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Tod im Cabaret Voltaire: Josephine Wyss ermittelt
Tod im Cabaret Voltaire: Josephine Wyss ermittelt
Tod im Cabaret Voltaire: Josephine Wyss ermittelt
eBook373 Seiten5 Stunden

Tod im Cabaret Voltaire: Josephine Wyss ermittelt

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Über dieses E-Book

Zürich, im Oktober 1919: Die junge Witwe Josephine, deren soeben verstorbener Mann eine «Auskunftsstelle für vermisste Personen» betrieben hat, in dem auch sie tätig war, steht vor dem Nichts. Als sie am Abend nach der Beerdigung im verwaisten Büro überlegt, dieses aufzulösen, stürmt eine Frau herein und beauftragt sie mit der Suche nach ihrer verschwundenen Freundin. Diese ist Tänzerin im Cabaret Voltaire, der Wiege der DADA-Bewegung, wo auch die Auftraggeberin als Künstlerin arbeitet. Eigentlich will Josephine den Auftrag ablehnen. Doch dann wird die Künstlerin auf der Bühne des Kleintheaters von einem herabstürzenden Kulissenteil erschlagen, und Josephine glaubt als Einzige nicht an einen Unfall. Sie beginnt, auf eigene Faust zu ermitteln. Dabei bringt sie nicht nur sich selbst in Gefahr, sondern muss sich auch gegen alle Widerstände den Weg freikämpfen, als alleinstehende Frau ein unabhängiges Leben führen zu können.Die Autorin erzählt einen spannenden historischen Kriminalfall, der durch seinen aktuellen Bezug überrascht. Gleichzeitig zeichnet sie ein authentisches und atmosphärisch dichtes Bild des Lebens in Zürich vor hundert Jahren.
SpracheDeutsch
HerausgeberZytglogge Verlag
Erscheinungsdatum23. Feb. 2023
ISBN9783729623989

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    Buchvorschau

    Tod im Cabaret Voltaire - Miriam Veya

    Inhalt

    Cover

    Über das Buch

    Impressum

    Titel

    1

    2

    3

    4

    5

    6

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    8

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    23

    24

    Nachwort der Autorin

    Über die Autorin

    Backcover

    empty

    Miriam Veya

    Tod im Cabaret Voltaire

    Autorin und Verlag danken für die Unterstützung: 

    empty

    Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit

    einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt. 

    © 2023 Zytglogge Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel 

    Alle Rechte vorbehalten 

    Lektorat: Thomas Gierl 

    Korrektorat: Anna Katharina Müller

    Coverbild: Spiegelgasse 1, Stadt Zürich, Baugeschichtliches Archiv,

    Schweizerische Lichtbildanstalt

    Umschlaggestaltung: Hug & Eberlein, Leipzig 

    eBook-Produktion: 3w+p, Rimpar

    ISBN ePub 978-3-7296-2398-9

    www.zytglogge.ch

    Miriam Veya

    Tod im Cabaret Voltaire

    Josephine Wyss ermittelt

    Roman

    empty

    1

    Josephine blieb wie angewurzelt hinter der Tür stehen, die mit einem lauten Knall ins Schloss gefallen war. Aus dem Treppenhaus klang das Poltern der Männer, die den Sarg hinuntertrugen, und von der Straße drangen Gesprächsfetzen der wartenden Leute nach oben.

    Sie fühlte sich verkleidet. Der ungewohnt lange Rock, dessen schwerer Stoff sie in den Boden zu ziehen schien, als ob er mit Wasser vollgesogen wäre, die hochgeschlossene Bluse mit den altmodischen Rüschen auf der Brust, das kratzige Jäckchen, alles in schwarz. Diese unmögliche Vorkriegsmode. Sie zog am Blusenkragen und versuchte, den Stoff etwas weicher zu machen. Warum musste er so eng sein? Auch die Stäbe des Korsetts schienen sich in ihre Rippen zu bohren, und die Hutnadel kratzte auf ihrer Kopfhaut. Sie seufzte und warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel. So sollte es gehen.

    Sie streifte die Handschuhe über und griff nach ihrer Tasche. Nach kurzem Zögern öffnete sie die oberste Schublade der Kommode, nahm ein zusätzliches Taschentuch heraus und stopfte es in ihre Jackentasche.

    Neben ihr wartete Alma und sah mit erwartungsvollem Blick zu ihr hoch.

