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Inferno Ostpreußen: Elemente eines Verlusts
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eBook453 Seiten4 Stunden

Inferno Ostpreußen: Elemente eines Verlusts

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Über dieses E-Book

Der bekannte Forscher zu Ostpreußens Schicksal im Kriege 1944-45 fasst hier die bedeutendsten seiner verstreut in Fachzeitschriften veröffentlichten und auf Tagungen vorgetragenen Forschungsergebnisse über seine alte Heimat zusammen.
Er zeigt an Beispielen, was seine Landsleute im Osten angerichtet haben, verfolgt Stalins Gaunerhandlungen zur Schaffung der Oder-Neiße-Grenze, analysiert das geistige Gesicht der Rotarmisten, setzt sich mit der Goebbels-Propaganda zu deren Übergriffen auseinander, einschließlich der Rolle von Ilja Ehrenburg. Schließlich untersucht er die Tätigkeit der sowjetischen Kommandanten am Beispiel von Königsberg und berichtet über die Schwierigkeiten der Landsleute, die in der DDR über Ostpreußen schreiben wollten.
SpracheDeutsch
HerausgeberAnthea Verlag
Erscheinungsdatum29. Juni 2016
ISBN9783943583779
Inferno Ostpreußen: Elemente eines Verlusts

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    Buchvorschau

    Inferno Ostpreußen - Fisch Bernhard

    Bernhard Fisch

    Inferno Ostpreußen

    Elemente eines Verlusts

    Aufsätze und Vorträge

    © 2015 by ANTHEA VERLAG

    Hubertusstraße 14

    D - 10365 Berlin

    TEL: 030 993 93 16

    FAX: 030 994 01888

    E-Mail

    : info@anthea-verlag.de

    Verlagsleitung: Detlef W. Stein

    www.anthea.de

    Umschlaggestaltung: Thomas Seidel

    E-Book-Herstellung:

    Zeilenwert GmbH 2016

    Das Foto auf dem Frontcover zeigt den Panoramablick auf Preußisch Holland in Ostpreußen (heute Pasłęk) mit Blick zum Ort und auf die Burg.

    ISBN 978-3-943583-77-9

    Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

    „Die Befreiung des Menschen aus seiner

    selbstverschuldeten geistigen Unmündigkeit."

    (Immanuel Kant – Königsberg)

    Inhalt

    Cover

    Titel

    Impressum

    Zitat

    Vorwort

    1. Das Land

    1.1. Zwischen den Strömen

    1.2. Über Herders slawische und preußische Quellen

    1.2.1. Herder und die Slawen

    1.2.2. Mohrungen, eine preußische Kleinstadt

    1.2.3. Königsberg – die preußische Residenzstadt

    1.3 Dichters Wort – Dichters Ort (Ernst Wiecherts Jeronim-Kinder)

    2. Wer den Wind sät …

    2.1. Ein Täter von Adel

    2.1.1. Der Betrüger und Grobian

    2.1.2. Der Säufer

    2.1.3. Der unschuldig schuldig gesprochene Geschäftemacher

    2.1.4. Der Schlächter

    2.1.5. Der General

    2.2. Ein bürgerlicher Held

    2.2.1. Die Anfänge

    2.2.2. Vom Scharführer zum Volksgerichtshof

    2.2.3. „In weltanschaulicher Hinsicht für den Einsatz durchaus geeignet"

    2.2.4. Amtsgeheimnisse

    2.2.5. Er schwieg, „Treu bis in den Tod"

    3. … wird den Sturm ernten

    3.1. Stalin und die Oder-Neiße-Grenze

    3.1.1. Das große Komplott

    3.1.1.1. Die deutsch-sowjetischen Verträge vom Herbst 1939

    3.1.1.2. Moskau 1941 und Teheran 1943

    3.1.1.3. Der geheime polnisch-sowjetische Grenzvertrag vom Juli 1944

    3.1.1.4. Der Druck auf die polnische Exilregierung

    3.1.1.5. Die Politik der vollendeten Tatsachen

    3.1.2. Das Potsdamer Protokoll

    3.1.3. Der Warschauer Grenzvertrag vom August 1945

    3.1.4. Die Zivilbevölkerung in den Oder-Neiße-Gebieten

    3.2. Zur politisch-ideologischen Vorbereitung des sowjetischen Soldaten auf die Begegnung mit der Zivilbevölkerung Ostpreußens, Oktober 1944 – Mai 1945 (Analyse zeitgenössischer sowjetischer Presseerzeugnisse)

