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Der Fluch der Muskatnuss: Gleichnis für einen Planeten in Aufruhr
Der Fluch der Muskatnuss: Gleichnis für einen Planeten in Aufruhr
Der Fluch der Muskatnuss: Gleichnis für einen Planeten in Aufruhr
eBook435 Seiten7 Stunden

Der Fluch der Muskatnuss: Gleichnis für einen Planeten in Aufruhr

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Über dieses E-Book

Auf einer indonesischen Insel fällt eine Öllampe zu Boden, kurz danach begehen niederländische Soldaten ein Massaker an den Inselbewohnern.
Wie hängen diese beiden Geschehnisse zusammen und was geschah danach? Mit dieser Frage beginnt Amitav Ghosh seine Recherche auf den Spuren der Muskatnuss. Heute alltägliches Gewürz, galt sie im 17. Jahrhundert als Luxusgut ‒ allein eine Handvoll davon reichte aus, um einen Palast zu erbauen ‒, denn die seltene Frucht wuchs nur auf jener Insel, die niederländische Truppen vornehmlich deshalb in Besitz nahmen, um das Handelsmonopol für die Niederländische Ostindien-Kompanie zu sichern. Während Amitav Ghosh die Reise der Muskatnuss nachzeichnet, veranschaulicht er eindrucksvoll die Mechanismen von Kolonialismus und Ausbeutung der Einheimischen sowie der Natur durch westliche Länder. Mitreißend stellt er dabei die Verbindung geschichtlicher Entwicklungen mit aktuellen Realitäten her, verkettet niederländische Stillleben und die Nomenklatur nach Linné mit der Black-Lives-Matter-Bewegung, der Covid-Pandemie und der Standing Rock Sioux Reservation, um zu zeigen, dass der heutige Klimawandel in einer jahrhundertealten geopolitischen Ordnung verwurzelt ist, die vom westlichen Kolonialismus und seiner mechanistischen Weltsicht – die Erde als bloßem Ressourcenlieferant für die Menschheit – geschaffen wurde.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum12. Okt. 2023
ISBN9783751820127
Der Fluch der Muskatnuss: Gleichnis für einen Planeten in Aufruhr
Autor

Amitav Ghosh

Amitav Ghosh, 1956 in Kolkata geboren, lebt heute als Autor und Essayist in New York. Seine Romane wurden in über dreißig Sprachen übersetzt und zahlreich ausgezeichnet, unter anderem gewann Der Glaspalast 2001 den Frankfurt eBook Award und Das mohnrote Meer stand 2008 auf der Shortlist für den Man Booker Prize, 2018 war er der erste Autor, der mit einem englischsprachigen Werk mit dem höchsten indischen Literaturpreis, dem Jnanpith Award, ausgezeichnet wurde. Der Fluch der Muskatnuss ist sein zweites Sachbuch, in dem er die Klimakrise thematisiert.

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    Buchvorschau

    Der Fluch der Muskatnuss - Amitav Ghosh

    1

    Eine Lampe fällt um

    Bis heute weiß niemand genau, was in jener Aprilnacht im Jahre 1621 in Selamon geschah. Man weiß nur, dass in dem Gebäude, in dem der niederländische Kolonialbeamte Martijn Sonck einquartiert war, eine Lampe zu Boden fiel.

    Selamon ist ein Dorf auf der größten der Banda-Inseln, einer winzigen Inselgruppe am äußeren südöstlichen Ende des Indischen Ozeans.¹ Genauer, am nördlichen Ende Lonthors, manchmal auch als Groß Banda (Banda Besar) bezeichnet, weil sie die größte der Gruppe ist.² Der Beiname ›Groß‹ ist ein bisschen übertrieben für ein Eiland, das nur gut vier Kilometer lang und etwa achthundert Meter breit ist. Doch innerhalb eines Archipels mit Mini-Inseln, die auf den meisten Karten nur als ein paar verstreute Pünktchen eingezeichnet sind, ist es auch gar nicht so klein.³

    Und da sitzt nun Martijn Sonck am 21. April 1621, den halben Globus von seinem Heimatland entfernt, in Selamons bale-bale, der Versammlungshalle des Dorfes, die er als Quartier für sich und seine Berater beschlagnahmt hat.⁴ Er hat auch die altehrwürdigste Moschee der Siedlung besetzt, »ein wunderschönes Gebäude« aus weißem Stein, innen luftig und sauber, zwei große Gefäße mit Wasser am Eingang, damit sich die Gläubigen vor dem Eintreten die Füße waschen können. Die Dorfältesten sehen die Inbesitznahme ihrer Moschee alles andere als gern, doch Sonck hat ihre Unmutsbekundungen barsch abgetan – sie hätten jede Menge andere Orte, an denen sie ihre Religion ausüben könnten.