    «Nein, heute darfst du nicht mitkommen», sagte Josephine und schob den Bobtail zur Seite, «Friedhöfe sind nichts für Hunde, da liegen viel zu viele Knochen herum.» Sie quälte sich zu einem Lächeln. Dass sie überhaupt fähig war, einen solchen Spruch zu machen.

    Alma zog den Kopf ein.

    «Ich weiß, du vermisst ihn auch», flüsterte Josephine, ließ sich auf ein Knie hinunter und drückte den Hund an sich.

    Alma winselte leise.

    In diesem Moment schrillte die Türklingel, und sie zuckten beide zusammen.

    Josephine wischte sich die wässrigen Augen und streichelte Alma noch einmal über den Kopf. Dann erhob sie sich, zog ihren Mantel über und nahm den Schirm. In den letzten Tagen war es merklich kühler geworden, und ein beißender Herbstwind zog um die Häuser. Gestern hatte sie schrecklich gefroren. Auch heute hatten sich dunkle Wolken über Zürich zusammengeballt.

    Sie atmete tief ein und öffnete die Tür zum Treppenhaus. Ihre Beine fühlten sich bleischwer an, als sie langsam die Stufen hinunterstieg. Sie öffnete die Haustür, und sofort verstummten die Gespräche, am liebsten wäre Josephine im Erdboden versunken. Gleich neben der Tür stand Klara, zuvorderst in der Menschenmenge. Sie war ebenfalls schwarz gekleidet, jedoch nach der neuesten Mode, mit wadenlangem Kleid, gesticktem Umhang und Glockenhut. In der Hand hielt sie einen kleinen Strauß weißer Nelken, den sie ihr in die Hand drückte. Dann umarmte sie sie und sagte leise:

    «Wir schaffen das, Josy!»

    Josephine lehnte für ein paar Sekunden ihren Kopf an die Schulter ihrer Freundin. Klaras Parfum stieg ihr in die Nase, und der Schleier an ihrem Hütchen kitzelte sie am Ohr. Könnte sie doch nur für immer so stehenbleiben, in dieser tröstenden Umarmung. Doch Klara schob sie sanft wieder von sich.

    Einige Leute traten zu ihnen heran, Freds Familie, Freunde und Bekannte. Sie gaben ihr die Hand und murmelten ihr Beileid, manche umarmten sie. Josephine stand da, unfähig, etwas zu sagen oder sich zu bewegen.

    Freds Mutter drückte sie fest an sich und Josephine spürte, wie der Körper der Arbeiterfrau zitterte. Über die Schulter von Freds Mutter sah sie dessen Vater. Er schien um Jahre gealtert, seit sie ihn vor einer Woche, als die Nachricht vom Unfall seines Sohnes eingetroffen war, gesehen hatte. Seine Stirn war in tiefe Falten gelegt, und er sah sie mit geröteten Augen an. Sie konnte die Verzweiflung in seinem Blick nicht ertragen und wandte sich rasch wieder Freds Mutter zu. Diese löste sich langsam aus ihrer Umarmung und strich ihr mit beiden Händen über die Oberarme. Sie wollte etwas sagen, schluchzte aber nur leise auf.

    «Josy», sagte Klara und zupfte Josephine am Ärmel, «wir sollten los.»

    Klara führte sie zum Pferdewagen, auf den die Träger den geschlossenen Sarg gehoben hatten. Josephine ließ sich mitziehen und versuchte, auf dem groben Kopfsteinpflaster nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Hätte sie doch wenigstens bequeme Schuhe an und nicht diese Damenschühchen mit den Absätzen.

    Die Menschengruppe, die die Straße über eine halbe Häuserzeile entlang blockiert hatte, setzte sich langsam in Bewegung. Alle waren gekommen, Fred hatte viele Leute gekannt, war überall beliebt gewesen und geschätzt worden. Josephine freute sich darüber und gleichzeitig machte es sie noch trauriger. Die meisten kannte sie, doch es waren auch einige dabei, von denen sie nicht wusste, wer sie waren.

    Aus den Augenwinkeln sah sie einen Mann, der etwas abseits der Gruppe ging. Er überragte die anderen Menschen um einiges, obwohl er den Kopf gesenkt hielt. Er kam Josephine bekannt vor, doch sie wusste nicht, woher. Jetzt sah er auf, und ihre Blicke begegneten sich. Seine struppigen Haare und die Grübchen in seinen Wangen verliehen ihm trotz seiner Größe ein jungenhaftes Aussehen. Sie senkte rasch den Blick.