    3.2.1. Ausgangssituation

    3.2.2. Quellen

    3.2.3. Wirkung der historischen Situation auf die Vorbereitung der Rotarmisten

    3.2.3.1. Zur Vorbereitung auf die Kampfhandlungen im Ausland

    3.2.3.2. Zivilbevölkerung außerhalb Deutschlands

    3.2.3.3. Zivilbevölkerung Deutschlands. Politische Differenzierungen

    3.2.4. Die Darstellung der Zivilbevölkerung Ostpreußens

    3.2.4.1. Operationen von Gumbinnen und Memel

    3.2.4.2. Die Periode der relativen Ruhe

    3.2.4.3. Die ostpreußische Operation

    3.2.4.4. Die Berliner Operation

    3.2.5. Zusammenfassung

    3.3. Nemmersdorf – die Erinnerung

    3.3.1. Zum Gegenstand der Erinnerung

    3.3.2. Zur Emotionalität der Erinnerung

    3.3.3. Die Träger der Erinnerung

    3.3.4. Die Realität als Vorlage für die Erinnerung

    3.3.5. Der Zwang zur Erinnerung

    3.3.6. Die Manipulation bei der Erinnerung

    3.4. „Die Flucht" – Rettung vor der Front oder strategisches Kalkül?

    3.4.1. Militärische Situation und Beginn der Flucht

    3.4.2. Rote Armee und Flüchtlinge

    3.4.3. Rückkehr der Flüchtlinge

    3.4.4. Fluchtmotive

    3.4.5. Der „Sinn" der Flucht und die Opfer

    3.4.6. Gauleiter Erich Koch

    3.4.7. Zur Rolle der Wehrmachtsführung

    3.4.8. Zur Begrifflichkeit: Flucht, Front, Vertreibung

    3.4.9. Literaturkritik

    3.5. Ostpreußen 1944/45 – Mythen und Realitäten

    3.5.1. Zur Literatur

    3.5.2. Die Übergriffe und ihre Quelle. Analyse und Deutung

    3.5.3. Der Schriftsteller Ilja Ehrenburg

    3.5.3.1. Das Flugblatt „Töte!"

    3.5.3.2. Das Flugblatt „Rassenhochmut"

    3.5.3.3. Die Hasspropaganda in der Presse

    3.5.4. Zur Auslösung der Flucht

    3.5.5. Zum Widerstand der Wehrmacht und zum Seetransport

    3.5.6. Die Ostpreußen als Opfer des Nationalsozialismus

    3.5.7. Zusammenfassung

    4. Staatssozialistische Lösungen

    4.1. Königsberg – sowjetische Kommandanten

    4.2. „Die Russen wollten uns einfach verhungern lassen." (Die Tätigkeit der sowjetischen Kommandantur von Königsberg zur Versorgung der deutschen Zivilbevölkerung mit Lebensmitteln 1945)