    Das ist typisch für alles, was Sonck in der kurzen Zeit seit seiner Ankunft auf der Insel Lonthor veranstaltet hat. Er requiriert die besten Häuser für seine Truppen und sendet Soldaten in die Dörfer aus, die die Leute dort in Angst und Schrecken versetzen. Doch das ist nur ein Vorspiel, sozusagen die Vorarbeit für das, was er eigentlich vorhat. Sein Auftrag lautet nämlich, das Dorf zu zerstören und alle Bewohner von der idyllischen Insel mit ihren üppigen grünen Wäldern und dem glitzernden blauen Meer zu vertreiben.

    Dieser Plan ist so brutal, dass die Dorfbewohner ihn vielleicht noch nicht in seiner ganzen Tragweite begriffen haben. Sonck selbst macht allerdings kein Hehl aus seinen Absichten. Im Gegenteil, er hat den Dorfältesten unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er ihre unbedingte Kooperation bei der Zerstörung ihrer Siedlung und der Vertreibung ihrer Landsleute erwartet.

    Sonck ist auch nicht der erste niederländische Kolonialbeamte, der Selamon diese Ansage macht. Die Dorfbewohner samt den anderen Inselbewohnern ertragen schon seit Wochen stets von den gleichen Forderungen begleitete Drohungen und Machtdemonstrationen. Sie sollen die Mauern um ihr Dorf niederreißen, ihre Waffen und Werkzeuge – sogar die Ruder ihrer Boote – abgeben und Vorkehrungen für den bevorstehenden Wegzug von der Insel treffen. Diese Forderungen sind so radikal, so haarsträubend, dass sich die derart Bedrängten sicherlich gefragt haben, ob die Niederländer noch recht bei Trost seien. Doch Sonck hat keine Mühe gescheut, ihnen klarzumachen, dass er es ernst meint: Sein Vorgesetzter, kein Geringerer als der Generalgouverneur höchstpersönlich, sei mit seiner Geduld am Ende. Die Menschen in Selamon müssten seine Befehle bis ins kleinste Detail befolgen.

    Wie muss es sich anfühlen, vor jemandem zu stehen, der einem unmissverständlich zeigt, dass er die Macht hat und fest dazu entschlossen ist, die Welt, in der man lebt, zu zerstören?

    Seit Jahrzehnten schon wehren sich die Bewohner Selamons und ihre bandanesischen Landsleute nach Kräften gegen die Niederländer und haben sie manchmal sogar vertrieben. Aber mit einer Truppe, die so groß und gut bewaffnet ist wie die von Sonck, haben sie es noch nie zu tun gehabt. Zahlenmäßig unterlegen, versuchen sie, soweit es geht, Sonck Zugeständnisse zu machen: Während manche Dorfbewohner in die umliegenden Wälder geflüchtet sind, bleiben auch recht viele vor Ort, vielleicht in der Hoffnung, dass das Ganze ein Irrtum sei und die Niederländer abzögen, wenn sie, die Bandanesen, nur durchhielten.

    Die Dagebliebenen, darunter viele Frauen und Kinder, achten darauf, den Niederländern keinerlei Vorwand zur Gewaltanwendung zu geben. Aber Sonck hat einen Auftrag zu erfüllen, wofür er denkbar schlecht geeignet ist – er ist Steuerbeamter, kein Soldat –, und vermutlich plagt ihn das Gefühl, dieser Aufgabe nicht gewachsen zu sein. In der Gefügigkeit der Dorfbewohner wittert er aufkeimende Wut und wünscht sich womöglich, dass sie ihm einen Grund liefern – irgendeinen –, seine Befehle vollständig auszuführen.

    So steht es auch am Abend des 21. April, als er sich mit seinen Beratern in das requirierte Versammlungshaus in Selamon zurückzieht, um seine Gemütsverfassung nicht zum Besten. Es liegt eine solche Spannung in der Luft, dass die Stille wie der Vorbote eines Erdbebens scheint.