    Bei der Schmiede Wiedikon drängte sich der Trauerzug zwischen Straßenbahnen und Autos hindurch auf die andere Straßenseite und bewegte sich dann auf der Aemtlerstraße Richtung Friedhof Sihlfeld.

    Der Hufschlag der Pferde, das Rattern der Holzräder und das gelegentliche Murmeln der Menge plätscherten als Hintergrundgeräusch zu ihren Gedanken.

    Nun war es also so weit. Ihr Ehemann wurde begraben.

    Schon von Weitem sah Josephine die zwei schwarz gekleideten Gestalten vor dem schmiedeeisernen Friedhofstor stehen. Ihre Eltern. Der Kragen ihrer Bluse wurde noch enger.

    «Deine Eltern», sagte Klara leise und drückte Josephine, «auch das noch.»

    «Ich habe schon gedacht, dass sie kommen werden», antwortete sie ebenso leise.

    «Hast du sie benachrichtigt?»

    «Ja, ich habe ihnen eine Karte geschickt. Anrufen mochte ich nicht. Ich hätte gar nicht gewusst, was sagen. ‹Hallo, wie geht es euch? Mein Mann ist gerade gestorben.› Nach zehn Jahren, in denen wir nicht miteinander gesprochen haben. Unmöglich.»

    Klara nickte zustimmend.

    «Nun muss ich also heute nicht nur meinen Mann beerdigen, sondern auch noch meinen Eltern gegenübertreten.»

    «Denken sie wohl immer noch, dass Fred dich ihnen damals weggenommen hat?»

    «Wenn ich das wüsste.»

    Die Spitze des Trauerzugs war jetzt am Eingang des Friedhofs angekommen, und der Pferdewagen stoppte. Weit und breit war kein Pfarrer in Sicht, der hätte sie hier doch in Empfang nehmen sollen.

    Josephine blieb also nichts anderes übrig, als zu ihren Eltern zu gehen, die wie angewurzelt beim Tor stehen geblieben waren.

    «He, du drückst mir ja das Blut ab», beschwerte sich Klara.

    Sie löste Josephines Hand von ihrem Arm und schob sie nach vorne.

    «Guten Morgen», sagte Josephine und streckte ihrer Mutter die Hand hin.

    Diese schaute sie prüfend von oben bis unten an und ergriff ihre Hand dann mit festem Griff.

    «Guten Tag, Josephine. Unser herzliches Beileid.»

    «Danke», antwortete sie und zog ihre Hand zurück.

    «Ja, unser herzliches Beileid», wiederholte ihr Vater und nickte ihr förmlich zu.

    Wie immer sahen ihre Eltern wie aus dem Ei gepellt aus. Altmodisch zwar, aber sehr elegant und gepflegt. Ihr Vater trug einen maßgeschneiderten schwarzen Anzug mit Weste, goldenen Manschettenknöpfen, blütenweißem Kragen und schwarzer Fliege. Sein Schnauz war perfekt gestutzt, und auf seinem Kopf thronte ein Zylinder. An seinen Füßen glänzten frisch polierte schwarze Schuhe.

    Auch die Schnallenschuhe, die unter dem langen Rock ihrer Mutter hervorblitzten, waren makellos, die Oberflächen ohne einen Kratzer oder Fleck. Die Stoffe ihrer Kleidung waren von höchster Qualität, und jedes Detail war aufeinander abgestimmt, der Schmuck teuer und geschmackvoll. Auf ihren perfekt eingedrehten und hochgesteckten Haaren trug sie einen großen Hut mit breiter Krempe, der ihr trotz der etwas veralteten Form ein mondänes Aussehen verlieh.

    Ihr Vater räusperte sich. «Wenn wir etwas helfen können ...»

    «Dieser Sarg», unterbrach ihn Josephines Mutter, «der sieht nicht sehr ... wie soll ich es ausdrücken ... professionell hergestellt aus. Geschweige denn stabil. Wer hat ihn gezimmert?»

    «Louise», warf ihr Vater ein, «das geht uns doch nichts an.»

    Ihre Mutter schaute ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. «Man darf doch wohl noch fragen?» Ihr Vater zog es anscheinend vor, nichts mehr zu sagen, und auch Josephine ließ die Frage unbeantwortet.

    «Meine Liebe, du verstehst, dass wir nicht mit dem Trauerzug mitlaufen konnten», wechselte ihre Mutter das Thema, «das, nun, das hätte sich nicht geziemt.»

