Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Stalins Nomaden: Herrschaft und Hunger in Kasachstan
Stalins Nomaden: Herrschaft und Hunger in Kasachstan
Stalins Nomaden: Herrschaft und Hunger in Kasachstan
eBook632 Seiten7 Stunden

Stalins Nomaden: Herrschaft und Hunger in Kasachstan

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Stalins Sowjetunion duldete keine Nomaden. Die im Land umherziehende Bevölkerung war weder politisch noch ökonomisch kontrollierbar. Staatliche Herrschaft ließ sich unter diesen Umständen kaum durchsetzen. So begannen die Bolschewiki Ende der 1920er Jahre mit der konsequenten Unterwerfung der multiethnischen Bevölkerung Kasachstans mittels Sesshaftmachung, Kollektivierung und Dekulakisierung.
Die Requirierung der landwirtschaftlichen Ressourcen, vor allem der Viehherden, zerstörte die Lebensgrundlagen der kasachischen Nomaden. Die Ökonomie der Steppe brach zusammen. Eine präzendenzlose Hungerkatastrophe, die zwischen 1930 und 1934 mehr als eineinhalb Millionen Menschen das Leben kostete und Hunderttausende zu Flüchtlingen machte, war die Folge.
Sowjetisierung durch Hunger - so nennt Robert Kindler das Projekt der Bolschewiki, Menschen durch die Inszenierung von Krisen in gehorsame Untertanen zu verwandeln. Je desaströser die Krise, je schlimmer Chaos und Elend waren, desto größer wurde die Macht der Herrschenden.
Robert Kindler untersucht nicht nur die Auslöser der Hungersnot, sondern auch, was sie über die Herrschaftsdurchsetzung an der sowjetischen Peripherie aussagt. Seine innovative Analyse führt zum Kern stalinistischer Herrschaft.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum12. März 2014
ISBN9783868546132
Stalins Nomaden: Herrschaft und Hunger in Kasachstan

Ähnlich wie Stalins Nomaden

Ähnliche E-Books

Asiatische Geschichte für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Stalins Nomaden

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Stalins Nomaden - Robert Kindler

    Empire.

    Bedingungen – Sowjetmacht in der Steppe

    »Genossen, im Aul gibt es keine Sowjetmacht.« Mit diesen Worten wandte sich Filipp Gološčekin, der Erste Sekretär der Parteiorganisation Kasachstans, im Dezember 1925 an die erweiterte Führungsspitze der kasachischen Bolschewiki.¹ Seine Zuhörer konnte diese Einschätzung nicht überraschen. Sie alle kannten die widrigen Umstände, deretwegen sie die Steppe als Ort andauernder Niederlagen und Frustrationen erlebten. In den Jahren zwischen dem Ende des Bürgerkrieges und dem Beginn der Kollektivierungskampagne hatten die Bolschewiki hier noch keineswegs Fuß gefasst. Interventionen »von oben« blieben, auch wenn es wiederholt dazu kam, die Ausnahme in einem Alltag, der weitgehend ohne die Kommunisten, ihre Gedankenwelt und Institutionen funktionierte. In weiten Teilen Kasachstans existierten die Organe der lokalen Selbstverwaltung, die Sowjets, nur auf dem Papier; und dort, wo sie etabliert worden waren, nutzten konkurrierende Gruppierungen sie häufig als Arena für ihre eigenen Auseinandersetzungen. Die Zahl der Kommunisten verharrte auf niedrigem Niveau, und dass die Mehrheit dieser Parteimitglieder loyal zur Sache der Bolschewiki stand, schien selbst den größten Optimisten zweifelhaft zu sein. Zudem konnte keine Rede davon sein, dass die bolschewistischen Vorstellungen von Sozialismus und Moderne auf die multiethnische Bevölkerung Kasachstans nennenswerten Eindruck hinterlassen hätten. Punktuelle Ausnahmen bestätigten lediglich die Regel. Ein starker Staat, der seine Untertanen effizient (be-)steuern konnte, sah anders aus. Vielleicht symbolisierte kein Detail den desolaten Stand der Dinge so eindringlich wie der Hinweis eines Funktionärs, dass die Milizionäre in seinem Gebiet über kein einziges Pferd verfügten und deshalb gezwungen seien, ihren Aufgaben buchstäblich nachzugehen – in einer von Nomaden bevölkerten Region.²