    4.2.1. Politische Aussagen zur deutschen Zivilbevölkerung

    4.2.2. Erste Maßnahmen zur Versorgung mit Lebensmitteln

    4.2.3. Der Ablauf der Sommerkampagne

    4.2.3.1. Vorbereitung der Heu- und Getreideernte

    4.2.3.2. Bereitstellung des Bodenfonds

    4.2.3.3. Zugmittel und andere Technik

    4.2.3.4. Arbeitskräfte

    4.2.4. Der Arbeitsstil der Stadtkommandantur

    4.2.4.1. Kooperation mit übergeordneten Dienststellen

    4.2.4.2. Kontrolle und erzieherische Einflussnahme nach unten

    4.2.5. Wertung

    4.3. In der DDR über Ostpreußen schreiben

    4.3.1. Schwalben, die keinen Sommer machten

    4.3.2. Der einsame Rufer in der Ödnis

    4.3.3. Der Durchbruch

    4.3.4. Die fruchtbaren Achziger

    4.3.5. Linke Heimwehtouristen

    4.3.5. Bilanz

    Abkürzungsverzeichnis

    Zum Autor

    Aus dem aktuellen Verlagsprogramm

    Fußnoten

    Vorwort

    Es werden nicht viele Bürger der DDR gewesen sein, die in dem Prachtgebäude der Moskauer Lenin-Bibliothek nach der Lösung ihrer Probleme mit der DDR gesucht haben. Wie das bei mir anfing? In den letzten zwanzig Jahren jenes Staates habe ich als Lehrer der russischen Sprache für das Sekretariat der Kreisleitung der SED Stadtroda bei ihren Treffen mit Offizieren des sowjetischen Panzerbataillons in Jena gedolmetscht. Das war eine ehrenamtliche Tätigkeit. Der einzige Vorteil: Wenn einem Genossen auffiel, dass ich keine größere gesellschaftliche Funktion im Landkreis ausübte, konnte ich auf diese Tätigkeit und „die vielen damit zusammenhängenden Verpflichtungen verweisen. Das war nur vorgeschoben, denn so arg waren die nicht. Allerdings wurde mir die Sache mit der Zeit interessant: Ich bekam Einblick in Verhalten und Denken dieser ansonsten recht hermetisch abgeschlossenen Menschenwelt. Was ich da erlebte, warf Fragen auf. Den stärksten Anstoß gab ein alltägliches Erlebnis, der begeisterte Bericht des Politstellvertreters des Bataillonskommandeurs. Sein zehnjähriger Sohn hatte in der Universitätsklinik von Jena gelegen. „Das muss ich dir unbedingt erzählen. Ärzte und Krankenschwestern haben sich toll um meinen Sascha gekümmert. Sie waren sehr lieb zu ihm. Sie bemühten sich Russisch zu sprechen, redeten ihm Mut zu, wenn eine Spritze zu setzen war, gaben ihm manchmal einen Bonbon, waren freundlich. Als er entlassen wurde, hat er sogar geweint, weil er die Schwester Gerda ins Herz geschlossen hatte. Und dann kam der Satz, der mich als damaligem Genossen recht verletzte: „Ich hätte nicht gedacht, dass die Deutschen sich so für ein Russenkind einsetzen könnten. Ich dachte bei mir: „Wo lebst du Genosse denn? Doch in der mit der Sowjetunion brüderlich verbundenen DDR! – Wie kann ein für das politische Bewusstsein von einigen Hundert jungen Soldaten Verantwortlicher derart verquer denken? Analoge Beobachtungen machte ich einige Male. Ich merkte, so, wie die

    SED-Führung

    uns den Sowjetsoldaten schilderte, sahen die gar nicht aus. Und – wenn schon Offiziere so dachten, was mag sich da in den Köpfen der unteren Dienstgrade abspielen.