    «Natürlich nicht. Es hätte ja jemand denken können, dass ihr Bekannte aus dem Arbeitermilieu habt.»

    Ihre Mutter sah sie nun ebenfalls entrüstet an und schüttelte missbilligend den Kopf, sodass ihr Hut hin und her schwankte. «Wie auch immer», bemühte sie sich um Fassung, «deine Schwester und Emil sollten auch gleich eintreffen. Und wo bleibt eigentlich der Pfarrer? Sollte der nicht schon lange hier sein? Heinrich, ich bitte dich, frag doch einmal nach.»

    «Louise, es ist doch bestimmt nicht an uns, nach dem Pfarrer zu fragen.»

    «Mama, er wird sicher gleich hier sein.»

    In dem Moment spürte Josephine, dass sich hinter ihr etwas bewegte. Sie drehte sich um und sah Freds Eltern, die schüchtern näherkamen. Anscheinend wollten sie sich ihren Eltern vorstellen lassen. Sie lächelte das Ehepaar Wyss an und sagte dann:

    «Mama, Papa, das sind Herr und Frau Wyss, Freds Eltern. Und das sind meine Eltern, Herr und Frau Vonarburg.»

    Louise Vonarburg lächelte säuerlich und Heinrich Vonarburg tippte sich an den Hut. Die ausgestreckten Hände von Freds Eltern ignorierten sie. Diese blieben unentschlossen stehen und Freds Vater zog den Kopf ein wie ein geschlagener Hund.

    Josephine reichte es. Es war ja das Eine, wenn ihre Eltern sonst alles kritisierten, aber sich den Eltern ihres Mannes gegenüber so herablassend zu benehmen, ging zu weit. Vor allem an diesem Tag.

    Sie hakte Herrn und Frau Wyss unter und zog sie weg von ihren Eltern.

    «Es tut mir leid», flüsterte sie.

    «Da sind Charlotte und Emil», rief Klara.

    Josephines Schwester und ihr Mann kamen über die Straße, auch sie sehr elegant gekleidet. Ihre ältere Schwester umarmte sie und Emil drückte ihr die Hand. Sie entschuldigten sich für die Verspätung und erklärten, dass sie die Kinder nicht hatten mitnehmen wollen und diese dann aber prompt kurz vor ihrer Abfahrt einen ungeheuerlichen Tumult veranstaltet hätten.

    Auch Vonarburgs kamen nun heran und begrüßten Charlotte und Emil herzlich, dann herrschte Stille. Josephine kam es vor wie eine Ewigkeit.

    Endlich trat der Pfarrer aus dem Steingebäude auf der linken Seite und erlöste sie.

    Der Pfarrer führte Josephine hinter dem Pferdewagen durch das Tor und ging dann neben ihr die breite Kastanienallee hoch. Dicht hinter ihnen folgten Freds Eltern und Klara, danach die restliche Trauergemeinde. Ihre Schritte knirschten auf dem Kies, niemand sprach mehr. Am Ende der Allee thronte das Krematorium, ein imposanter Bau mit großem Portal, Säulengang, Steinfiguren und Eckpavillons. Normalerweise hätte sich Josephine an der außergewöhnlichen Architektur erfreut, doch heute sah sie das Gebäude nur wie durch einen Schleier. Vor dem Empfangshof mit dem Wasserbecken berührte der Pfarrer sie behutsam am Arm und zeigte nach links.

    «Hier durch, bitte», sagte er, und mechanisch bog Josephine auf den kleinen Weg ab. An dessen Ende konnte sie in der Grabreihe, die ihnen am nächsten war, eine dunkle Grube erkennen. Am Erdhaufen daneben lehnte ein schlichtes Holzkreuz. Genau darauf führte sie der Pfarrer zu. Die Männer luden den Sarg vom Wagen und stellten ihn neben die Grube. Der Pfarrer bedeutete Josephine, näher heranzutreten. Die anderen Leute rückten nach und versammelten sich rund um das Grab von Alfred Wyss.