    Die Atmosphäre ist so geladen, dass jemand in Soncks Seelenzustand das Herunterfallen eines Gegenstandes wahrscheinlich nicht als normales Missgeschick erlebt, sondern als böses Omen. Da muss sich doch ein finsteres Vorhaben ankündigen. Als die Lampe also umkippt, denkt Sonck sofort, das sei das Signal für einen Überraschungsangriff auf ihn und seine Soldaten. Er und seine in Panik versetzten Berater schnappen sich ihre Waffen und beginnen willkürlich um sich zu schießen.

    Die Nacht ist dunkel, »so dunkel wie nur eine mondlose Nacht in Ostindien sein kann«, und wenn man die Hand nicht vor Augen sieht, fällt es leicht, sich einzubilden, eine gespenstische Armee schleiche sich heran. Sonck und seine Berater feuern Salve um Salve auf ihren unsichtbaren Feind ab, selbst zur Verblüffung ihrer eigenen Wachen, die keinerlei Anzeichen eines Angriffs bemerkt haben.

    Die Banda-Inseln liegen auf einer der Bruchlinien, an denen die Erde spürbar lebt. Die Inseln und ihr Vulkan verdanken ihre Existenz dem Pazifischen Feuerring, der von Chile im Osten bis zum Rand des Indischen Ozeans im Westen verläuft. Der noch immer aktive Vulkan Gunung Api (»Feuerberg«) mit seinem beständig in wirbelnde Wolkenschwaden und hochwabernden Dampf gehüllten Gipfel erhebt sich hoch über den Bandas.

    Er ist einer von vielen Vulkanen in diesem Teil des Ozeans; die ihn umgebenden Gewässer sind von wunderschön geformten, majestätisch aus den Wellen aufragenden kegelförmigen Bergen übersät, manche bis zu tausend Meter hoch und höher. Ja, die Namen selbst der Region, Maluku, und der Inseln, Molukken, leiten sich angeblich von dem Wort Molòko her, das Berg oder Berginsel bedeutet.

    Die Inselberge von Maluku brechen oft mit verheerender Kraft aus und bringen den Menschen in ihrer Umgebung Tod und Verderben. Aber die Ausbrüche haben auch etwas Magisches, Geburtswehen Ähnliches, und sie schleudern Mischungen von chemischen Substanzen heraus, die mit den Winden und dem Wetter in der Region zusammenwirken und Wälder erschaffen, die nur so strotzen vor Wundern und seltenen Dingen.

    Der Gunung Api hat den Banda-Inseln eine Pflanzenart geschenkt, die auf dem winzigen Archipel wächst und gedeiht wie nirgendwo sonst, einen Baum, auf dem sowohl die Muskatnuss als auch die Muskatblüte wachsen.

    Dabei sind er und seine Sprösslinge von ganz unterschiedlichem Temperament. Bis zum achtzehnten Jahrhundert war er sehr heimatverbunden und begab sich aus seinem heimischen Maluku nicht hinaus, während die Muskatnüsse und die Muskatblüte unermüdlich reisten. Ihre weiten Wege kann man leicht auf einer Karte nachvollziehen, weil jede einzelne Muskatnuss und jedes Fetzchen Muskatblüte von den Banda-Inseln und Umgebung kamen. Mit der Folge, dass natürlich, wo immer vor dem achtzehnten Jahrhundert in einem Text von der Muskatnuss die Rede ist, automatisch die Verbindung zu den Banda-Inseln hergestellt wird. In chinesische Texte findet die Muskatnuss schon ein Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung Eingang, in lateinische hundert Jahre später.⁶ Doch vermutlich gab es sie in Europa und China schon lange, bevor sie in schriftlichen Aufzeichnungen auftauchte. Ganz bestimmt in Indien, wo man eine verkohlte Muskatnuss in einer archäologischen Grabungsstätte fand, die auf die Zeit von vierhundert bis dreihundert vor unserer Zeitrechnung zurückverweist. Die erste einigermaßen zuverlässig zu datierende Erwähnung (der Muskatblüte) in einem Schriftstück folgte zwei oder drei Jahrhunderte später.⁷

