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Porträt des Nationalsozialismus
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eBook685 Seiten8 Stunden

Porträt des Nationalsozialismus

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Über dieses E-Book

Die Machtübernahme der Nazis am 30. Januar 1933 markiert einen schrecklichen Wendepunkt in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Er führte zu den schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte: dem Nazi-Terror, der bis ins Detail organisierten Vernichtung von sechs Millionen Juden und dem barbarischen Vernichtungskrieg gegen Ost- und Südosteuropa. Die Arbeiterbewegung wurde atomisiert, die Blüte von Kunst und Kultur zerstört. Die Folgen dieses Vernichtungsfeldzugs sind noch heute allgegenwärtig.
Die Schriften Leo Trotzkis über Deutschland, die wir hier in einer erweiterten Auswahl veröffentlichen, bieten ein unvergleichliches Verständnis der Vorgänge und Dynamiken, die in diese Katastrophe geführt haben. Der berühmte Kriegsgegner und Schriftsteller Kurt Tucholsky äußerte seine Bewunderung, dass Trotzki in seinem Exil auf Prinkipo, 2000 Kilometer von Berlin entfernt, einen klareren Blick auf die Ereignisse in Deutschland hatte als jeder seiner Zeitgenossen. »Porträt des Nationalsozialismus« bezeichnete er als »Meisterleistung«, in der »alles, aber auch alles drin« stehe. Auch Bertolt Brecht soll laut Walter Benjamin im Frühjahr 1931 erklärt haben, »dass Trotzki der größte lebende Schriftsteller von Europa wäre«. Der britische Historiker E. H. Carr widmete Trotzkis Schriften über Deutschland in seinem Werk »Twilight of the Comintern« einen eigenen Anhang und führte aus: »Trotzki schrieb während der Periode von Hitlers Aufstieg zur Macht so beharrlich und so überwiegend weitsichtige Kommentare über die Entwicklung in Deutschland, dass die Erinnerung daran gewahrt bleiben muss.«
SpracheDeutsch
HerausgeberMEHRING Verlag
Erscheinungsdatum1. Nov. 2023
ISBN9783886347476
Porträt des Nationalsozialismus
Autor

Leo Trotzki

1879 als Sohn jüdischer Bauern in der Ukraine geboren, schließt Leo Trotzki sich als Student der marxistischen Bewegung an. Er spielt eine führende Rolle in den Revolutionen von 1905 und 1917. Nach der Oktoberrevolution baut er die Rote Armee auf. 1923 gründet er die Linke Opposition, die den Kampf gegen die bürokratische Entartung der Sowjetunion führt, und 1938 die Vierte Internationale. 1940 wird er im mexikanischen Exil von einem stalinistischen Agenten ermordet.

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    Buchvorschau

    Porträt des Nationalsozialismus - Leo Trotzki

    Vorwort

    Die Machtübernahme der Nazis am 30. Januar 1933 markiert einen schrecklichen Wendepunkt in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Er führte zu den schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte: dem Nazi-Terror, der bis ins Detail organisierten Vernichtung von sechs Millionen Juden und dem barbarischen Vernichtungskrieg gegen Ost- und Südosteuropa. Die Arbeiterbewegung wurde atomisiert, die Blüte von Kunst und Kultur zerstört. Die Folgen dieses Vernichtungsfeldzugs sind noch heute allgegenwärtig.

    Die Schriften Leo Trotzkis über Deutschland, die wir hier in einer erweiterten Auswahl veröffentlichen, bieten ein unvergleichliches Verständnis der Vorgänge und Dynamiken, die in diese Katastrophe geführt haben. Der berühmte Kriegsgegner und Schriftsteller Kurt Tucholsky äußerte seine Bewunderung, dass Trotzki in seinem Exil auf Prinkipo, 2000 Kilometer von Berlin entfernt, einen klareren Blick auf die Ereignisse in Deutschland hatte als jeder seiner Zeitgenossen. »Porträt des Nationalsozialismus« bezeichnete er als »Meisterleistung«, in der »alles, aber auch alles drin« stehe. 1

    Auch Bertolt Brecht soll laut Walter Benjamin im Frühjahr 1931 erklärt haben, »dass Trotzki der größte lebende Schriftsteller von Europa wäre«. 2

    Der britische Historiker E. H. Carr widmete Trotzkis Schriften über Deutschland in seinem Werk »Twilight of the Comintern« einen eigenen Anhang und führte aus: »Während Hitlers Aufstieg zur Macht nahm Trotzki mit solcher Eindringlichkeit und zumeist auch Weitsicht Stellung zu den Ereignissen in Deutschland, dass es für die Nachwelt bewahrt werden muss.« 3

    Doch Trotzkis Schriften sind nicht nur eine literarische Meisterleistung und unübertroffene Analyse der geschichtlichen Entwicklung, sie sind selbst Teil dieser Geschichte. Trotzki schrieb in seinen Artikeln und Pamphleten unermüdlich gegen die verhängnisvolle Politik der stalinistischen und sozialdemokratischen Bürokratien an und bewaffnete die Arbeiterklasse mit einer Perspektive zum Kampf gegen den Faschismus. Die Lektüre dieser Texte zeigt erst das ganze Potenzial der Situation und macht klar: Hitler hätte gestoppt und die Katastrophe verhindert werden können. Man kann daher »Trotzkis Worte nicht ohne Erbitterung über das Ausmaß der Verluste und die Vergeudung lesen«, stellt David North treffend fest. »Wie viel Leid und Elend hätte vermieden werden können, wie anders hätte das 20. Jahrhundert verlaufen können, wenn sich die Politik Trotzkis, die Politik des revolutionären Marxismus durchgesetzt hätte.« 4

    North antwortet mit diesen Zeilen auf den Historiker Eric Hobsbawm, der die verheerende Politik der Stalinisten und ihre historischen Verbrechen angesichts der objektiven Bedingungen in der Sowjetunion für alternativlos erklärt. Hobsbawm verwandelt die Analyse der sozioökonomischen Prozesse und der Klassendynamik in eine reine Apologetik des Bestehenden. Für Marxisten ist diese Analyse hingegen immer die Grundlage für eine Intervention in die politische Situation, um die Arbeiter zum unabhängigen Handeln zu befähigen. Diese marxistische Herangehensweise wird in den vorliegenden Schriften zu unvergleichlicher Meisterschaft getrieben.

    Trotzki verkörpert eine Tradition des Marxismus, gegen die sich der ganze Terror der stalinistischen Bürokratie und der faschistischen Schergen richtete. Er hatte die russische Oktoberrevolution mit der Perspektive der permanenten Revolution theoretisch vorbereitet und war neben Lenin ihr wichtigster Führer. Als Befehlshaber der Roten Armee verteidigte er den ersten Arbeiterstaat nicht nur militärisch gegen die Reaktion, sondern vor allem auch politisch und kulturell.

    Als die stalinistische Bürokratie in der Sowjetunion das Erbe der Revolution verriet und ihr Terrorregime errichtete, verteidigte Trotzki die sozialistischen Prinzipien des Internationalismus und der Arbeiterdemokratie. Während die Stalin-Fraktion in wachsendem Maße die engstirnigen, nationalen Interessen der Bürokratie in der Sowjetunion zum Ausdruck brachte, ging Trotzki jede Frage des Klassenkampfs und der internationalen Politik vom Standpunkt der sozialistischen Weltrevolution an. Für ihn war die entscheidende Frage, welche politische Linie in der Lage ist, das Bewusstsein der Arbeiterklasse zu entwickeln und auf die Höhe ihrer historischen Aufgaben zu bringen. Das gilt in besonderem Maße für die vorliegenden Schriften.