    Wie war das denn nun 1945? Natürlich hatte ich da „so etwas aus dem „Westen gehört. Wenn schon höhere Offiziere dergleichen politischen „Blödsinn" verzapften, was mag der Muschkote gedacht haben, besonders, als er ab Oktober 1944 auf deutschem Boden kämpfte, zuerst in meiner Heimat Ostpreußen. Was für ein Bild von diesen Deutschen mögen ihm damals seine Vorgesetzten gezeichnet haben. Ob an dem (westdeutschen) Schreckensbild von Nemmersdorf ¹ etwas dran ist? Während eines Fortbildungskurses in Moskau meldete ich mich deswegen in der größten Bibliothek der Sowjetunion an, die direkt neben dem Kreml liegt. Dort ließ ich mir die bedeutendsten Zeitungen des Landes aus jenen Tagen kommen. Sie lagen als Mikrofilm vor. Ich suchte und fand eine Vielzahl von Berichten über die Kämpfe in Ostdeutschland. „Die Partei hatte uns jungen Genossen, die heil aus dem Gemetzel des Krieges entkommen waren, gesagt, der Rotarmist habe gekämpft, um den deutschen Arbeiter und Bauern vom Joch des Faschismus zu befreien. Er habe zwischen den braunen Verbrechern und den deutschen Werktätigen unterscheiden können. Jetzt musste ich zutiefst schockiert lesen, der Soldat wurde im Geist eines rabiaten antideutschen Nationalismus erzogen. Krause Gedanken entwickelten sich in meinem Gehirn. Wenn wir in der einen Grundfrage schamlos betrogen worden sind, wie steht es da mit anderen Aussagen? Nehmen wir als Beispiel die „Westliteratur. Alles Lügengewebe im Auftrage des aggressiven Imperialismus? Kannte ich doch kein Buch aus jener Himmelsrichtung über das damalige Geschehen. In der DDR hätte mir keine Bibliothek so etwas Gefährliches ausgeliehen, nur mit Sondererlaubnis, die ich nie bekommen hätte. Sehen wir einmal nach, ob ich hier etwas über Ostpreußen finde. Ich fand! Und nicht wenig. Der Zufall fügte es, gleich im ersten Titel las ich von Nemmersdorf, dem ersten Ort, in dem im Herbst 1944 die Rote Armee auf deutsche Zivilisten gestoßen war. Meine Haubitzenbatterie hatte den Ort beschossen. Vierzehn Tage danach erfuhr ich im Kino von Verbrechen der Sowjetsoldaten. Mit der Lektüre wuchs meine Erschütterung. Unsere „Freunde, wie es im Sprachgebrauch der SED hieß, sollen einer achtzigjährigen blinden Frau den Kopf mit einem Spaten gespalten, andere Frauen nackt an Leiterwagen genagelt haben? Lange konnte ich an dem Abend nicht einschlafen. Während ich mich unruhig im Bett wälzte, kam mir die Lösung: Der Berichterstatter war noch nie in dem Dorf gewesen, woher kannte er Alter und Gebrechen der Frau? Ich stellte mir den blutüberlaufenen, aufklaffenden Schädel vor, wo da eine Blindheit finden, woher das genaue Alter? Die Einheimischen hatten ja den Ort verlassen. Und versuche einmal, einen Nagel in den federnden Holm eines ostpreußischen Leiterwagens einzuschlagen! Für mich wurde klar, „da drüben wurde, wie bei uns, allzu dick aufgetragen oder gar gelogen.

    Seitdem saß ich einmal in der Woche im dem gewaltigen Lesesaal der Bibliothek, bearbeitete die Presse, ließ mir endlose Meter Kopien ziehen und brachte nach fünf Monaten alles nach Hause. Nebenbei: Ich las dort alle bedeutenden westdeutschen Bücher über das Kriegsende in meiner Heimat. Die Sowjet-Genossen halfen mir, unbewusst, das

    DDR-Verdikt

    über derart Literatur zu umgehen. Auch die polnischen Genossen halfen mir, bewusst dieses Mal. In ihrem Teil Ostpreußens druckten sie 1989 das Ergebnis dieser Studien in einer ihrer Zeitschriften ab. ² In den Staaten des Warschauer Vertrages wurde diese Thematik damit erstmals in diesem Umfang behandelt.

    Nach der Friedlichen Revolution in der DDR konnte ich mich mit meinem Problem intensiver befassen. Entstanden ist, neben drei Büchern, eine Vielzahl von Vorträgen und Aufsätzen, inhaltlich mehr oder weniger gesteuert durch den Zufall, so wie es die Anforderungen von Seminarleitern oder Herausgebern ergaben, oder auch durch plötzlich ins Blickfeld getretene Situationen, wie z. B. das hier aufgenommene Interview mit einstigen sowjetischen Stadtteilkommandanten in Königsberg.

    Ich gebe zu, dass diese Art der Darstellung eine negative Seite hat: Einzelprobleme sind über das ganze Buch verstreut. So befinden sich z. B. Aussagen zum Verhältnis Rotarmist – deutscher Zivilist in mehreren Aufsätzen. Da setze ich mein Vertrauen in den Leser. Manche Texte wurden gegenüber dem Original gekürzt, ohne den Inhalt zu verändern, oder weil das gleiche Thema an anderer Stelle ausführlicher behandelt wird. Hier und da habe ich Neues eingefügt. Ich durfte ja an aktuellen Erkenntnissen nicht vorübergehen. Der Wortschatz wurde einige Male durch den Verlag im Kontakt mit mir heutigen Lesegewohnheiten angepasst. Bei den Angaben zu sowjetischen Quellen kann ich vielfach die Vornamen der Autoren nicht nennen, da meist nur die Initialen angeführt werden.