    Eines also steht fest: Längst bevor die ersten Europäer Maluku erreichten, sind Muskatnüsse schon Tausende von Kilometern über die Weltmeere gereist.⁸ Und europäische Seefahrer kamen wiederum nach Maluku, weil pflanzliche Produkte wie die Muskatnuss lange vor ihnen in die entgegengesetzte Richtung gesegelt waren.⁹

    Mit diesen Reisen der Muskatnüsse, der Muskatblüte und anderer Gewürze durch die bekannte Welt entstanden Handelsnetzwerke, die über den Indischen Ozean bis tief nach Afrika und Eurasien verliefen.¹⁰ Die Fahrtwege und Knotenpunkte dieser Netzwerke und die darin tätigen Menschen wandelten sich mit der Zeit ungemein, Königreiche entstanden und zerfielen, aber die Wege der Muskatnuss blieben über mehr als ein Jahrtausend lang bemerkenswert konstant, Umfang und Wert des Handels nahmen sogar zu. Man schätzte Muskatnüsse, Gewürznelken, Pfeffer und andere Gewürze nicht nur wegen ihrer kulinarischen Verwendungsmöglichkeiten, sondern auch wegen ihrer angeblich heilenden Wirkung.¹¹ Als die Ärzte im elisabethanischen England des sechzehnten Jahrhunderts befanden, man könne mit Muskatnüssen die Pest heilen, die in immer neuen Epidemien Eurasien heimsuchte, schoss deren Preis in die Höhe.¹² Im späten Mittelalter waren sie so kostbar, dass man mit einer Handvoll ein Haus oder ein Schiff kaufen konnte.¹³ Überhaupt waren Gewürze in dieser Zeit so astronomisch teuer, dass der Preis unmöglich allein mit ihrer Nützlichkeit erklärbar war. Im Grunde waren sie Fetischobjekte, Urformen der Ware, und wurden für wertvoll gehalten, weil sie als Neid erregende Symbole von Luxus und Reichtum insofern perfekt Adam Smiths Erkenntnis entsprachen, als dass »man Reichtum nicht deshalb begehrt, weil er materielle Bedürfnisse befriedigt, sondern weil er von anderen begehrt wird«.¹⁴

    Vor dem sechzehnten Jahrhundert wanderten die Muskatnüsse auf ihren Reisen durch viele Orte und viele Hände. Zum Schluss kamen sie über Ägypten oder die Levante nach Venedig, das in den Jahrhunderten vor den Fahrten Kolumbus’ und Vasco da Gamas ein streng kontrolliertes Monopol auf den europäischen Gewürzhandel besaß.¹⁵ Kolumbus kam aus Genua, wo man das Monopol auf den Osthandel der Erzrivalin, der Allerdurchlauchtigsten Republik Venedig, alles andere als gern sah. Nach Nord- und Südamerika sowie zum Indischen Ozean brachen die frühen europäischen Seefahrer also deshalb auf, weil das Handelsmonopol Venedigs gebrochen werden sollte.¹⁶ Eines der wichtigsten Ziele dabei war, die Inseln zu finden, auf denen die Muskatnuss beheimatet war. Für die Seefahrer und die sie finanzierenden Monarchen stand viel auf dem Spiel; der Wettlauf um die Gewürze, heißt es, war der Wettlauf ins All der damaligen Zeit.¹⁷

    Anonym, Die Muskatnüsse der Banda-Inseln (1619), Kupferstich. Rijksmuseum Amsterdam.

    Kein Wunder, dass der Muskatnussbaum Niederländer wie Sonck um den halben Erdball zu der Insel Lonthor lockte.

    Eine Muskatnuss aus der Frucht zu lösen ist, als fördere man einen kleinen Planeten zutage.

    Und wie ein Planet ist die Muskatnuss von mehreren immer größeren Schalen umgeben. Zuerst kommt die mattbraune Haut, eine Art Exosphäre. Dann kommt das blasse, duftende Fleisch, das zum Kern hin fester wird, wie die obere Atmosphäre eines Planeten. Und wenn man das Fleisch ganz entfernt, hat man eine Kugel vor sich, in etwas gehüllt, das eine Stratosphäre von leuchtend blutroten Wolken sein könnte. Das ist die duftende äußere Hülle, die Macis oder Muskatblüte. Entfernt man diese Muskatblüte, stößt man auf ein weiteres Gehäuse, eine glänzende, geriffelte schokoladenbraune Schale, die die Nuss einhüllt wie eine schützende Troposphäre. Erst wenn diese Schale geknackt ist, hat man die Nuss in der Hand; ihre Oberfläche ist bedeckt von mattbraunen Kontinenten auf elfenbeinfarbenen Flecken.