    Dennoch verhallte der Herrschaftsanspruch des Staates nicht gänzlich ungehört. In der kasachischen Steppe wurde er transformiert und an lokale Kontexte angepasst. Deshalb lässt sich das Verhältnis von Kommunisten und Kasachen nicht einfach als Defizitgeschichte beschreiben, die allein vom fehlenden Einfluss der einen und dem Desinteresse der anderen handelt. Vollständig ließ sich der Staat mit seinen Forderungen selbst in den Weiten der kasachischen Steppe nicht ignorieren. Er spielte kaum eine Rolle, wenn es um die Bewältigung alltäglicher Angelegenheiten und Probleme ging, dennoch durfte man nicht den Fehler begehen, mangelnde Präsenz mit dauerhafter Abwesenheit zu verwechseln. Trotz aller Schwächen und Probleme stellte er einen Machtfaktor dar, dem sich auch die Bewohner der entlegensten Aule nicht durchgängig entziehen konnten.

    Die Kommunisten nutzten verschiedene Formen intervenierender Herrschaft zur Durchsetzung ihres Machtanspruchs. Wenn etwa die Zahlung von Abgaben anstand, wenn lokale Machtverhältnisse bestimmt wurden oder wenn Konflikte um fruchtbare Böden zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen eskalierten, fanden sie und ihre lokalen Vertreter den Weg in die Aule der Nomaden. Bei diesen Besuchen ging es nicht nur darum, Steuern einzutreiben oder andere Aufträge zu erfüllen; die Funktion dieser Männer bestand auch darin, die Kasachen immer wieder an ihren Status als Untertanen des Sowjetstaates zu erinnern – ganz gleich, was der Einzelne darunter konkret verstehen mochte. Wenn die Vertreter des Staates erschienen, dann musste sich die Bevölkerung, ob sie wollte oder nicht, zum Staat verhalten.³

    Die Bolschewiki waren davon überzeugt, dass sie bei den Kasachen Gehör finden würden. Dies hatte aus ihrer Sicht jedoch zur Voraussetzung, dass sie die traditionellen Eliten der Kasachen ihres Einflusses beraubten, deretwegen all jene Praktiken und Ordnungen Bestand hatten, die die Kommunisten so sehr verabscheuten. Die kasachischen Klans mussten – im übertragenen, später dann auch im wortwörtlichen Sinne – enthauptet werden. Im Grunde richteten sich deshalb alle Maßnahmen der Partei direkt oder indirekt gegen die Eliten der kasachischen Gesellschaft, und zwar mit doppelter Zielsetzung: Einzelne prominente Figuren sollten entmachtet, vor allem aber soziale Ordnungen aufgebrochen werden. Dies konnte in einer Gesellschaft, deren Mitglieder sich wesentlich über ihre Integration in komplexe Klansysteme identifizierten, nur gelingen, wenn an die Stelle der Klans neue Formen sozialer Vergemeinschaftung traten und wenn sich andere Personen als zuvor Autorität unter der Bevölkerung verschafften. In der Sprache der Ideologie hieß das »Klassenkampf«, de facto bedeutete es nichts anderes als Repressionen gegen einflussreiche Kasachen.

    Obgleich sich die Bolschewiki die Umwälzung aller bestehenden Verhältnisse auf die Fahnen geschrieben hatten, waren sie doch ein Produkt ihrer Herkunft, und das hieß konkret: der multiethnischen Gesellschaft des russischen Imperiums. Unter anderem deshalb spielten in der Partei (nicht nur in Kasachstan) Ehre, Patronage und persönliche Loyalität eine wichtige Rolle.⁵ Unter den Kasachen waren es vor allem verwandtschaftliche Beziehungen und genealogische Verflechtungen, die Menschen aneinander banden, Klans formten und Vertrauen zwischen unterschiedlichen Akteuren schufen. Partei und Klans fußten insofern auf ähnlichen Grundlagen. Abstrakt betrachtet, handelte es sich um zwei nach dem Prinzip persönlicher Beziehungen organisierte Netzwerke, die einander gegenüberstanden, sich miteinander verflochten und mitunter durchaus ineinander aufgehen konnten. Die Klans nutzten die sowjetischen Institutionen in ihrem Sinne und gelegentlich veränderten sie sie auch.⁶