    Der Pfarrer begann zu erzählen, von Gott, den Menschen, von Fred, nur allgemeine, unpersönliche Dinge, er hatte ihn nicht gekannt. Josephines Gedanken schweiften ab zu Fred, als er noch lebte und nicht in dieser Holzkiste lag. Seine Augen, seine Hände, seine Fröhlichkeit, sein lautes Lachen. Damit hatte er einen ganzen Raum füllen und alle anwesenden Leute anstecken können. Das war es auch gewesen, was sie vom ersten Augenblick an in ihren Bann gezogen hatte. Seine charismatische Art, der kaum jemand hatte widerstehen können. Seine Begeisterung für die kleinen Dinge, aber auch für die großen, für Gerechtigkeit, für Frieden, für Freiheit. Wie er sich hatte einsetzen können für andere, wie er gekämpft hatte für Menschen, denen es weniger gut ging als ihm. Und trotzdem war er immer optimistisch geblieben, hatte viel und gerne gelacht, auch über sich selbst. Sie lächelte bei der Erinnerung daran und senkte rasch den Blick. Hoffentlich hatte es niemand gesehen. Was würden die Leute denken, wenn die Witwe am Grab lächelte?

    Sie bemühte sich um eine ernste Miene und hob vorsichtig den Kopf. Ihr Blick fiel erneut auf den großen Mann, der jetzt rechts vom Sarg am Rand der Menschengruppe stand. Er hielt den Kopf gesenkt, betrachtete seine Hände, mit denen er sich an seiner Mütze festklammerte. Jetzt sah er auf und schaute ihr direkt in die Augen.

    Schnell blickte sie weg und versuchte, sich auf die Rede des Pfarrers zu konzentrieren. Doch dessen Mund bewegte sich nur, was er sagte, drang nicht bis zu ihr durch. Sie ließ den Blick über die Menschenmenge schweifen und dann hoch in den grauen Himmel. Könnte sie doch einfach wegfliegen. Floskelhafte Satzfetzen erreichten ihr Ohr: «tragisch», «in so jungen Jahren», «für die Hinterbliebenen schwer zu verstehen».

    Die eine Frage, die in ihrem Kopf kreiste, seit sie die Nachricht von Freds Tod erhalten hatte, bohrte sich wieder schmerzhaft in ihr Bewusstsein: Welchen Sinn hatte es, dass ein junger, gesunder Mann, der niemandem etwas Böses gewollt hatte, bei einem Autounfall ums Leben kam? Und sie als Witwe im Alter von neunundzwanzig Jahren zurückließ? Witwe, wie das klang.

    Sie sah wieder das Auto vor sich, wie es von der Quaibrücke hing, das Eisengeländer durchbrochen. Die Motorhaube ragte über den Fluss hinaus und das Fahrzeug schien jeden Augenblick die Balance zu verlieren und ins Wasser zu kippen. Der Fahrer hatte anscheinend die Kontrolle verloren und Fred auf dem Trottoir erfasst und überrollt. Er sei sofort tot gewesen. Danach war das Auto ins Brückengeländer gekracht; auch der Fahrer war noch an der Unfallstelle verstorben. Bis Josephine benachrichtigt worden war und auf der Brücke ankam, war schon alles geräumt und der Verkehr rollte wieder, wie wenn nichts geschehen wäre. Nur das Auto hing über dem Fluss wie eine groteske Kunstinstallation.

    Es war still, verdächtig still. Klara stupste ihr in die Seite. Verwirrt schaute sie auf und sah alle Blicke auf sich gerichtet.

    «Josy, du bist dran», flüsterte Klara.

    Was meinte ihre Freundin?

    «Die Blumen, du musst die Blumen auf den Sarg legen.»

    Der Pfarrer streckte seine Hand nach ihr aus und winkte sie zu sich heran. Sie stolperte nach vorne und fühlte sich wie früher in der Schule, wenn sie an die Wandtafel musste und nicht wusste, wie die Lösung lautete.

    Vor dem Sarg blieb sie stehen. Der Pfarrer deutete auf den Strauß in ihrer Hand. Mit zitternden Händen legte sie die weißen Nelken auf den Sarg. Tränen stiegen in ihr hoch und sie kramte nach dem Taschentuch. Als sie es herauszog, blieb die Spitzenborte des Tuches am Griff ihrer Tasche hängen und das Stoffstück fiel zu Boden. Wie ein Schneefleck lag es auf dem dunklen Boden neben ihren Füßen. Sie konnte sich nicht bewegen, das Taschentuch nicht aufheben.

    «Alles gut, Josy.» Klara war zu ihr hingetreten. Sie hob das Spitzentuch auf, schüttelte es aus und reichte es Josephine. Dann legte sie den Arm um sie und Josephine lehnte sich dankbar an ihre Freundin.