    Bricht man die Nuss dann auf, sieht man in ihrem Inneren etwas wie eine geologische Struktur – die aber aus einer einzigartigen Mischung von Substanzen besteht, die das Aroma verströmen und psychotropische Wirkungen entfalten, die Superkräfte der Nuss.

    Wie einen Planeten kann man auch die Muskatnuss nie zur gleichen Zeit ganz sehen. Wie der Mond, ja, wie jedes kugelförmige (oder quasi kugelförmige) Objekt hat auch die Muskatnuss zwei Hemisphären, und wenn eine im Licht liegt, liegt die andere notwendigerweise im Schatten. Sieht das menschliche Auge eine Hälfte, bleibt die andere verborgen.

    Die Insel Lonthor hat die Form eines Bumerangs, gleich daneben liegen zwei weitere Inseln, Banda oder auch Gunung Api und Banda Neira, ein winziges Eiland, auf dem es schon 1621 zwei gewaltige niederländische Forts gab. Die drei Inseln sind Reste eines ausgebrochenen Vulkans, gruppiert um seinen nun unter Wasser befindlichen Krater.¹⁸ Das Meer zwischen ihnen ist gut geschützt und so tief, dass Hochseeschiffe durchfahren können. Am Abend des 21. April ankert dort die Flotte, mit der Martijn Sonck gekommen ist.

    In stillen Nächten sind Geräusche von den Inseln ringsum auf den Schiffen gut zu hören, wie nun von Lonthor das aufgeregte Knattern der Musketenschüsse auf der Nieuw-Hollandia, dem Flaggschiff des Befehlshabers der Flotte, Generalgouverneur Jan Pieterszoon Coen. Von Beruf Kaufmann mit besonderen Kenntnissen in Buchhaltung ist der Dreiunddreißigjährige schon seit drei Jahren Generalgouverneur. Als Mann mit schier unerschöpflicher Energie, tüchtig, zielstrebig, ist er durch die Ränge der Niederländischen Ostindien-Kompanie (Vereenigde Oostindische Compagnie oder VOC) nach oben geschossen wie ein Ascheschwall aus einem Vulkan. Hinter seinem Rücken nennt man ihn »de schraale/dürrer Alter«, er nimmt kein Blatt vor den Mund und ist schroff und skrupellos.¹⁹ In einem Brief an die siebzehn Heeren im Vorstand der Kompanie bemerkt er einmal: »Nichts in der Welt verleiht einem mehr Rechte als die Macht.«²⁰

    Coen, dem mächtigsten Statthalter der mächtigsten Handelsgesellschaft der Welt, sind die Banda-Inseln wohlbekannt.²¹ Vor zwölf Jahren war er zwecks eines Vertrags mit den Bewohnern von Banda als Mitglied einer niederländischen Truppe hier.²² Während der Verhandlungen wurde ein Teil der Soldaten an der Küste von Banda Neira aus dem Hinterhalt angegriffen und sechsundvierzig von ihnen einschließlich des befehlshabenden Offiziers von den Bandanesen massakriert.²³ Coen war einer von denen, die mit dem Leben davonkamen, doch seine Erinnerungen an das Erlebte prägen seine Haltung zur Mission der Niederländer auf den Banda-Inseln.²⁴

    Seitdem die ersten holländischen Schiffe das Archipel erreichten, ist es Ziel der ehrenwerten Ostindien-Kompanie, auf den Banda-Inseln ein Handelsmonopol zu errichten.²⁵ Das ist aber schwer durchzusetzen, denn das Konzept eines Handelsmonopols ist zwar in Europa üblich, den Handelstraditionen im Indischen Ozean jedoch vollkommen fremd.²⁶ An diesen Gewässern konkurrieren Umschlaghäfen und Seefahrerstaaten immer schon darum, so viele fremde Händler wie möglich anzuziehen. Deshalb hießen die Bandanesen auch die ersten Europäer willkommen, die zu ihnen kamen: ein kleines Kontingent Portugiesen, darunter Ferdinand Magellan. Das war schon 1512, seitdem aber haben die Bandanesen (sehr zu ihrem Leidwesen) erfahren müssen, dass die Europäer – ganz gleich, welcher Nationalität – alle nur auf eines aus sind: einen Vertrag, der ihnen das exklusive Recht an den Muskatnüssen und der Muskatblüte der Inseln garantiert.²⁷