    Sowjetisch in der Form, traditionell im Inhalt

    Der sowjetische Staat trat in der kasachischen Steppe in zweierlei Gestalt auf: einerseits als intervenierende und häufig strafende Gewalt, wenn Steuern und Abgaben nicht gezahlt wurden, Unruhen ausbrachen oder lokale Potentaten ihre Spielräume über das Maß des Erlaubten hinaus ausdehnten, andererseits als Verwaltungs- und Parteiapparat, der das Land in administrative Einheiten gliederte und versuchte, formale Herrschaftsbeziehungen zwischen Zentrum und Peripherie zu etablieren. Doch die Existenz solcher Strukturen sagte nichts über ihre Funktionsweise aus. Wie bemühte sich der sowjetische Staat, Gefolgschaft und Loyalität auf der lokalen Ebene zu organisieren? Wer engagierte sich für das Projekt der Bolschewiki, und welche Interessen verfolgten diese Menschen? Welche Rolle spielten die Klans?

    »Angehörige einer fremden Nation«

    Die Bolschewiki befanden sich in einer schwierigen Situation: Sie waren wenige, sie waren voneinander isoliert und sie fanden bei den Nomaden kaum Gehör. Für die meisten Kasachen blieb der Sozialismus eine Angelegenheit der Europäer. Und weil nur die wenigsten europäischen Kommunisten des Kasachischen mächtig waren und umgekehrt nur eine kleine Zahl Einheimischer die Lingua franca des sowjetischen Vielvölkerstaates beherrschte, änderte sich dieser Zustand – wenn überhaupt – nur sehr langsam.⁷ In den kasachisch dominierten Regionen konnte es keinen Zweifel daran geben, dass die Macht von Sowjets und Partei nur so weit reichte, wie die lokalen Eliten es gestatteten.

    Das Ansehen der Genossen in der Bevölkerung war gering. Dazu trugen steigende Abgabelasten bei, die zu massenhaften Parteiaustritten führten, aber auch »energische Handlungen der Requirierungsorgane«, aus denen eine Schwächung der Partei und »der Hass der örtlichen Bevölkerung auf die Kommunisten« resultierten. »Personen«, so hieß es in einem Bericht, »die sich selbst Kommunisten nennen, terrorisieren mit ihren verbrecherischen Verbindungen und Handlungen die friedliche Bevölkerung und tragen damit zur Desorganisation der sowjetischen Arbeit bei. Es ist deshalb kein Wunder, wenn die Steppenbewohner nicht nur nicht in die Reihen der Parteimitglieder eintreten, sondern angesichts eines Menschen, der die Bezeichnung ›Kommunist‹ trägt, buchstäblich von Schrecken erfasst werden.«⁸ Ähnlich hatte sich mit Achmet Bajtursynov bereits 1919 ein führender kasachischer Literat und Vertreter der Alaš-Orda geäußert: Die bolschewistische Bewegung manifestiere sich »an der Peripherie nicht als Revolution, sondern als völlige Anarchie«.⁹ Noch Mitte der 1920er Jahre hielten manche Kasachen im Gebiet Karkaralinsk die Kommunisten für »Angehörige einer fremden Nation«.¹⁰