    Klara umfasste ihre Hand und sagte leise: «Es tut mir so leid.»

    Dann zog sie sie vom Sarg weg wieder an ihren Platz zurück. Josephine zitterte am ganzen Körper und Tränen liefen ihr über das Gesicht. Verschwommen sah sie, wie die anderen Leute zum Sarg traten, Blumen hinlegten und sich von Fred verabschiedeten.

    Dann sprach der Pfarrer den Segen und kündigte an, dass sie nun zur Abdankung in die Kapelle gehen würden. Der Sarg werde später von Friedhofsangestellten ins Grab hinuntergelassen und das Kreuz aufgestellt.

    Die Predigt im Raum der Friedhofskapelle bekam Josephine nur wie durch einen dicken Vorhang mit. Die Orgelmusik, das Singen der Trauergemeinde, das gelegentliche Hüsteln und Räuspern, alles schien weit weg zu sein. Sie betrachtete ihre gefalteten Hände im Schoss. Wenn nur schon alles vorbei wäre.

    Endlich erhoben sich alle zum Schlussgebet. Josephine wurde es kurz schwarz vor Augen, als sie aufstand und sie hielt sich an Klara fest, die neben ihr die Worte des Vaterunser murmelte.

    Als sie kurz darauf aus der Kapelle traten, atmete Josephine tief ein, die frische Herbstluft tat gut. Jetzt nur noch die Verabschiedung durchstehen und dann konnte sie endlich weg von hier.

    Draußen beim Tor schüttelte sie die ihr hingestreckten Hände, ließ sich über die Schultern streicheln und hörte sich die tröstenden Worte an, von denen die Leute wohl dachten, dass sie ihr halfen. Aber was sollte ihr denn helfen?

    Eigentlich wäre es Tradition gewesen, dass sie als Witwe zum Leichenmahl eingeladen hätte. Doch sie hatte ihre Schwiegereltern angefleht, dass sie darauf verzichten sollten. Die Kosten seien so schon enorm hoch. Dafür hatten diese sofort Verständnis gehabt; auch sie hatten sich allein nur für die Trauerkleidung bereits verschulden müssen.

    Josephine war es jedoch nicht nur um das Geld gegangen, sondern sie hatte gewusst, dass sie nach der Abdankung nur noch allein sein wollte. Allein mit ihren Gedanken, allein mit Fred.

    So verabschiedeten sich die schwarz gekleideten Menschen einer nach dem anderen von ihr und verließen mit gesenkten Köpfen den Friedhof. Auf der anderen Seite des Tores sah Josephine den hochgewachsenen Mann stehen. Er nickte ihr zu, setzte dann seine Mütze auf und ging mit langen Schritten Richtung Albisriederplatz.

    Als Letzte traten ihre Eltern zu ihr hin.

    Josephine wollte sich auch von ihnen zügig verabschieden, sie sehnte sich nach Ruhe. Zudem fühlte sie sich nicht in der Lage, sich nochmals mit ihnen zu unterhalten, wenn sie sich ohnehin nur Kritik anhören musste. Jedes falsche Wort konnte jetzt das Fass zum Überlaufen bringen und die alten Streitereien wieder aufleben lassen.

    Sie drückte beiden die Hand, bedankte sich, dass sie gekommen waren und wollte schon gehen, als ihre Mutter mit gepresster Stimme fragte: «Sehen wir dich wieder?»

    Josephine zupfte an ihrem Kragen herum. «Ich melde mich», antwortete sie, «lasst mir ein bisschen Zeit.»

    «Nun, du weißt, wo du uns findest. Falls du Hilfe brauchst. Dein Vater würde sich freuen, dich zu unterstützen. Das weißt du.»

    «Ja, selbstverständlich. Jederzeit», bekräftigte Heinrich Vonarburg.

    «Danke», sagte Josephine, «aber ich muss jetzt gehen.»

    Sie wandte sich um und ließ ihre Eltern stehen. Auf eigenartige Weise taten sie ihr leid.

    Fast hätte sie vergessen, Klara Adieu zu sagen, doch diese hatte sie schon eingeholt.

    «Wo willst du denn hin? Nach Hause?»

    «Nein, ganz bestimmt nicht, da fällt mir nur die Decke auf den Kopf. Ich gehe ins Büro, dort gibt es einiges zu tun.»

    «Ins Büro, jetzt? Es ist ja schon fast Abend.»

    Josephine nickte.

    «Soll ich mitkommen?», bot Klara an.