    Als Marxist verstand Trotzki den Faschismus aus der Klassendynamik der kapitalistischen Gesellschaft heraus. »Die Reihe ist ans faschistische Regime gekommen, sobald die ›normalen‹ militärisch-polizeilichen Mittel der bürgerlichen Diktatur mitsamt ihrer parlamentarischen Hülle für die Erhaltung des Gleichgewichts der Gesellschaft nicht mehr ausreichen«, schrieb er im Januar 1932 in »Was nun?«. »Durch die faschistische Agentur setzt das Kapital die Massen des verdummten Kleinbürgertums in Bewegung, die Banden deklassierter, demoralisierter Lumpenproletarier und all die zahllosen Menschenexistenzen, die das gleiche Finanzkapital in Verzweiflung und Elend gestürzt hat.« 5

    Die deutschen Kapitalisten brauchten die Faschisten, um die mächtigen Arbeiterorganisationen zu zerschlagen. Denn nur so konnten sie Deutschland nach den Schrecken des Ersten Weltkriegs für einen neuen Krieg rüsten. Der Vernichtungskrieg der Nazis, der insgesamt 80 Millionen Menschen das Leben kostete, war nicht einfach das Ergebnis von Hitlers Größenwahn, vielmehr war Hitler das Ergebnis der Bestrebungen der herrschenden Klasse, die Niederlage wettzumachen und Europa unter deutscher Führung zu organisieren.

    Der deutsche Kapitalismus, schrieb Trotzki, »ist der fortgeschrittenste Kapitalismus unter den Bedingungen der europäischen Ausweglosigkeit. Je größer die den Produktivkräften Deutschlands innewohnende dynamische Kraft, umso mehr muss Europas Staatensystem an ihnen würgen, das dem Käfigsystem einer zusammengeschrumpften Provinzmenagerie gleicht. Jede Konjunkturschwankung stellt den deutschen Kapitalismus vor eben die Aufgaben, die er durch den Krieg zu lösen versucht hatte.« 6

    Wir haben dieser erweiterten Auflage den Text »Nation und Weltwirtschaft« hinzugefügt, in dem Trotzki die Grundlage für Weltkrieg und Faschismus in brillanten Worten auf den Begriff bringt. Im unlösbaren Widerspruch zwischen globaler Integration der kapitalistischen Wirtschaft und der Organisation des Kapitalismus in Nationalstaaten kann jeder Schritt zur nationalen Autarkie, zur Entflechtung der Abhängigkeiten nur die Inkubation für umso heftigere internationale Konflikte sein. »Versuche, die Wirtschaft zu retten, indem man sie mit dem Leichengift des Nationalismus impft, führen zu jener Blutvergiftung, welche den Namen Faschismus trägt.« 7

    Die Parallelen zur heutigen Entwicklung sind augenfällig. Die Versuche der westlichen Länder, sich wirtschaftlich unabhängig von russischen Bodenschätzen und chinesischer Produktion zu machen, können nur als Vorbereitung des Weltkriegs verstanden werden. Denn der technisch hoch entwickelte Kapitalismus braucht die Produktivkräfte der ganzen Welt, und jede imperialistische Großmacht strebt danach, sie nach ihren Bedürfnissen zu organisieren.

    In Trotzkis Schriften ist diese glasklare Analyse Teil der politischen Intervention. Der Kontrast zu all den Büchern, die nach dem Zweiten Weltkrieg geschrieben wurden, um die Unvermeidlichkeit des faschistischen Aufstiegs nachzuweisen, könnte größer nicht sein. Während Trotzki ein Programm zum Kampf gegen den Faschismus entwarf, sind diese Schriften darauf ausgelegt, die Verantwortung von Sozialdemokratie und Stalinismus zu vertuschen oder gleich die Wurzel des Faschismus im kapitalistischen System zu leugnen.

    Historiker wie Daniel Goldhagen oder Götz Aly eliminieren zu diesem Zweck die schroffe Klassenspaltung der kapitalistischen Gesellschaft und suchen die Ursache des Faschismus im »ganz gewöhnlichen Deutschen« 8

    bzw. »Hitlers Volksstaat« 9

    . Der Psychoanalytiker Wilhelm Reich bezeichnete den Faschismus kurz nach dessen Machtübernahme als »die emotionelle Grundhaltung des autoritär unterdrückten Menschen der maschinellen Zivilisation und ihrer mechanistisch-mystischen Lebensauffassung«. 10

    Die Arbeiterparteien hätten es nicht vermocht, ihrerseits an die unterdrückten sexuellen Triebe zu appellieren, und dem Faschismus deshalb nichts entgegenzusetzen gehabt.

    Die Vertreter der Frankfurter Schule Theodor Adorno und Max Horkheimer entwickelten diese Konzeption weiter und machten sie zum ideologischen Fundament der Bundesrepublik. Auch sie sahen im »autoritären Charakter« die Grundlage des Faschismus und machten dafür die Aufklärung und die zivilisatorische Entwicklung selbst verantwortlich. Angesichts der modernen Arbeitsteilung ähnele sie die Erfahrungswelt der Arbeiter »tendenziell wieder der der Lurche an«, schreiben sie in »Dialektik der Aufklärung«. Daraus ergäbe sich die »rätselhafte Bereitschaft der technologisch erzogenen Massen, in den Bann eines jeglichen Despotismus zu geraten«, und deren »selbstzerstörerische Affinität zur völkischen Paranoia«. »Die Ohnmacht der Arbeiter«, schlussfolgern sie, »ist nicht bloß eine Finte der Herrschenden, sondern die logische Konsequenz der Industriegesellschaft.« 11

    Die Quintessenz dieser Ablehnung der revolutionären Rolle der Arbeiterklasse ist der tiefe Pessimismus, der die Frankfurter Schule auszeichnet und der die Grundlage für ihr Arrangement mit dem naziverseuchten Nachkriegsdeutschland bildete.

    Aber entgegen dieser Auffassung war Hitler nicht von der Mehrheit der Bevölkerung und erst recht nicht von der Arbeiterklasse an die Macht gebracht worden. Bei den letzten einigermaßen freien Wahlen im November 1932 verlor die NSDAP über zwei Millionen Wähler und erreichte nur 33,1 Prozent der Stimmen. Die NSDAP stand vor dem Bankrott, und Hitler äußerte sogar Suizidgedanken. Doch keine drei Monate später wurde er durch eine Verschwörung aus Vertretern von Armee, Kapital und Medien zum Reichskanzler ernannt. Kurz darauf stimmten sämtliche bürgerliche Parteien dem Ermächtigungsgesetz zu und versahen Hitler mit diktatorischen Vollmachten.

    Die beiden Arbeiterparteien SPD und KPD hatten im November zusammen 37,3 Prozent und damit deutlich mehr Stimmen als die Nazis erhalten. Selbst im April 1933, als die NSDAP ihr Terrorregime schon errichtet und die ersten Konzentrationslager gebaut hatte, erhielten die Nazis bei den angesetzten Betriebsratswahlen nur elf Prozent der Mandate und mussten den Urnengang abbrechen. Die große Mehrheit der Arbeiter war weder auf dem Niveau von Lurchen noch war sie Teil eines amorphen Volkes, sie stand den Nazis vielmehr mit offener Feindschaft gegenüber.

    Trotzki liefert in diesem Band, insbesondere im Text »Porträt des Nationalsozialismus« 12

    eine herausragende Psychologie des Faschismus, die er in der sozialen Position des heruntergekommenen Kleinbürgertums verortet. Aber die Frage, weshalb die Arbeitermassen nicht in den Generalstreik gegen Hitler traten und sich dem Terror entgegenstellten, ist keine psychologische Frage. Sie lässt sich nur in Hinblick auf Programm und Perspektive ihrer Führung erklären. Diese Fragen diskutiert Trotzki in den vorliegenden Schriften in beispielloser Klarheit.

