff die Methode der Thermidorianer, alle möglichen »Verschwörungen« zu fabrizieren. Monarchisten, revolutionäre Jakobiner, Kriminelle, usw., wurden alle unterschiedslos in einen Topf geworfen. Dies geschah, um die Schuldigen und die Unschuldigen über einen Kamm zu scheren, damit letztlich das Volk getäuscht und eine gegen die Jakobiner gerichtete Hysterie geschürt werden konnte.
Ende der zwanziger Jahre stellte die Linke Opposition fest, dass Stalin und seine Anhänger sich der Methode des Amalgams bedienten, um Oppositionellen die Zusammenarbeit mit sowjetfeindlichen Kräften vorzuwerfen. In den dreißiger Jahren sprach Trotzki von den stalinistischen Methoden des Amalgams in einem breiteren Sinne; er bezeichnete damit die provokative Gleichsetzung der Bolschewiken – der Gegner Stalins – mit konterrevolutionären Verschwörern, Terroristen, Saboteuren und Spionen ausländischer Geheimdienste. Diese Methode diente als wichtigste Waffe zur Täuschung sowohl der sowjetischen Bevölkerung als auch der fortschrittlichen Öffentlichkeit im Ausland, um ihre Zustimmung zu grauenhaften Unterdrückungsmaßnahmen gegen die sogenannten »Volksfeinde« zu erschleichen. Später wurden völlig unterschiedliche Gruppen auf dieselbe Weise zusammengeworfen: Anhänger Wlassows; [2]
Überläufer zur Nazi-Polizei; selbst jene Kriegsgefangenen, die durch die Hölle der Nazi-Todeslager gegangen waren, ohne ihre Namen durch Kollaboration mit den Anhängern Hitlers zu besudeln; Teilnehmer an den Bauernaufständen der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre und die Bauern mit mittlerem Einkommen, die »entkulakisiert« bzw. auf der Grundlage von Routinebefehlen enteignet wurden; die einstigen Landbesitzer aus dem zaristischen Russland mit ihrem Haß auf die Oktoberrevolution, die ihre Privilegien beseitigt hatte; Kommunisten, die sich ein Urteil über die stalinistische Führung herausgenommen hatten; Teilnehmer an Verschwörungen der Weißen; normale Bürger, die für ein falsches Wort büßen mussten; die Organisatoren und Mitglieder nationalistischer Banden; und ganze Völker, die gnadenlos deportiert wurden.
Die »umgedrehten stalinistischen Amalgame« der Antikommunisten zeichneten sich durch keine geringere Willkür aus. Sie führten sämtliche tragischen Ereignisse der Geschichte nach dem Oktober, einschließlich aller Schrecken des Stalinismus, auf bestimmte, der bolschewistischen Partei innewohnende Charakteristika und Unzulänglichkeiten zurück. Bereits Trotzki hatte im Verlauf von Diskussionen über die Ursprünge und den Charakter des Stalinismus ähnliche Geschichtsinterpretationen widerlegt. Amalgame dieser Art, stellte er fest, stützten sich auf ein idealistisches Verständnis der bolschewistischen Partei als einer gewissermaßen allmächtigen Kraft in der Geschichte, die im luftleeren Raum agiere, oder als einer amorphen Masse, die keiner Opposition sozialer Elemente und keinem Druck von außen ausgesetzt sei.
Eine bedeutende Rolle bei der Herausbildung