    «Nein, ich muss jetzt erstmal für mich sein», antwortete Josephine und fühlte sich schuldig, dass sie ihre Freundin, die ihr so geholfen hatte seit Freds Tod, zurückwies.

    Sie umarmte Klara zum Abschied. Dann machte sie sich auf den Weg in Richtung Innenstadt.

    Bereits am Stauffacher taten ihr die Füße weh, und am rechten kleinen Zeh begann sich eine schmerzhafte Blase zu bilden. Das steife Leder der Schuhe und die ungewohnten Absätze quälten sie und sie sehnte sich nach ihren groben, abgetragenen Alltagsschuhen, in denen sie stundenlang gehen konnte, ohne sie an ihren Füßen zu spüren. Sie war schon immer gerne zu Fuß unterwegs gewesen oder dann mit dem Fahrrad. Sie liebte es, den Fahrtwind im Gesicht zu spüren und sich im Straßenverkehr durchzuschlängeln. Geschlossene Fahrzeuge engten sie ein, und seit Freds Unfall war dieses Gefühl noch viel stärker geworden.

    Auf der Höhe der Sihl begann es zu regnen. Sie spannte den Schirm auf und versuchte, die durch den Wind schräg einprasselnden Tropfen abzuwehren. Beim Speiselokal Sihlhof überquerte sie den Fluss und kurz darauf den Schanzengraben. Fast jeden Morgen war sie diesen Weg mit Fred zusammen gegangen. Die halbe Stunde von ihrer Wohnung in Wiedikon zum Büro im Niederdorf war ihnen heilig gewesen, sie hatte nur ihnen gehört. Manchmal waren sie den ganzen Weg in ein Gespräch vertieft gewesen, manchmal hatten sie auch einfach geschwiegen. Und auch wenn sie die Umgebung in- und auswendig kannten, hatten sie jedes Mal etwas Neues entdeckt. Je nach Wetter und Jahreszeit sah die Stadt immer wieder anders aus, das Licht, die Bäume, die Farbe des Wassers. Doch heute hatte Josephine keine Augen für die Umgebung. Nie wieder würde sie diesen Weg mit Fred gehen können.

    Windböen peitschten plötzlich durch den Regen und lenkten sie von ihren düsteren Gedanken ab. Sie umfasste den Griff des Schirmes fester und bereute, dass sie bei diesem Wetter und in diesen unpraktischen Kleidern durch halb Zürich wanderte. Trotz der Kälte schwitzte sie. Der enge Spitzenkragen ihrer Bluse kratzte wie verrückt, und der lange Rock schleifte am Boden entlang. Sie wünschte, sie wäre nach der Beerdigung zuerst nach Hause gegangen und hätte bequemere Kleidung angezogen.

    Gleichzeitig war sie froh, diese äußeren Dinge zu spüren, die kalte Luft und die Nässe, die langsam durch den Stoff bis auf ihre Haut drang. Sie lenkten vom Schmerz in ihrer Brust ab und erlaubten ihr, für einige Minuten etwas anderes zu empfinden. Seit Freds Tod fühlte sie sich, als ob ihr Körper vorne in der Mitte aufgeschnitten worden wäre und ihr Inneres schutzlos daliegen würde. Wie sollte eine solche Wunde jemals heilen?

    Der Straßenlärm wurde lauter, je näher sie dem Stadtzentrum kam. Die Bahnhofstraße mit ihrem regen Verkehr und den vielen Leuten lag nun quer vor ihr. Trotz der schmerzenden Füße schritt sie aus, schlüpfte zwischen den Menschen und Fahrzeugen hindurch und erreichte endlich die Limmat. Jetzt war es nicht mehr weit. Über die Rudolf-Brun-Brücke gelangte sie zum Limmatquai und dann hoch ins Niederdorf.

    Auf dieser Seite der Stadt herrschte jahrein, jahraus emsiges Treiben. Auch jetzt hörte Josephine, schon bevor sie in die Hauptgasse einbog, das Hämmern und Schleifen der Handwerker. Händler boten ihre Waren feil und versuchten die Passanten mit lautstarkem Rufen anzulocken. Waschfrauen schrubbten mit roten Gesichtern und Händen Kleidungsstücke in großen Zubern. Ein Rosskarren polterte durch die Straße, Josephine konnte sich gerade noch an eine Häuserwand drücken, die Holzräder des Wagens kämpften mit dem Kopfsteinpflaster. Kinder rannten in dem ganzen Getümmel frei herum und spielten Fangen. Ihr stiegen die unterschiedlichsten Gerüche in die Nase, an jeder Hausecke ein anderer. Dabei gehörten verbranntes Fett, verfaulte Küchenabfälle und Pferdeschweiß noch zu den angenehmeren.