    Ähnlich diffus waren die Vorstellungen, die sich manche Parteimitglieder von grundlegenden Inhalten der bolschewistischen Ideologie machten. Sie wussten weder mit dem Namen Lenins noch mit dem »ABC des Kommunismus« etwas anzufangen. Und auf die Frage, was eigentlich die Partei sei, vermochten selbst einige subalterne Funktionäre nicht zu antworten.¹¹ Wenn sich europäische Kommunisten, die weder die Sprache ihrer Adressaten beherrschten noch etwas von deren Kultur und Lebensweise verstanden,¹² in die Aule begaben, stießen sie häufig auf Misstrauen und Ablehnung. Agitatoren, die über Klassenkampf, Revolution und Proletariat dozierten, begegneten die Nomaden mit Unverständnis, denn für sie hatten die abstrakten Probleme, mit denen jene sich abmühten, keinerlei Bedeutung.¹³ Diese Schwierigkeiten waren keine »Kinderkrankheiten«, sondern traten über Jahre und Jahrzehnte immer wieder auf. Doch kein empörter Bericht an höherstehende Organe, kein Dekret und keine Initiative vermochte es, diese Trias aus katastrophalen Kommunikationsbedingungen (und dem damit verbundenen Problem der Machtdurchsetzung), politischem und buchstäblichem Analphabetismus und ethnischen Konflikten inner- wie außerhalb der Parteiorganisation zu entkräften.¹⁴

    Es kann also kaum überraschen, dass Kontrollkommissionen und Geheimpolizei (OGPU) unablässig über die mangelnde Prinzipienfestigkeit der Genossen berichteten: Ganze Parteizellen standen angeblich unter der Kontrolle lokaler Beis, prominente Parteimitglieder übten offen ihre Religion aus oder waren mit mehreren Frauen gleichzeitig verheiratet. Alkoholiker, brutale Schläger und Vergewaltiger trugen das Parteibuch in der Tasche.¹⁵ Niemand, der sich mit einem Anliegen an einen Funktionär wandte, konnte erwarten, dass er sein Ziel ohne Bestechung erreichen würde. Und manche Bauernsiedler erklärten unumwunden, weshalb sie den sowjetischen Apparat für schlechter als die zarische Kolonialverwaltung hielten: Früher habe es nicht nur weniger Beamte gegeben, diese seien auch mit niedrigeren Bestechungssummen zufrieden gewesen.¹⁶

    Das Territorium Kasachstans war zu groß und die Zahl loyaler Gefolgsleute zu gering, als dass der Sowjetstaat überall Strukturen hätte aufbauen können, die mehr waren als fiktive Einheiten. Deshalb blieb der dauerhafte und institutionalisierte Einfluss des Zentrums auf lokale Zusammenhänge denkbar gering.¹⁷ Parteiführung und -apparat waren die Hände gebunden, wenn es darum ging, den Genossen in der Steppe das Dasein zu erleichtern oder ihnen substanziell unter die Arme zu greifen. Nur ganz vereinzelt ließen sich Bevollmächtigte entsenden, die vor Ort nach dem Rechten sehen sollten. Zwar wurden unablässig Direktiven, Aufrufe und andere Papiere verfasst, doch gelangten solche Dokumente oft gar nicht oder nur mit großer Verspätung in die Regionen. Infrastruktur und Kommunikationswege in der Steppe befanden sich, abgesehen von einigen wenigen relativ gut ausgebauten Verbindungswegen, in einem miserablen Zustand. Reisen durch die Steppe stellten langwierige und beschwerliche Unternehmungen dar. Im Winter waren ganze Regionen über Monate von der Außenwelt abgeschnitten und auf sich allein gestellt.¹⁸ Hinzu kam, dass Post- und Telegrafenstationen bis in die 1930er Jahre hinein keine Korrespondenz annahmen und transportierten, die in kasachischer Sprache verfasst und adressiert war.¹⁹ Das, was die Kuriere des Zentrums den Genossen an der Peripherie an Informationen und Anweisungen überbrachten, musste Letzteren oft unverständlich bleiben. Bei vielen Parteimitgliedern handelte es sich wie erwähnt um »technische und politische« Analphabeten, die weder lesen und schreiben konnten noch mit den Grundlagen bolschewistischer Ideologie vertraut waren. Wenn es zudem an Übersetzungen offizieller Dokumente ins Kasachische fehlte, war es für die Aulfunktionäre häufig die rationalste Lösung, alle eingehenden Papiere summarisch und formal »zur Kenntnis« zu nehmen und dann nicht weiter zu beachten.²⁰

    Gehört wurden die Kommunisten vor allem dort, wo sie sich anpassten. Auch deshalb verschwamm der Gegensatz zwischen Partei und lokaler Gesellschaft in Nomadengebieten häufig bis zur Unkenntlichkeit.²¹ Die meisten Kommunisten konnten nur zu den Bedingungen der Gemeinschaften agieren, denen sie selbst entstammten. Sogar »verantwortliche« Parteimitglieder vermochten deshalb nichts Verwerfliches darin zu erkennen, die regionale Parteikasse für die Durchführung des islamischen Opferfestes anzuzapfen.²² Übergeordnete Kader deuteten solche Verfehlungen nicht als individuelle Ausfallerscheinungen, sondern – zu Recht – als Symptom kultureller Prägungen.