    Die SPD, in der noch ein erheblicher Teil der Arbeiterklasse organisiert war, hatte ihre konterrevolutionäre Rolle schon mit ihrer Unterstützung für den Ersten Weltkrieg und der blutigen Niederschlagung der Revolution von 1918/1919 unter Beweis gestellt. Trotzki durchdringt die Physiognomie der sozialdemokratischen Bürokraten, ihren politischen Bankrott und ihr theoretisches Parasitentum in meisterhafter Trefflichkeit, der ein tiefes Verständnis der Epoche und der Rolle der Sozialdemokratie zugrunde liegt. »Bedeutet das Kranken des Kapitalismus Kranken der Sozialdemokratie, so kann der nahende Tod des Kapitalismus nichts anderes bedeuten als den baldigen Tod der Sozialdemokratie«, folgert er. »Die Partei, die sich auf die Arbeiter stützt, jedoch der Bourgeoisie dient, muss in der Periode höchster Zuspitzung des Klassenkampfs den Odem des Grabs verspüren.« 13

    Die tödliche Angst der SPD-Führung vor der Revolution trieb sie immer weiter zur Unterstützung selbst extrem rechter Kräfte. Sie unterstützte die sozialen Angriffe der Brüning-Regierung, machte Wahlkampf für Hitlers Steigbügelhalter Paul von Hindenburg und rief ihre Mitglieder selbst nach Hitlers Machtübernahme dazu auf, »auf dem Boden der Legalität« zu bleiben. Die sozialdemokratischen Bürokraten verteidigten den bürgerlichen Staat bis zur völligen Selbstaufgabe.

    Doch sie konnten das nur tun, weil sich die stalinisierte Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) als völlig unfähig erwies, die Krise der Sozialdemokratie auszunutzen und die Arbeitermassen von ihr zu brechen. »Durch Hin- und Herwinden, Irrtümer, bürokratischen Ultimatismus konserviert das stalinsche Bürokratentum die Sozialdemokratie, indem es ihr jedes Mal von Neuem gestattet, wieder auf die Beine zu kommen«, stellt Trotzki fest. 14

    Die KPD war nach dem Verrat der SPD-Führung im Ersten Weltkrieg von Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und Franz Mehring gegründet worden, um die Arbeiterklasse von der Sozialdemokratie zu brechen und für die Revolution zu gewinnen. Doch durch die Ermordung Luxemburgs und Liebknechts ihrer wichtigsten Führer beraubt und unter dem Druck der erstarkenden stalinistischen Bürokratie in der Sowjetunion zeigte sie sich unfähig, diese Aufgabe zu erfüllen.

    Aufgrund der Isolation und wirtschaftlichen Schwäche des ersten Arbeiterstaats gelang es der stalinistischen Bürokratie, die Macht an sich zu reißen. Sie ersetzte die Perspektive der sozialistischen Weltrevolution, die die Oktoberrevolution unter Lenin und Trotzki angeleitet hatte, durch die reaktionäre Konzeption des »Sozialismus in einem Land«. Mit Terror und Korruption setzte sie diese Linie in der ganzen Kommunistischen Internationale durch und ordnete die Politik der Kommunistischen Parteien den außenpolitischen Bedürfnissen der Bürokratie unter. Trotzki und die Linke Opposition wurden ausgeschlossen und später größtenteils physisch liquidiert.

    Nachdem Ernst Thälmann 1925 den Vorsitz übernommen hatte, folgte auch die KPD sämtlichen opportunistischen Manövern der Stalin-Clique und vollzog 1928 schließlich die Wende zur ultralinken Linie der »Dritten Periode«. Sie bezeichnete die Sozialdemokratie als »sozialfaschistisch« und lehnte jede Einheitsfront mit ihr ab. Zugleich wurde die Gefahr durch die Nazis systematisch heruntergespielt, was Thälmann in der Parole »Nach Hitler kommen wir« in tragischer Einfältigkeit auf den Begriff brachte.

    Trotzki arbeitete immer wieder den defätistischen Kern dieses pseudoradikalen Geschwätzes heraus und erklärte die Bedeutung der Einheitsfront. Er verstand, dass der Faschismus eine Frage von Leben und Tod für die Arbeiterklasse war und nur durch die massenhafte Mobilisierung derselben gestoppt werden konnte. Die gemeinsame Aktivierung der sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeiter in der Verteidigung ihrer Versammlungen, Büros und Betriebsräte hätte das Kräfteverhältnis zugunsten der KPD verschoben und den Arbeitern den Unwillen der SPD-Führung offenbart, einen ernsthaften Kampf gegen die Faschisten zu führen.

    Diese Einheitsfront hatte nichts mit der Verteidigung der Weimarer Republik zu tun, die Trotzki angesichts der extrem zugespitzten Klassenspannungen zu Recht als todgeweiht betrachtete. Der Aufstieg des Faschismus war gerade ein Ausdruck davon, dass die Kapitalisten ihre Herrschaft mit dem parlamentarischen System nicht mehr aufrechterhalten konnten. Um aber die Arbeiter zu befähigen, dem kapitalistischen Faschismus die sozialistische Revolution entgegenzusetzen und unabhängig ins Geschehen einzugreifen, war die Einheitsfront eine politische Notwendigkeit. Sie diente gerade dazu, die Arbeiter vom lähmenden Einfluss der SPD-Führung zu brechen und für die Revolution zu gewinnen.

    Wir haben in diesen Band den Text »Gegen den Nationalkommunismus!« neu aufgenommen, in dem Trotzki die verheerende Unterstützung des Volksentscheids der Nazis gegen die sozialdemokratische Regierung in Preußen im August 1931 durch die KPD seziert. Während die Stalinisten eine Einheitsfront mit der SPD gegen die Faschisten ablehnten, schlossen sie nun eine Einheitsfront mit den Faschisten gegen eine sozialdemokratische Regierung.

    Das Problem sei, schreibt Trotzki, dass die KPD-Führung den Faschismus zunehmend mit dessen Waffen bekämpfe: »Sie entlehnt die Farben seiner politischen Palette und will ihn auf der Auktion des Patriotismus überschreien. Das sind nicht Methoden prinzipieller Klassenpolitik, sondern Kniffe kleinbürgerlicher Konkurrenz.« 15

    Die Folgen waren verheerend. Auch wenn heutige pseudolinke Querfront-Strategen nicht mit der Arbeiterpartei KPD vergleichbar sind, bleiben die Fragen von brennender Aktualität.

    Trotzki zog aus dem Umstand, dass trotz der deutschen Katastrophe innerhalb der Komintern keine kritische Diskussion der Stalin-Linie erfolgte, weitgehende Schlussfolgerungen. »Eine Organisation, die der Donner des Faschismus nicht geweckt hat und die demütig derartige Entgleisungen vonseiten der Bürokratie unterstützt, zeigt dadurch, dass sie tot ist und nichts sie wieder beleben wird«, schreibt er. 16

    Deshalb riefen Trotzki und die Linke Opposition zur Gründung der Vierten Internationale auf, die sich auf die Prinzipien des revolutionären Internationalismus stützt und Stalinismus und Sozialdemokratie gleichermaßen bekämpft.

    Die Richtigkeit dieser Entscheidung und der Einschätzung des Stalinismus bestätigte sich, als die Bürokratie den nächsten Schwenk vollzog und ab 1936 zur Bildung einer Volksfront im Kampf gegen den Faschismus aufrief. Anders als die Einheitsfront diente diese nicht der Stärkung der Position der Arbeiter, sondern ihrer Unterordnung unter bürgerliche Kräfte. Revolutionäre Forderungen wurden zugunsten der Zusammenarbeit mit Teilen der Bourgeoisie aufgegeben, die ihrerseits bereits mit einem Bein im Lager des Faschismus stand. Begleitet wurde diese Linie von einem politischen Völkermord an Kommunisten in der Sowjetunion und auf der ganzen Welt, der seinen Höhepunkt in der Ermordung Leo Trotzkis durch einen stalinistischen Agenten im August 1940 fand.

    Die Gründung der Vierte Internationale richtete sich nicht nur gegen die stalinistische Bürokratie, sondern auch gegen andere zentristische Kräfte, die unter Bedingungen des völligen Bankrotts des Reformismus in weiten Teilen dessen Platz eingenommen hatten. Zentristen nehmen eine Mittelposition zwischen dem reformistischen und dem revolutionären Lager ein. Während sie wortradikal auftreten können, ordnen sie die Arbeiterklasse in der Praxis jedoch dem einen oder anderen Lager der jeweiligen nationalen Bourgeoisie unter.