    Trotz des großen Umfangs des ausgewerteten Materials können die Ergebnisse nicht befriedigen. Es fehlt die Darstellung weiterer Gebiete, u. a. besonders zu den Ursachen der angeführten Erscheinungen, zu den Motiven der führenden Organe bei ihren Leitungsentscheidungen, bis hin zu den konkreten Maßnahmen, die das Verhältnis zur Zivilbevölkerung regelten u. a. Das muss durch vertiefende Forschung ergänzt werden. Weitere Desiderate finden sich am Schluss der einzelnen Arbeiten.

    Von Ostpreußen und von seinem unglückseligen Verschwinden soll in diesem Buch auf eigene Art gesprochen werden. Auch nach den über sechzig Jahren seit Kriegsende und den 88 Jahren seit meiner Geburt gilt für mich immer noch die Feststellung Ralph Giordanos: „Wie kann man diese Heimat verlassen, ohne dass einem das Herz bricht? – Oh ja, es ist furchtbar, seine Heimat zu verlieren." ³

    1. Das Land

    1.1 Zwischen den Strömen

    Ostpreußen liegt zwischen den Mündungen von Weichsel und Memel in die Ostsee. An deren Ufer schwingen sich zwei konkave Sandbögen nordwärts: die Frische und die Kurische Nehrung. Dazwischen ragt als Eckpfeiler die sich dem Meer entgegenstemmende Nase der Halbinsel Samland. Die beiden Ströme berühren das Land nur mit ihrem Unterlauf. Sie kommen von weither. Die Weichsel hoch von den Beskiden, die Memel aus den Mooren Weißrusslands. Dort singt ihr der Bauer Lieder. Den Litauern ist sie der größte aller Ströme. Dieses Format trug sie dann in das einstige Gebiet des Deutschen Reiches und prägte das Leben der Deutschen. So bedeutsam galt sie denen, dass sie seinen Namen ihrer ersten Nationalhymne eingefügt haben. Obwohl der Fluss sich völlig multikulturell gibt. Die Weichsel hingegen ist als flüssiges Rückgrat Polens strenge Nationalistin. Spät erst, ab Thorn etwa, nimmt sie Kontakt mit den Deutschen auf. Schicksalhaft fast, denn von diesem Ort aus begann die Eroberung des Landes durch den Deutschen Ritterorden.

    Das geographische Bild haben die Gletscher gezeichnet. Die weiten Flächen der Grundmoräne im Norden und Nordwesten tragen gute Frucht, bieten aber dem Auge nur wenig Anziehendes. Nur dort, wo sich die wenigen Flüsse von den Masurischen Seen her nach Norden verirrt haben, bieten sich tief eingeschnittene und vielfältig geschwungene Engtäler, romantische Einsprengsel in das sonst strenge Einerlei. Hier ist das Gebiet der Schlösser und Herrensitze. Der Adel wusste, welche Böden ihm standesgemäßes Leben ermöglichten.

    Anders dagegen der weitgeschwungene Bogen der Endmoränen. Tausende Seen widerspiegeln das Himmelsblau. Sie können sich lang und schmal dahinziehen, dann sind sie mitunter grundlos tief. Sie können sich aber auch weithin strecken, sodass du das gegenüber liegende Ufer mit Mühe erahnen kannst. Diese Augen des Landes sind in ein grünes Meer eingebettet. Endlose Wälder bedecken Täler wie Höhen. Kilometer- und tagelang kannst du dort laufen, ohne einen Menschen zu treffen, vielleicht einen allwissenden Förster oder eine schweigsame Pilzsammlerin. Siedlungen kannst du ungesehen umgehen, ganz mit dir und der Natur eins. Die Seen senden Flüsse, Fließe, Bäche durch die endlosen Sanderplatten nach Süden, nach Polen hinein.

    So gut wie alle verbinden sich mit dem Beskidenfluss. In ihm strömen sie zur See. Masuren ist das romantische Wald- und Seengebiet. Der Name verrät die Herkunft der Bewohner aus dem polnischen Masowien. Adelssitze findest du hier kaum. Ist der Boden lehmig, dann birgt er Steine en gros, ist er sandig, dann ist er bewaldet und wo die Wässer um sich herum Sümpfe geschaffen haben, da muss er trocken gelegt werden, um wenigstens Rinderhaltung zu ermöglichen. Reich konntest du dort nicht werden. Roggen, Rüben und Kartoffeln waren die Ausbeute.