    Viele subalterne Funktionäre gingen noch weiter und stellten ihre Machtressourcen und Kenntnisse in den Dienst ihrer Sippen und Klans: Anfang 1925 zogen einige Nomaden aus dem Gebiet Turgaj in den Kreis Ak-Mečetsk und errichteten ihre Jurten in unmittelbarer Nachbarschaft zu einigen hier lebenden Kasachen, die einer anderen Sippe angehörten. Eines Tages löste sich zufällig ein Schuss aus dem Gewehr eines der Turgajer und verletzte eine junge Frau aus der örtlichen Gruppe. Kurze Zeit später versammelten sich die Brüder der Angeschossenen und stahlen den »Tätern« ihr gesamtes Vieh. Daraufhin luden sie den Vorsitzenden des Kreisexekutivkomitees zu sich ein, der ihre Vorgehensweise deckte und dafür mit einem Ochsen entschädigt wurde.²³ Derartige Gefälligkeiten und Gesten trugen dazu bei, den Status quo in den nomadischen Regionen zu erhalten. Beide Seiten profitierten, wenn lokale Funktionäre und Nomaden einander verstanden.

    Abgesehen von einer kleinen Schar »professioneller« Funktionäre, bestand die Partei in der Steppe also fast ausschließlich aus Männern, die tief in die traditionellen Gesellschaftsstrukturen verwoben waren und ihre Kultur auch im Gewand des Kommunisten nicht ablegten. Manche unter ihnen engagierten sich dennoch über alle Maßen für die Genossen, mitunter – zumal in den Jahren des Bürgerkrieges – unter Einsatz ihres Lebens.²⁴ Doch taten sie dies nicht unbedingt, weil sie die Ideale der Bolschewiki teilten, sondern weil sie hofften, mit deren Hilfe eigene Interessen durchsetzen zu können, wie das Beispiel Satybaj Bajguševs zeigt. Bajgušev, ein reicher und einflussreicher Nomade aus der Gegend um Kokčetav, hatte sich bereits 1917 entschieden für die Sowjets und später für die Bolschewiki eingesetzt. Anfangs tat er dies nicht ohne Hintergedanken. Als Abkömmling des kleinen Stammes der Kirei suchte er bei den Bolschewiki Schutz und Unterstützung gegen die wesentlich mächtigeren Atygaj, Karači und Karaul. Bajgušev erwies sich als ungewöhnlich loyal und ging auch dann nicht von der Fahne, als sich das Kriegsglück zugunsten der weißen Truppen um Admiral Kolčak wendete. Er kaufte Kommunisten wie Abil’chair Dosov aus dem Gefängnis frei, seine Leute dienten den Bolschewiki als Kundschafter, und er manipulierte Wahlen zugunsten der Sowjets, indem er etwa 1917 die sozialrevolutionäre Anhängerschaft durch Bestechung schwächte. Um 1920 galt er manchem als die »einzig verlässliche Figur unter den Kokčetavsker Kirgisen«.²⁵ 1921 fand diese Allianz ein jähes Ende: Bajgušev wurde von »weißen Banditen« ermordet und »buchstäblich in Stücke gerissen«.²⁶ Den Bolschewiki war es also möglich, lokale Autoritäten auf ihre Seite zu ziehen und sich damit die Loyalität von deren Gefolgsleuten zu sichern. Dabei war allerdings vielfach nicht ausgemacht, wer stärker von diesen Verbindungen profitierte. Insbesondere in den ersten Jahren nach dem Bürgerkrieg saßen in der Steppe, auch aus Sicht der Bolschewiki in den Zentren, höchst zweifelhafte Figuren an entscheidenden

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1