    Neben Trotzkis brillanter Charakterisierung in »Der Zentrismus und die Vierte Internationale« fügen wir dieser erweiterten Auflage auch die ausführliche Auseinandersetzung mit der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) in »Zentristische Alchimie oder Marxismus« hinzu. Darin zeigt Trotzki mit der gebotenen Schärfe, wie die SAP sämtliche revolutionären Prinzipien über Bord wirft, sich in plumpem bürgerlichen Pazifismus übt und ihre politische Linie zu verwässern sucht, um Anschluss an die stalinistische Bürokratie und Teile der herrschenden Klasse zu finden. Es ist bezeichnend, dass Willy Brandt, der später als erster sozialdemokratischer Bundeskanzler die Berufsverbote für Sozialisten durchsetzte, durch die Schule der SAP gegangen war und sich dort vehement gegen den Einfluss der Trotzkisten eingesetzt und die Volksfrontpolitik der Stalinisten verteidigt hatte.

    Trotzki stellt diesem Zentrismus die revolutionären Prinzipien der trotzkistischen Bewegung entgegen: auf der Grundlage eines historischen Verständnisses der Situation offen auszusprechen, was ist, und die Massen voranzutreiben, um sie zur Revolution zu befähigen. Die Geschichte hat bewiesen, dass es sich dabei nicht um Spitzfindigkeiten, sondern um vitale Grundfragen für die Arbeiterklasse handelt. Trotzkis Schriften belegen, dass Krieg und Faschismus nur durch den revolutionären Kampf der Arbeiterklasse verhindert werden können und deshalb der Kampf für deren politische Unabhängigkeit von den Apparaten und bürgerlichen Lagern die zentrale Aufgabe ist.

    Diese Perspektive wurde nach Trotzkis Tod von der Vierten Internationale fortgeführt und weiterentwickelt. 1953 verteidigte das Internationale Komitee der Vierten Internationale (IKVI) die marxistischen Prinzipien gegen den Versuch von Michel Pablo und Ernest Mandel, die trotzkistische Bewegung zu zerstören und in ein beratendes Anhängsel der stalinistischen Bürokratie zu verwandeln. Als Mandel 1969 die erste Ausgabe von Trotzkis Schriften über Deutschland einleitete, versuchte er, sie in einen rein akademischen Beitrag zur Faschismustheorie zu verwandeln. Das gipfelte in der Behauptung, dass in Deutschland und Europa nicht erneut mit Faschismus zu rechnen sei. »Das europäische Großbürgertum hat sich schon einmal tüchtig die Finger an einem faschistischen Experiment verbrannt«, 17

    stellte er fest und aktualisierte damit die defätistische Haltung der Stalinisten gegenüber Hitler.

    In Wirklichkeit sind Trotzkis Schriften über Deutschland trotz ihrer wissenschaftlichen Tiefe und literarischen Brillanz keine akademischen Texte, sondern eine glühende Kampfschrift, die nichts von ihrer Aktualität eingebüßt hat.

    Denn die gleichen Widersprüche, die schon zu zwei Weltkriegen und zum Faschismus geführt haben, spitzen sich erneut in aller Schärfe zu. Nach 30 Jahren Krieg um die Welthegemonie im Nahen Osten, Zentralasien und Afrika verschärfen die USA jetzt ihren Kriegskurs gegen die Atommächte Russland und China. Auch der deutsche Militarismus ist zurück und will sich erneut die ukrainischen und russischen Bodenschätze einverleiben. Er organisiert die umfassendste Aufrüstung seit Hitler und sendet deutsche Panzer wieder in den Krieg gegen Russland. Immer neue Milliardengeschenke an die Superreichen und eine horrende Inflation haben die größte soziale Ungleichheit der Weltgeschichte hervorgebracht.

    Wie in den 1930er Jahren reagiert die herrschende Klasse in jedem Land der Welt auf den wachsenden Widerstand gegen diesen Wahnsinn mit einer Hinwendung zu autoritären Herrschaftsformen. Bei Trumps faschistischem Putschversuch vom 6. Januar 2021 und den beschwichtigenden Reaktionen der Demokratischen Partei zeigte sich einmal mehr, dass es innerhalb der Bourgeoisie keine Grundlage zur Verteidigung demokratischer Rechte gibt. Auch in Deutschland unterstützen sämtliche Bundestagsparteien die rechte Politik des Militarismus und der Staatsaufrüstung.

    Wie stark die herrschende Klasse wieder an ihre braunen Wurzeln anknüpft, geht auch aus den systematischen Versuchen hervor, die Geschichte zu fälschen und die Nazis zu rehabilitieren. Als Professor Jörg Baberowski von der Berliner Humboldt-Universität im Februar 2014 erklärte, dass Hitler nicht grausam und der Holocaust nichts anderes als Erschießungen im russischen Bürgerkrieg gewesen sei, war es nur die trotzkistische Jugendorganisation IYSSE, die dieser bodenlosen Geschichtsklitterung entgegentrat. Universitätsleitung, Professoren und Medien verteidigten den rechtsradikalen Professor. 18

    Mittlerweile ist dessen Relativierung der Nazi-Verbrechen zur Staatsräson geworden. Es vergeht kaum ein Tag, an dem kein Regierungsvertreter die Begriffe »Zivilisationsbruch« und »Vernichtungskrieg«, die bisher zur Beschreibung der einmaligen Dimensionen der deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg und des Holocausts dienten, zur Charakterisierung des russischen Überfalls auf die Ukraine nutzt. Dabei geht es nicht nur um Kriegspropaganda gegen Russland, sondern um die Relativierung der Verbrechen des deutschen Imperialismus. Es werden sämtliche Tabus gebrochen, um Deutschland wieder zu militarisieren.

    In der Ukraine knüpft die herrschende Klasse direkt an die Kriegsziele im Ersten und Zweiten Weltkrieg an und arbeitet dazu erneut mit ukrainischen Nationalisten und Neonazis zusammen. Auch in Deutschland selbst wird die faschistische AfD von sämtlichen Parteien in die parlamentarische Arbeit integriert. Rechtsextreme Terrornetzwerke im Staatsapparat werden von den höchsten Stellen gedeckt und aufgebaut, um jede Opposition gegen die Kriegspolitik und die damit verbundene soziale Verwüstung einzuschüchtern und zu unterdrücken. »Zu hohe Spannung des internationalen Klassenkampfes führt zum Kurzschluss der Diktatur, die Sicherungen der Demokratie schlagen eine nach der anderen durch«, schrieb Trotzki im Jahr 1929 und trifft damit auch die heutige Situation auf den Punkt. 19

    Es gibt aber auch erhebliche Unterschiede zu den 1930er Jahren. Die herrschende Klasse verfügt heute nicht über eine faschistische Massenbewegung, die sich aus heruntergekommenen Kleinbürgern und Weltkriegsveteranen rekrutiert. Die SPD führt keine Arbeitermassen mehr, sondern ist eine verhasste bürgerliche Partei, die an der Spitze der Kriegs- und Kürzungspolitik steht. Das Gleiche gilt für die Reste der stalinistischen Bürokratie, die sich in der Linkspartei gesammelt haben. Auch die Gewerkschaften sind keine Arbeiterorganisationen mehr, sondern Polizeikräfte zur Verhinderung von Streiks, die eher mit der Deutschen Arbeitsfront von Robert Ley vergleichbar sind.

    Die Arbeiterklasse ist nicht durch eine Reihe von Niederlagen gegangen, sondern hat gerade erst begonnen zu kämpfen. Der Klassenkampf hat sich mit der Pandemie, dem Stellvertreterkrieg der Nato gegen Russland und der massiven Preissteigerungen auf der ganzen Welt verschärft. Er nimmt immer deutlicher internationale Formen an und richtet sich ganz objektiv gegen die Kriegspolitik und ihre Wurzel, den Kapitalismus. Wie Trotzki in diesem Band darlegt, ist die internationale Arbeiterklasse auch heute die einzige soziale Kraft, die eine Katastrophe verhindern kann.

    Doch damit sie das tun kann, ist ein politischer Kampf für eine unabhängige Linie und eine revolutionäre Führung notwendig, der sich auf eben die Lehren stützen muss, die in diesem Band so messerscharf dargelegt sind. Dieses Buch hat schon Generationen junger Menschen vom Trotzkismus überzeugt, es wird in den kommenden Kämpfen erneut eine wichtige Rolle spielen.