    In vielen Dörfern standen noch 1945 die geduckten schwarzen Holzbalkenhütten der Bauern aus dem 19. Jahrhundert. Die Menschen redeten noch bis zum größten aller Kriege ihren aus der Heimat mitgebrachten Dialekt, den Deutschen unverständlich. Selbst wenn sie vor Gericht traten, brauchten die Juristen Dolmetscher. Wie auch bei den Litauern am deutschen Teil der Memel.

    Was für eine Mischung: Deutsche, Litauer, Polen, jeder mit seiner eigenen Sprache. Da konnte es geschehen, dass der Autor 1926 in Masuren geboren wurde, aber kein masurisch sprach, wie auch seine Eltern nicht. Die stammten von der Memel, sprachen aber kein litauisch. Welche Sprache die Eltern des Vaters beherrschten, weiß er nicht, deutsch unbedingt, so wie die Eltern der Mutter. Aber deren Mutter, die Großmutter des Autors, sprach bis zur Einschulung nur Litauisch, Deutsch lernte sie im ersten Schuljahr als Fremdsprache hinzu. Deren Mutter wuchs in einer nur litauisch sprechenden Familie auf und ihr unehelicher Vater war Pole aus dem gemischt polnisch-litauischen Gebiet von Vilnius. Der Großvater des Autors stammte aus einer deutschen Familie, beherrschte für den Handel nach Russisch-Litauen etwas von beiden Sprachen. Die Verwandtschaft des Vaters dagegen sprach ausschließlich deutsch. Als der nach Masuren kam, wollte er sich mit seinen Kunden in ihrem Jargon unterhalten können, hat aber das Vorhaben nie realisiert. Die Verkäuferinnen in seinem Laden, alle aus Bauernfamilien, beherrschten die Sprache ihrer slawischen Vorfahren. So ist der Autor im Bewusstsein dieser sprachlichen Vielfalt aufgewachsen, nichts war ihm natürlicher. In welcher Sprache seine Vorfahren auch geredet haben mögen, sie alle fühlten sich als Bürger des Deutschen Reiches. Sie bewiesen das nach 1945. Als der polnische Nachfolgestaat den nach der großen Flucht zurückgebliebenen oder zurückgekehrten Landsleuten den dauernden Aufenthalt anbot, haben die meisten von ihnen das Land verlassen und sind in das deutsche Rest-Reich gefahren.

    1.2. Über Herders slawische und preußische Quellen

    1.2.1. Herder und die Slawen

    In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war ein ganz eigentümliches geistiges Gewebe zwischen den Nachbarstädten Weimar und Jena entstanden. Aus der Vielfalt der Beziehungen zwischen Literaten und Wissenschaftlern ragte ein Mann mit umfangreichstem Wissen und entsprechender Produktivität gleichermaßen in Literatur wie in Philosophie hervor: Johann Gottfried Herder (1744 – 1803). Ohne diesen gebürtigen Preußen kann man sich Anfang und Entfaltung der klassischen deutschen Literatur wie der klassischen Philosophie kaum vorstellen. Und wenn beide Gebiete in die Nachbarländer ausstrahlten, dann hat Herder daran wesentlichen Anteil. Im Weimar jener Jahre verfügte er zudem über Spezialkenntnisse zu Osteuropa. Hauptsächlich über ihn oder von ihm veranlasst, erfolgte seit der Mitte der siebziger Jahre eine umfangreiche Aneignung der russischen Aufklärungsbewegung durch die deutsche Literatur. ⁵ Mit ihm schließt eine „Linie deutscher Slawenkunde, die seit dem Ende des 17. Jahrhunderts" aufgebaut worden war, ab. Von Herder aus führt der Weg weiter über Jacob Grimm, Wilhelm von Humboldt, Georg Niebuhr und andere zu den Universitätslehrstühlen für Slawistik an deutschen Universitäten. ⁶

    Die grundsätzliche Auseinandersetzung Preußens mit dem slawischen Thema erfolgte relativ spät. Sie kam erst zustande, als Herder die Geschichte der slawischen Völker in die allgemeine Geschichte der Völker Europas einzuordnen suchte. Im Jahre 1776 war Herder auf Goethes Fürsprache hin als Generalsuperintendent nach Weimar gewonnen worden. Dort hat er noch fast dreißig Jahre gewirkt und auch die beiden Werke geschaffen, die als die Höhepunkte seiner Lebensarbeit gelten dürfen: die „Stimmen der Völker in Liedern (1778/79) und 1783 bis 1791 die „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit.