    Was ihre Mutter wohl denken würde, wenn sie diesen Rummel sähe? Ihre Mutter. Ob sie in ihrem Leben jemals einen Fuß ins Niederdorf gesetzt hatte?

    «Hoi Josephine», rief jemand laut über die Gasse, «was machst du denn noch so spät hier an einem Freitagnachmittag?»

    Die Stimme holte sie zurück in die Realität. Sie gehörte zu Hans Schmid, dem Wirt des Gasthauses, das gegenüber von Freds Büro lag und in dem Josephine und Fred mindestens einmal pro Monat zu Mittag gegessen hatten.

    Sie murmelte etwas und eilte weiter. Obwohl Hans eine gute Seele war, hatte sie keine Lust, mit ihm zu sprechen. Offensichtlich hatte er noch nichts von Freds Unfall gehört. Und das Letzte, was sie im Augenblick wollte, war, noch einer Person zu erzählen, dass ihr Mann tot war. Sie bog um die Hausecke in den kleinen Vorhof und eilte auf die Tür des zweistöckigen Gebäudes zu, in dem Freds Büro untergebracht war. Das Haus lag etwas zurückversetzt von der Straße und sah aus, als sei es zwischen die anderen Altstadthäuser hineingezwängt worden.

    Alfred Wyss, Auskunftsstelle für vermisste Personen, Flüchtlinge und Kriegsgefangene stand dicht gedrängt auf einem kleinen Schild neben der Klingel.

    Josephine schloss die schwere Holztür auf, stemmte sich dagegen und schob sie mühsam auf. Über die schiefe Treppe gelangte sie nach oben in den ersten Stock. Sie schloss die Tür mit dem Milchglaseinsatz auf und öffnete sie. Die Leere, die sich vor ihr auftat, schnürte ihr für ein paar Sekunden die Luft ab. Zwar sah das Büro aus wie immer, alles war an seinem Platz beziehungsweise in Fredscher Manier unordentlich verteilt. Doch er selbst fehlte.

    Erschöpft ließ sie sich auf einen der Besucherstühle vor dem großen Schreibtisch fallen. Hut und Handschuhe warf sie auf den Stuhl neben sich und zog die durchnässten Schuhe aus. Ihr Atem ging schnell, und die Hitze stieg ihr ins Gesicht. Sie war zu hastig gelaufen. Ächzend schälte sie sich aus dem engen Jäckchen und öffnete die obersten Knöpfe ihres Blusenkragens. Sie lehnte sich zurück und wartete, bis sich ihr Herzschlag beruhigt hatte.

    Es war dunkel im Raum. Es war immer dunkel in der Auskunftsstelle, besonders jetzt im Winterhalbjahr. Die kleinen Fenster und die hohen Häuser rundherum ließen nicht viel Licht herein. Sie schaltete die Schreibtischlampe an und ein heller Strahl fiel auf die Holzplatte. Die braunen Möbel – Schreibtisch, Stühle, Regale, Aktenschränke – schienen die wenigen Lichtstrahlen aufzusaugen. Josephine hatte die Büroausstattung nie sonderlich gefallen, sie hätte gerne hellere, leichtere Stücke gehabt. Doch Freds Vater hatte bei der Eröffnung der Auskunftsstelle vor vier Jahren darauf bestanden, dass er die Einrichtung beisteuerte. Sein Schreinerstolz hatte es nicht zugelassen, dass sein Sohn und dessen Frau Möbel kauften. Nur ein kleiner weißer Tisch mit passendem Stuhl in der Ecke fiel aus dem Rahmen. Dies war ihr Arbeitsplatz, an dem sie jeden Tag Freds Papierkram erledigt hatte.

    Sie griff nach dem Bilderrahmen, der mit der Rückseite zu ihr auf dem Schreibtisch stand. Ihr Hochzeitsfoto. Fred schaute ernst in die Kamera und hielt sie fest im Arm, sie selbst lachte übers ganze Gesicht und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Er hatte sich immer lustig gemacht über sie, dass sie es nicht einmal schaffte, auf einem Foto ernst zu schauen. Sanft strich sie mit dem Zeigefinger über

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