    Christoph Vandreier

    Berlin, 21. Juni 2023

    1

    Fußnoten von Leo Trotzki sind mit L. T. gekennzeichnet, die übrigen stammen vom Verlag.

    Kurt Tucholsky, »Brief an Walter Hasenclever«, 25. Juli 1933, in: Gesamtausgabe. Texte und Briefe, Bd. 20, Briefe 1933–1934, Reinbek 1996, S. 66.

    2

    Walter Benjamin, »Autobiographische Schriften«, 3. Juni 1931, in: Gesammelte Schriften, Bd. VI, Frankfurt 1991, S. 432.

    3

    E. H. Carr, Twilight of the Comintern: 1930–1935, New York 1982, S. 433, aus dem Englischen.

    4

    David North, Die Russische Revolution und das unvollendete Zwanzigste Jahrhundert, Essen 2015, S. 148–149.

    5

    Leo Trotzki, »Was nun?«, in diesem Buch, S. 117.

    6

    Ebd., S. 103.

    7

    Leo Trotzki, »Nation und Weltwirtschaft«, in diesem Buch, S. 376.

    8

    Daniel Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996.

    9

    Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt 2005.

    10

    Wilhelm Reich, Die Massenpsychologie des Faschismus, Köln 1972, S. 15.

    11

    Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt 2004, S. 3, 43.

    12

    Leo Trotzki, »Porträt des Nationalsozialismus«, in diesem Buch, S. 343–352.

    13

    Leo Trotzki, »Was nun?«, in diesem Buch, S. 115.

    14

    Ebd.

    15

    Leo Trotzki, »Gegen den Nationalkommunismus!«, in diesem Buch, S. 53.

    16

    Leo Trotzki, »Man muss von Neuem kommunistische Parteien und eine Internationale aufbauen«, in diesem Band, S. 355.

    17

    Ernest Mandel, »Trotzkis Faschismustheorie«, in: Leo Trotzki, Schriften über Deutschland, Frankfurt 1971, S. 49.

    18

    Vgl. Christoph Vandreier, Warum sind sie wieder da?, Essen 2018.

    19

    Leo Trotzki, »Die österreichische Krise, die Sozialdemokratie und der Kommunismus«, in: Schriften über Deutsch­land, ebd., S. 53.

    Die Wendung der Komintern und die Lage in Deutschland

    September 1930

    Die Ursachen der letzten Wendung

    Taktische Wendungen, sogar große, sind in unserer Epoche ganz unvermeidlich. Sie werden durch jähe Wendungen der objektiven Lage hervorgerufen (das Fehlen von stabilen internationalen Beziehungen, scharfe und unregelmäßige Schwankungen der Konjunktur, scharfe Widerspiegelungen der ökonomischen Schwankungen in der Politik, Spontaneität der Massen in dem Gefühl der Ausweglosigkeit usw.). Das aufmerksame Verfolgen jeder Veränderung der objektiven Lage bildet gegenwärtig eine weit wichtigere und gleichzeitig schwierigere Aufgabe, als es vor dem Krieg, in der Epoche der »organischen« Entwicklung des Kapitalismus, der Fall war. Die Parteiführung befindet sich in der Lage eines Chauffeurs, der sein Auto in scharfen Kurven den Berg hinaufsteuert. Bei jeder falschen Wendung, jedem unrichtigen Gang, den er einlegt, drohen den Mitfahrern und dem Wagen die größten Gefahren, wenn nicht der Untergang.

    Die Führung der Kommunistischen Internationale (Komintern) hat uns in letzter Zeit etliche Beispiele von sehr schroffen Wendungen gegeben. Die jüngste Wendung haben wir in den letzten Monaten beobachten können. Wodurch werden die Wendungen der Komintern nach Lenin hervorgerufen? Durch Veränderungen der objektiven Lage? Nein. Man kann mit Bestimmtheit behaupten, dass es, angefangen mit dem Jahr 1923, keine einzige taktische Wendung gegeben hat, die von der Komintern rechtzeitig unter dem Einfluss der richtig bewerteten Veränderungen der objektiven Lage vorgenommen worden wäre. Im Gegenteil: Jede Wendung war das Ergebnis der unerträglichen Verschärfung der Widersprüche zwischen der Linie der Komintern und der objektiven Lage. Dasselbe können wir auch dieses Mal beobachten.

    Das IX. Plenum des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (EKKI), der VI. Weltkongress und besonders das X. Plenum des EKKI nehmen Kurs auf einen jähen und gradlinigen revolutionären Aufschwung (»Dritte Periode«). Dieser Aufschwung war damals, nach den ungeheuren Niederlagen in England, China, nach der Schwächung der Kommunistischen Parteien in der ganzen Welt und besonders unter den Bedingungen des Aufstiegs des Handels und der Industrie, der die wichtigsten kapitalistischen Länder erfasst hatte, durch die gesamte objektive Lage ausgeschlossen. Die taktische Wendung der Komintern seit Februar 1928 war somit direkt der realen Wendung der historischen Wirklichkeit entgegengesetzt. Aus diesem Widerspruch heraus entstanden die Tendenzen des Putschismus, die weitere Isolierung der Parteien von den Massen, die Schwächung der Organisationen usw. Erst nachdem diese Erscheinungen einen offen bedrohlichen Charakter angenommen hatten, machte die Führung der Komintern eine neue Wendung, im Februar 1930, eine Wendung zurück und, ausgehend von der Taktik der »Dritten Periode«, nach rechts.

    Die Ironie des Schicksals, die kein Erbarmen mit einer Politik des Hinter-den-Ereignissen-Herlaufens kennt, wollte es, dass die neue taktische Wendung der Komintern zeitlich mit einer neuen Wendung der objektiven Lage zusammenfällt. Die internationale Krise von unerhörter Schärfe eröffnet zweifellos Perspektiven der Radikalisierung der Massen und sozialer Erschütterungen. Gerade unter solchen Bedingungen könnte und müsste man eine Wendung nach links einschlagen. Das wäre sehr richtig und notwendig, wenn die Führung der Komintern in den letzten drei Jahren die Periode des wirtschaftlichen Aufschwungs und der revolutionären Ebbe dazu genutzt hätte, um die Positionen der Partei in den Massenorganisationen, vor allem in den Gewerkschaften, zu festigen. Unter diesen Bedingungen könnte und müsste der Chauffeur im Jahre 1930 den Wagen vom zweiten in den dritten Gang schalten oder sich wenigstens dazu bereithalten. In Wirklichkeit ist aber gerade ein entgegengesetzter Prozess vor sich gegangen. Um nicht abzustürzen, musste der Chauffeur vom zu früh eingelegten dritten Gang auf den zweiten schalten und das Tempo drosseln – wann? – unter Bedingungen, die bei einer richtigen strategischen Linie eine Erhöhung des Tempos verlangten.

    Das ist der schreiende Widerspruch zwischen der taktischen Notwendigkeit und der strategischen Perspektive, ein Widerspruch, in dem sich gegenwärtig, infolge der Logik der Fehler ihrer Führungen, die Kommunistischen Parteien einer Reihe von Ländern befinden.

    Am klarsten und gefährlichsten zeigt sich dieser Widerspruch in Deutschland. Hier haben die letzten Wahlen ein äußerst eigenartiges Kräfteverhältnis aufgedeckt, das nicht nur das Ergebnis der zwei Perioden der deutschen Stabilisierung der Nachkriegszeit, sondern auch der drei Perioden der Fehler der Komintern ist.

    Der parlamentarische Sieg der Kommunistischen Partei im Licht der revolutionären Aufgaben

    Gegenwärtig stellt die offizielle Presse der Komintern das Ergebnis der deutschen Wahlen als einen grandiosen Sieg des Kommunismus dar, der die Losung »Sowjetdeutschland« auf die Tagesordnung stellt. Die bürokratischen Optimisten wollen sich nicht in den Sinn des Kräfteverhältnisses hineindenken, das sich in der Wahlstatistik offenbart hat. Sie betrachten das Anwachsen der kommunistischen Stimmenzahl ganz unabhängig von den revolutionären Aufgaben, die die Situation und die durch diese entstandenen Schwierigkeiten erfordern.