    In diesen „Ideen befindet sich das so berühmt gewordene „Slawenkapitel.

    Dort beschrieb Herder in großen Zügen Lebensumwelt, Sitten und Gebräuche, Lieder und Sagen, Wirtschaft und Kultur der Slawen; er beleuchtete verschiedene Phasen ihrer geschichtlichen Entwicklung und verwies auf ihren Fleiß, ihre Friedfertigkeit und ihre Schöpferkraft. Gerade als Preuße verurteilte er die Eroberungskriege seit Karl dem Großen und verwies damals schon auf die ökonomischen Ursachen jener unter dem Deckmantel der Christianisierung veranstalteten Unternehmungen: „[…] ob sie gleich die christliche Religion zum Vorwande gebrauchten, denn den heldenmäßigen Franken musste es freilich bequem seyn, eine fleißige, den Landbau und Handel treibende Nation als Knechte zu behandeln, statt selbst diese Künste zu lernen und zu treiben. Was die Franken angefangen hatten, vollführten die Sachsen; in ganzen Provinzen wurden die Slawen ausgerottet oder zu Leibeigenen gemacht, und ihre Ländereien unter Bischöfe und Edelleute vertheilet."

    Abschließend erörterte Herder die historische Perspektive der slawischen Völker und prophezeite ihnen eine glückliche Zukunft: „Das Rad der ändernden Zeit drehet sich indeß unaufhaltsam; und da diese Nationen größtentheils den schönsten Erdstrich Europaʼs bewohnen, wenn er ganz bebauet und der Handel daraus eröffnet würde; da es auch wohl nicht anders zu denken ist, als daß in Europa die Gesetzgebung und Politik statt des kriegerischen Geistes immer mehr den stillen Fleiß und das ruhige Verkehr der Völker unter einander befördern müssen und befördern werden: so werdet auch ihr so tief versunkene, einst fleißige und glückliche Völker, endlich einmal von eurem langen trägen Schlaf ermuntert, von euren Sklavenketten befreiet, eure schönen Gegenden vom adriatischen Meer bis zum karpathischen Gebürge, vom Don bis zur Mulda als Eigenthum nutzen, und eure alten Feste des ruhigen Fleißes und Handels auf ihnen feiern dörfen."

    Es ist hier nicht der Ort, den Realismus in Herders Slawenbild und die Verwirklichung seiner Prophezeiung zu beurteilen, so reizvoll das auch angesichts der jüngeren Ereignisse in Jugoslawien wäre. Das „Slawenkapitel" hat deutliche, mitunter wieder vergessene Spuren im kulturellen Leben vieler Völker hinterlassen. Das Gesamtwerk wurde in unterschiedlichen Regionen unterschiedlich stark aufgenommen. Bis spät in das 19. Jahrhundert hinein blieb Herder in Frankreich, England, der Schweiz, Italien und Amerika so gut wie unbekannt. Ganz anders lagen die Dinge im Vielvölkerstaat Österreich, im Baltikum und in der slawischen Welt. Hier waren die Wirkungen, die von Herder ausgingen, ungemein vielgestaltig, tief und dauerhaft. ¹⁰ Gleich nach dem Druck wurde sein Werk ins Tschechische, Polnische und Russische übersetzt. Der slowakische Dichter Jan Kollar widmete ihm einen Sonett-Zyklus („Die Tochter des Slawa", Slávy dcera, 1821/1824/1832).