    Die Kommunistische Partei erhielt 4 600 000 Stimmen gegen 3 300 000 im Jahre 1928. Der Zuwachs von 1 300 000 Stimmen ist vom Standpunkt der »normalen« Parlamentsmechanik, selbst wenn man das Anwachsen der Gesamtwählerzahl berücksichtigt, enorm. Allein, der Stimmengewinn der Partei verblasst vollkommen vor dem Sprung des Faschismus von 800 000 auf 6 400 000 Stimmen. Keine geringere Bedeutung für die Bewertung der Wahlen hat die Tatsache, dass die Sozialdemokratie, trotz erheblicher Verluste, ihren Grundbestand gehalten und noch immer eine wesentlich höhere Anzahl von Arbeiterstimmen erhalten hat als die Kommunistische Partei.

    Wenn man sich indessen fragen würde, welche Kombination von internationalen und inneren Bedingungen wäre geeignet, die Arbeiterklasse am stärksten zum Kommunismus zu drängen, so könnte man keine günstigeren Bedingungen für eine solche Wendung anführen als die gegenwärtige Lage in Deutschland: die Schlinge des Young-Plans, der Zerfall der regierenden Schichten, die Krise des Parlamentarismus, die erschreckende Selbstentlarvung der Sozialdemokratie in der Regierung. Vom Standpunkt dieser konkreten historischen Bedingungen bleibt das spezifische Gewicht der deutschen Kommunistischen Partei im öffentlichen Leben des Landes trotz der Eroberung der 1 300 000 Stimmen unverhältnismäßig gering.

    Die Schwäche der Positionen des Kommunismus, welche unauflöslich mit der Politik und dem Regime der Komintern verbunden sind, wird noch greller beleuchtet, wenn wir das gegenwärtige soziale Gewicht der Kommunistischen Partei jenen konkreten und unaufschiebbaren Aufgaben gegenüberstellen, die ihr durch die gegenwärtigen historischen Bedingungen gestellt werden.

    Gewiss, die Kommunistische Partei hat einen solchen Zuwachs selbst nicht erwartet. Doch das beweist, dass die Führung der Kommunistischen Partei unter den Schlägen der Fehler und Niederlagen nicht mehr gewöhnt ist, große Ziele und Perspektiven zu haben. Wenn sie gestern noch ihre eigenen Möglichkeiten unterschätzt hat, so unterschätzt sie heute wiederum die Schwierigkeiten. So verstärkt die eine Gefahr die andere.

    Indessen ist doch die wichtigste Eigenschaft einer wirklich revolutionären Partei, der Wirklichkeit ins Auge zu schauen.

    Die Schwankungen der Großbourgeoisie

    Bei jeder Wendung der Geschichte, bei jeder sozialen Krise muss man immer wieder die Frage der gegenseitigen Beziehungen der drei Klassen der heutigen Gesellschaft überprüfen: der Großbourgeoisie, geführt vom Finanzkapital, der Kleinbourgeoisie, welche zwischen den zwei Hauptlagern schwankt, und endlich des Proletariats.

    Die Großbourgeoisie, die den kleinsten Teil der Nation bildet, kann ihre Macht nicht halten, wenn sie sich nicht auf die Kleinbourgeoisie in Stadt und Land, d. h. auf die Reste des alten und auf die Massen des neuen Mittelstands stützen kann. Diese ihre Stütze nimmt in der gegenwärtigen Epoche zwei Grundformen an, die politisch einander entgegengesetzt sind, historisch aber einander ergänzen: die Sozialdemokratie und der Faschismus. In der Sozialdemokratie führt die Kleinbourgeoisie, die dem Finanzkapital folgt, Millionen von Arbeitern hinter sich.

    Gegenwärtig schwankt die deutsche Großbourgeoisie und ist zersplittert. Ihre Zwiespältigkeit besteht in der Frage, welche von zwei Heilmethoden sie bei der aktuellen sozialen Krise anwenden soll. Die sozialdemokratische Therapie stößt den einen Teil der Großbourgeoisie durch die Unzuverlässigkeit ihrer Ergebnisse und durch die Gefahr allzu großer Unkosten zurück (Steuer, soziale Gesetzgebung, Arbeitslohn usw.). Der chirurgische Eingriff der Faschisten scheint dem andern Teil der Lage nicht entsprechend und allzu riskant. Mit anderen Worten, die Finanzbourgeoisie als Ganzes schwankt in der Einschätzung der Lage und sieht noch keine ausreichende Ursache, den Eintritt ihrer »dritten Periode« anzukündigen, bei der die Sozialdemokratie bedingungslos durch den Faschismus ersetzt wird; bei dieser Generalabrechnung wird die Sozialdemokratie bekanntlich für die von ihr erwiesenen Dienste einem allgemeinen Pogrom zum Opfer fallen. Die Schwankungen der Großbourgeoisie zwischen der Sozialdemokratie und dem Faschismus sind bei gleichzeitiger Schwächung ihrer wichtigsten Parteien ein ganz deutliches Symptom einer vorrevolutionären Situation. Bei Eintritt einer wirklich revolutionären Situation würden diese Schwankungen natürlich sofort aufhören.

    Die Kleinbourgeoisie und der Faschismus

    Damit die soziale Krise zu einer sozialen Revolution führen kann, ist es notwendig, dass außer sonstigen Bedingungen eine entscheidende Verschiebung der kleinbürgerlichen Klassen auf die Seite des Proletariats stattfindet. Das gibt dem Proletariat die Möglichkeit, als deren Führer an die Spitze der Nation zu treten. Die letzten Wahlen offenbaren – und darin besteht ihre hauptsächliche symptomatische Bedeutung – eine entgegengesetzte Verschiebung. Unter den Schlägen der Krise neigte sich das Kleinbürgertum nicht zur Seite der proletarischen Revolution, sondern zur Seite der äußersten imperialistischen Reaktion, und zog dabei bedeutende Schichten des Proletariats mit sich.

    Das gigantische Anwachsen des Nationalsozialismus ist der Ausdruck zweier Tatsachen: der tiefen sozialen Krise, die die kleinbürgerlichen Massen aus dem Gleichgewicht bringt, und des Fehlens einer solchen revolutionären Partei, die schon heute in den Augen der Volksmassen der berufene revolutionäre Führer wäre. Wenn die Kommunistische Partei die Partei der revolutionären Hoffnungen ist, so ist der Faschismus als Massenbewegung die Partei der konterrevolutionären Verzweiflung. Wenn die revolutionäre Hoffnung das gesamte proletarische Lager ergreift, so zieht es unfehlbar bedeutende und stets anwachsende Kräfte der Kleinbourgeoisie auf den Weg der Revolution hinter sich her. Gerade auf diesem Gebiet zeigen die Wahlen ein ganz entgegengesetztes Bild: Die konterrevolutionäre Verzweiflung hat die kleinbürgerliche Masse mit einer solchen Gewalt erfasst, dass diese bedeutende Schichten des Proletariats mit sich zog.

    Wie lässt sich das erklären? In der Vergangenheit haben wir ein starkes Anwachsen des Faschismus (Italien, Deutschland) als Ergebnis einer erschöpften oder verpassten revolutionären Situation beobachtet, einer Situation am Ende einer revolutionären Krise, in deren Verlauf die proletarische Avantgarde sich als unfähig erwiesen hatte, an die Spitze der Nation zu treten, um das Schicksal aller ihrer Klassen, darunter auch der Kleinbourgeoisie, zu ändern. Gerade das verlieh dem Faschismus in Italien seine besondere Kraft. Doch gegenwärtig handelt es sich in Deutschland nicht um den Ausgang einer revolutionären Krise, sondern nur um deren Herannahen. Daraus folgern die führenden Parteibeamten als Optimisten vom Dienst, dass der Faschismus unfehlbar zu einer raschen Niederlage verurteilt sei, da er »zu spät« gekommen sei (»Rote Fahne«). Diese Leute wollen nichts lernen. Der Faschismus kommt noch früh genug – noch bei Tagesgrauen – zur neuen revolutionären Krise. Der Umstand, dass der Faschismus eine derartig mächtige Ausgangsposition bereits am Vorabend der revolutionären Periode und nicht erst an deren Ausgang einnehmen konnte, ist nicht seine Schwäche, sondern die Schwäche des Kommunismus. Die Kleinbourgeoisie wartet also nicht erst neue Enttäuschungen über die Fähigkeiten der Kommunistischen Partei ab, ihr Schicksal zu verbessern. Sie stützt sich auf die Erfahrungen der Vergangenheit, sie erinnert sich an die Lehren von 1923, an die Bocksprünge des ultralinken Kurses von Maslow und Thälmann, an die opportunistische Kraftlosigkeit desselben Thälmann, an das Geschwätz von der »Dritten Periode« usw. Endlich – und das ist das Wichtigste – wird ihr Unglaube an die proletarische Revolution durch den Unglauben an die Kommunistische Partei vonseiten der Millionen sozialdemokratischer Arbeiter genährt. Selbst ein Kleinbürgertum, das völlig durch die Ereignisse aus der konservativen Bahn geschleudert worden ist, kann sich nur dann auf die Seite der sozialen Revolution schlagen, wenn sich auf dieser Seite die Sympathie der Mehrheit der Arbeiter befindet. Gerade diese wichtigste Bedingung fehlt in Deutschland noch. Und sie fehlt nicht zufällig.

    Die Programmerklärung der deutschen Kommunistischen Partei vor den Wahlen war voll und ganz dem Faschismus als dem Hauptfeind gewidmet. Indessen ist der Faschismus als Sieger hervorgegangen, nachdem er nicht nur Millionen halbproletarischer Elemente, sondern auch Hunderttausende von Industriearbeitern gesammelt hat. Gerade darin zeigt sich jene Tatsache, dass trotz des parlamentarischen Siegs der Partei die proletarische Revolution insgesamt bei diesen Wahlen eine ernste Niederlage erlitten hat, natürlich nur eine Niederlage von vorläufigem, warnendem, aber nicht entscheidendem Charakter. Aber diese Niederlage kann entscheidend werden und wird unweigerlich entscheidend werden, wenn die Kommunistische Partei es nicht versteht, ihren isolierten parlamentarischen Sieg in Verbindung mit der obengenannten »vorläufigen« Niederlage der Revolution im Ganzen einzuschätzen und daraus alle notwendigen Schlussfolgerungen zu ziehen.

    Der Faschismus ist in Deutschland zu einer wirklichen Gefahr geworden als Ausdruck der akuten Ausweglosigkeit des bürgerlichen Regimes, der konservativen Rolle der Sozialdemokratie gegenüber diesem Regime und der akkumulierten Schwäche der Kommunistischen Partei im Kampf gegen dieses Regime. Wer das ableugnet, ist blind oder ein Schwätzer!

    Im Jahr 1923 hat Brandler, entgegen unseren Warnungen, die Kräfte des Faschismus ungeheuer überschätzt. Aus dieser falschen Einschätzung des Kräfteverhältnisses ergab sich die abwartende, ausweichende, abwehrende und feige Politik. Das hat die Revolution zugrunde gerichtet. Solche Ereignisse müssen im Bewusstsein aller Klassen des Volks Spuren hinterlassen. Die Überschätzung des Faschismus durch die kommunistische Führung hat eine der Vorbedingungen für dessen weitere Verstärkung geschaffen. Der entgegengesetzte Fehler, die Unterschätzung des Faschismus vonseiten der gegenwärtigen Führung der Kommunistischen Partei kann die Revolution zu einer noch schwereren Katastrophe führen, an deren Folgen sie lange Zeit leiden wird.

    Die Gefahr bekommt eine besondere Schärfe in Verbindung mit der Frage des Entwicklungstempos, das nicht allein von uns abhängt. Der malariaartige Charakter der politischen Kurve, der sich bei den Wahlen zeigte, spricht dafür, dass sich das Entwicklungstempo der nationalen Krise als sehr rasch erweisen kann. Mit anderen Worten, die Ereignisse können schon in der nächsten Zeit in Deutschland auf einer neuen historischen Höhe den alten tragischen Widerspruch zwischen einer reifen revolutionären Situation einerseits und der Schwäche und strategischen Unzulänglichkeit der revolutionären Partei andererseits entstehen lassen. Man muss das klar, offen und vor allen Dingen rechtzeitig aussprechen!

    Die Kommunistische Partei und die Arbeiterklasse

    Es wäre ein ungeheuerlicher Fehler, wenn man sich damit trösten wollte, dass z. B. die Bolschewistische Partei 1917 nach der Ankunft Lenins, als sie sich erst zur Eroberung der Macht rüstete, weniger als 80 000 Mitglieder zählte und sogar in Petrograd nicht mehr als ein Drittel der Arbeiter und noch weit weniger Soldaten hinter sich führte. Die Lage in Russland war eine ganz andere. Die revolutionären Parteien waren erst im März aus der Illegalität hervorgetreten, nachdem sogar das erdrosselte politische Leben von vor dem Krieg beinahe drei Jahre lang unterbrochen worden war. Die Arbeiterklasse hat sich im Lauf des Kriegs um 40 Prozent erneuert. Die überwiegende Mehrheit des Proletariats kannte die Bolschewiki gar nicht, sie hatte nicht einmal von ihnen gehört. Die Stimmen für die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre im März bis Juni waren einfach nur ein Ausdruck der ersten schwankenden Schritte nach dem Erwachen. In diesem Wahlverhalten war nicht einmal der Schatten einer Enttäuschung über die Bolschewiki oder eines aufgespeicherten Misstrauens diesen gegenüber enthalten. Ein solches Misstrauen kann nur infolge der Fehler der Partei entstehen, die die Masse am eigenen Leibe erfahren hat. Im Gegenteil, jeder Tag der revolutionären Erfahrungen von 1917 stieß die Massen von den Sozialverrätern auf die Seite der Bolschewiki. Daraus folgte das stürmische, unaufhaltsame Wachsen der Reihen der Partei und besonders ihres Einflusses.

    Die Lage in Deutschland hat in dieser Beziehung einen grundverschiedenen Charakter. Die deutsche Kommunistische Partei hat nicht erst seit gestern oder vorgestern die offene Bühne betreten. 1923 stand die Mehrheit der Arbeiterklasse halb oder ganz offen aufseiten der Kommunistischen Partei. Die Partei erhielt 1924 beim Abebben der revolutionären Welle 3 600 000 Stimmen. Das ist ein größerer Prozentsatz der Arbeiterklasse, als es gegenwärtig der Fall ist. Das bedeutet, dass sowohl jene Arbeiter, die bei der Sozialdemokratie geblieben sind, als auch jene, welche diesmal für die Nationalsozialisten gestimmt haben, nicht aus Unkenntnis so gehandelt haben, nicht etwa deshalb, weil sie erst gestern erwacht sind oder noch nicht erfahren haben, was die Kommunistische Partei ist, sondern deshalb, weil sie aufgrund der Erfahrungen der letzten Jahre nicht mehr an die Kommunistische Partei glauben.

    Wir dürfen nicht vergessen, dass im Februar 1928 das IX. EKKI-Plenum das Signal zu einem verstärkten, außerordentlichen, unversöhnlichen Kampf gegen die »Sozial-Faschisten« gegeben hat. Die deutsche Sozialdemokratie befand sich seitdem fast ständig an der Macht, wobei sie bei jedem ihrer Schritte ihre verräterische und schädliche Rolle vor den Massen offenbarte. Das alles wurde zuletzt von einer grandiosen wirtschaftlichen Krise gekrönt. Es ist schwer, sich eine günstigere Bedingung für die Schwächung der Sozialdemokratie zu denken. Diese hat indessen im Grunde ihre Positionen bewahrt. Wie kann man diese erstaunliche Tatsache erklären? Nur dadurch, dass die Führung der Kommunistischen Partei durch ihre gesamte Politik die Sozialdemokratie deckte, indem sie diese von links stützte.