    Darüber hinaus unterstützte das Slawenkapitel in diesen Ländern eine allseitige Rezeption des Herder’schen Gesamtwerks. ¹¹ Seine Anstöße führten „bei allen slawischen Völkern zur Erarbeitung „eigener nationaler Geschichtsbilder. ¹²

    Im geistigen Leben Polens haben vor allem die geschichtsphilosophischen Auffassungen gewirkt, sowohl in der Literatur (bei Autoren wie Michał Dłuski, Leon Borowski oder Kazimierz Brodziński, Adam Mickiewicz oder Zygmunt Krasiński) als auch bei Historikern (Wawrzyniec Surowiecki, Adam Potocki, Ignacy Benedykt Rakowiecki, Joachim Lelewel).

    Einige „Wortführer der nationalen Wiedergeburt" bei den Tschechen und Slowaken nahmen Herder’sche Ideen geradezu enthusiastisch auf. Sie beriefen sich auf ihn als zuverlässigen Anwalt ihrer politischen Kampfziele und kulturellen Projekte (František Ladislaw Čelakovský, Pavel Josef Šafařík, Jan Kollar, František Palacký und andere).

    Der nachhaltige Einfluss, den Herder auf die Entwicklung der sorbischen Musikfolklore ausgeübt hat, reicht von der erstmaligen Publikation einiger Volkslieder durch den Gymnasiallehrer Jan Horoćanski (1782/1783) über die ausgedehnte Sammeltätigkeit des Dichters Handrij Zejler bis zur klassischen Volksliedsammlung von Jan Arnošt Smaler und Leopold Haupt („Volkslieder der Wenden in der Ober- und Niederlausitz", Grimma 1841 – 1843). ¹³

    Schon früh und dann lange anhaltend war Herders Name im literarischen Leben Russlands populär. Nikolai Karamsin hatte 1789 in Weimar eine persönliche Begegnung mit Herder und berichtete darüber in seinen „Briefen eines russischen Reisenden" (Pis’ma russkogo putešestvennika). ¹⁴ Dieser, wie auch Wassili Shukowski und Gawrila Dershawin, waren von Herders Antike-Rezeption, von seiner Geschichtsphilosophie und von seiner Hinwendung zum künstlerischen Volksschaffen begeistert. Mehrfach übersetzten sie kleine Dichtungen Herders oder ausgewählte Passagen aus den umfangreicheren Prosawerken. Alexander Radischtschew bekundete 1790 bei seinen Verhören in der Peter-Pauls-Festung, Herders Schriften hätten zu den Anregungen gehört, aus denen seine „Reise von Petersburg nach Moskau (Putešestvie iz Peterburga v Moskvu, 1790) entstanden wäre; während der Zeit seiner Verbannung nach Ilimsk schrieb er ein philosophisches Traktat („Über den Menschen, seine Sterblichkeit und Unsterblichkeit, O čeloveke, ego smertnosti i bessmertnosti, 1792), in dem er sich abermals in weitgehender Übereinstimmung mit politischen und erkenntnistheoretischen Positionen Herders zeigte. Während der zwanziger, dreißiger und vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts lassen sich auffällige Nachwirkungen Herders eigentlich bei allen wesentlichen Exponenten der russischen fortschrittlichen Literatur aufweisen: bei Alexander Herzen und Timofej Granowski, bei Wissarion Belinski und Nikolai Tschernyschewski. Hier und da werden auch naturwissenschaftliche Fragestellungen durch Herdersche Ideen inspiriert und bereichert. Der Dekabrist Wilhelm Küchelbecker gedachte Herders in einem Gedicht „An Prometheus (K Prometeju, 1820), Nikolai Gogol würdigte ihn als Historiker in seinen „Arabesken (Arabeski, 1835). Und noch im zweiten Teil des zweiten Buches von Lew Tolstois „Krieg und Frieden" (Vojna i mir, 1868/1869) dreht sich eines der entscheidenden philosophischen Gespräche zwischen Pierre Besuchow und Andrej Bolkonski gerade um die Lehre Herders. ¹⁵

    1.2.2. Mohrungen, eine preußische Kleinstadt

    Beim Überlegen, woher Herder sein großes Verständnis für die Slawen bekam, muss man auf seine Kindheit und Jugend zurückblicken. Zweifellos beruhen seine Kenntnisse auf eigener Anschauung, auf eigenen Einblicken in Lebensweise und Kultur, in Eigenarten und Gesinnungen der slawischen Bevölkerung. Die heimatlichen Quellen dieser Beziehungen wurden in der wissenschaftlichen Literatur

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