    Das bedeutet durchaus nicht, dass die fünf bis sechs Millionen Arbeiter und Arbeiterinnen, die für die Sozialdemokratie gestimmt haben, dieser dadurch ihr volles und unbegrenztes Vertrauen ausgedrückt haben. Man soll diese sozialdemokratischen Arbeiter nicht für Blinde halten. Sie sind nicht so naiv in Bezug auf ihre Führer, aber sie sehen in der gegenwärtigen Lage keinen anderen Ausweg. Wir sprechen natürlich nicht von der Arbeiteraristokratie und -bürokratie, sondern von den einfachen Arbeitern. Die Politik der Kommunistischen Partei flößt ihnen nicht darum kein Vertrauen ein, weil die Kommunistische Partei eine revolutionäre Partei ist, sondern darum, weil sie nicht an deren Fähigkeit glauben, den revolutionären Sieg zu erringen, und nicht umsonst ihren Kopf riskieren wollen. Solche Arbeiter drücken, indem sie schweren Herzens für die Sozialdemokratie stimmen, nicht ihr Vertrauen zu dieser aus, sondern ihr Misstrauen gegenüber der Kommunistischen Partei. Darin besteht der ungeheure Unterschied zwischen der gegenwärtigen Lage der deutschen Kommunisten und der Lage der russischen Bolschewiki 1917.

    Doch damit allein sind die Schwierigkeiten nicht erschöpft. Innerhalb der Kommunistischen Partei selbst, besonders unter ihren Sympathisanten oder auch nur den für sie stimmenden Arbeitern, gibt es eine Menge von verhaltenem Misstrauen gegen die Führung der Partei. Daraus entsteht die »Disproportion« zwischen dem allgemeinen Einfluss der Partei und ihrer zahlenmäßigen Größe und besonders ihrer Rolle in den Gewerkschaften. In Deutschland gibt es zweifellos ein derartiges Ungleichgewicht. Offiziell erklärt man dieses damit, dass die Partei es nicht versteht, ihren Einfluss organisatorisch zu »erfassen«. Hier wird die Masse als rein passives Material betrachtet, dessen Eintritt oder Nichteintritt in die Partei ausschließlich davon abhängt, ob der betreffende Parteisekretär es versteht, jeden einzelnen Arbeiter am Kragen zu packen. Die Bürokraten können nicht begreifen, dass die Arbeiter ihre eigenen Gedanken, eigenen Erfahrungen, ihren eigenen Willen und ihre eigene aktive oder passive Politik gegenüber der Partei verfolgen. Die Arbeiter stimmen für die Partei, für deren Fahne, für die Oktoberrevolution, für ihre eigene zukünftige Revolution. Doch indem sie sich weigern, in die Kommunistische Partei einzutreten oder ihr im Gewerkschaftskampf zu folgen, sagen sie damit, dass sie kein Vertrauen zu der Tagespolitik der Partei haben. Diese »Disproportion« ist folglich letzten Endes eine Form der Massen, ihr Misstrauen gegenüber der gegenwärtigen Führung der Komintern zum Ausdruck zu bringen. Dieses Misstrauen ist durch die Fehler, Niederlagen, Fälschungen und den direkten Betrug der Massen im Lauf der Jahre 1923 bis 1930 entstanden und gefestigt worden. Es stellt eines der größten Hindernisse auf dem Weg des Siegs der proletarischen Revolution dar.

    Ohne inneres Selbstvertrauen wird die Partei niemals die Klasse erobern können. Ohne das Proletariat erobert zu haben, wird es ihr nicht gelingen, die kleinbürgerlichen Massen vom Faschismus loszureißen. Das eine ist untrennbar mit dem anderen verbunden.

    Zurück zur »Zweiten« Periode oder

    der »Dritten« entgegen?

    Wenn man die offizielle Terminologie des Zentrismus benutzen würde, so müsste man das Problem folgendermaßen formulieren: Die Führung der Komintern hat den nationalen Sektionen die Taktik der »Dritten« Periode, d. h. die Taktik für den unmittelbaren revolutionären Aufschwung, gerade in einer Zeit (1928) aufgedrängt, die besonders deutliche Züge der »Zweiten« Periode enthielt, d. h. einer Periode der Stabilisierung der Bourgeoisie, des Abebbens der revolutionären Welle. Die daraus entstandene Wendung von 1930 bedeutet den Verzicht auf die Taktik der »Dritten« Periode zugunsten der Taktik der »Zweiten« Periode. Diese Wendung hat sich aber ihren Weg über den bürokratischen Apparat erst in einem solchen Augenblick gebahnt, als die wichtigsten Symptome, wenigstens in Deutschland, bereits deutlich eine wirkliche Annäherung der »Dritten« Periode anzeigten. Geht daraus nicht die Notwendigkeit einer neuen taktischen Wendung – zugunsten der eben erst verlassenen »Dritten« Periode – hervor?

    Wir benutzen diese Bezeichnungen, um die Problemstellung selbst für jene Kreise, deren Bewusstsein durch die Methodologie und Terminologie der zentristischen Bürokratie verkleistert ist, zugänglicher zu machen. Wir beabsichtigen aber keineswegs, uns diese Terminologie, hinter der die Vereinigung des stalinschen Bürokratismus mit der bucharinschen Metaphysik steckt, anzueignen. Wir lehnen die apokalyptische Vorstellung von der »Dritten« Periode als einer letzten ab; die Anzahl der Perioden bis zum Sieg des Proletariats ist eine Frage des Kräfteverhältnisses und der Änderung der Lage. Das alles kann nur durch die Tat erwiesen werden. Wir lehnen das Wesen des strategischen Schematismus mit seiner Nummerierung der Perioden ab, denn es gibt keine abstrakte, von vornherein festgelegte Taktik für eine »Zweite« und für eine »Dritte« Periode. Gewiss, man kann den Sieg und die Eroberung der Macht nicht ohne einen bewaffneten Aufstand erlangen. Aber wie kommt man zu einem bewaffneten Aufstand? Mit welchen Methoden, in welchem Tempo man die Massen mobilisieren soll, das hängt nicht nur von der objektiven Lage überhaupt ab, sondern vor allen Dingen von dem Zustand, in dem sich das Proletariat beim Eintritt der sozialen Krise im Land befindet, von den Verhältnissen zwischen den Parteien und den Klassen, zwischen dem Proletariat und der Kleinbourgeoisie usw. Der Zustand des Proletariats am Vorabend der »Dritten« Periode hängt seinerseits davon ab, welche Taktik die Partei in der vorangegangenen Periode angewandt hat.

    Eine normale und natürliche Veränderung der Taktik bei der gegenwärtigen Wendung der Lage in Deutschland müsste eine Erhöhung des Tempos, eine Verschärfung der Kampfparolen und -methoden sein. Allein diese taktische Wendung wäre nur dann normal und natürlich gewesen, wenn das Tempo und die Kampfparolen von gestern den Bedingungen der vorangegangenen Periode entsprochen hätten. Doch davon konnte keine Rede sein! Der scharfe Widerspruch zwischen der ultralinken Politik und der stabilisierten Lage war ja gerade der Grund für die taktische Wendung. Das Ergebnis war, dass in dem Augenblick, als die neue Wendung der objektiven Lage zugleich mit der ungünstigen allgemeinen Umgruppierung der politischen Kräfte dem Kommunismus einen großen Stimmengewinn brachte, die Partei strategisch und taktisch noch desorientierter, verwirrter und unklarer war als jemals zuvor.

    Um diese Widersprüche zu erklären, in die die deutsche Kommunistische Partei – genauso wie die meisten anderen Sektionen der Komintern, nur noch weit tiefer – geraten ist, wollen wir einen ganz einfachen Vergleich vornehmen. Um über eine Barriere zu springen, muss man vorher einen Anlauf nehmen. Je höher die Barriere ist, umso wichtiger ist es, diesen Anlauf rechtzeitig zu beginnen, nicht zu spät und nicht zu früh, damit man sich dem Hindernis mit dem nötigen Schwung nähern kann. Die deutsche KP hat aber seit Februar 1928, besonders aber seit Juli 1929, nichts anderes getan, als Anlauf genommen. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass der Partei der Atem auszugehen droht und sie kaum noch die Füße vorwärtsschleppen kann. Endlich hat die

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