    Ein solches Recht können die Bandanesen aber gar nicht zusichern. Sie können doch nicht aufhören, weiter mit ihren üblichen Partnern an den nahen und fernen Küsten zu handeln! Bei Lebensmitteln und vielem anderen sind sie auf ihre Nachbarn angewiesen.²⁸ Außerdem sind sie selbst erfahrene Handelsleute, und viele haben enge Verbindungen zu Partnern am Indischen Ozean; ihre Freunde können sie wohl kaum mit leeren Händen wegschicken.²⁹ Es wäre auch wirtschaftlich unsinnig, denn die Europäer zahlen oft nicht so gut wie die asiatischen Käufer. Überdies finden die Bandanesen, wie die meisten Asiaten, europäische Waren nicht sonderlich begehrenswert. Was sollen sie in ihrem warmen Klima mit Wollstoffen anfangen?³⁰

    Für die Niederländer wäre es einfacher, wenn die Bandanesen einen mächtigen Herrscher hätten, einen Sultan, den sie durch Zwang gefügig machen könnten, wie es auf anderen Inseln in Maluku geschehen ist.³¹ Einen Alleinherrscher, den man bedrohen und schikanieren kann, damit er seine Untertanen zwingt, den Forderungen der Fremden nachzukommen, gibt es auf den Banda-Inseln jedoch nicht.³² »Sie haben weder König noch Herrn«, resümierten die ersten portugiesischen Seefahrer, die die Inseln besuchten, »und regiert werden sie ausschließlich nach dem Rat ihrer Ältesten, und da diese oft verschiedener Meinung sind, streiten sie miteinander.«³³

    Das stimmt so natürlich nicht ganz. Unter den Bandanesen gibt es adlige Familien und Handelsdynastien, die großen Reichtum und viele Diener besitzen, und die Menschen sind kampfeslustig, leben in ummauerten Siedlungen und fechten manches Mal heftige Kämpfe gegeneinander aus.³⁴ Aber keine einzige Siedlung oder Familie hat jemals das ganze Archipel unterworfen; offenbar sind die Bandanesen einer zentralistischen, einheitlichen Herrschaft vollkommen abhold.

    Nach regionaler Überlieferung wurden die Inseln einst von vier Königen regiert.³⁵ Bei Ankunft der ersten niederländischen Schiffe waren die einzigen Autoritätspersonen aber nur ein paar Dutzend Älteste und Orang Kaya, was »reiche Menschen« bedeutet.³⁶ Einige Älteste tragen zwar den Titel Hafenmeister beziehungsweise Schahbandar, aber weder sie noch einer der Orang Kaya besitzen die politische Macht, dem gesamten Archipel, so klein es auch ist, einen Vertrag aufzuzwingen.³⁷

    Doch seit mehr als hundert Jahren verfolgen die Europäer – zuerst die Portugiesen und Spanier, dann die Niederländer – hartnäckig das Ziel, das Monopol für die wichtigsten Erzeugnisse der Inseln, Muskatnuss und Muskatblüte, zu erlangen.³⁸ Die Rücksichtslosesten sind dabei die Niederländer. Immer und immer wieder schicken sie Flotten zu dem Zweck, den Inselbewohnern Verträge aufzunötigen.³⁹ Diese haben sich ihnen, so gut sie konnten, widersetzt und dabei oft Hilfe von anderen Europäern angenommen.⁴⁰ Aber mit ihren insgesamt nur fünfzehntausend Menschen kommen sie gegen die mächtigste Kriegsflotte der Welt nicht an.⁴¹ Nur sehr widerstrebend haben die Ältesten mehrere Abmachungen unterzeichnet, manchmal, ohne dass sie überhaupt wussten, was darin stand, weil sie auf Niederländisch verfasst waren.⁴² Insgeheim aber haben sie weiter mit anderen Kaufleuten gehandelt oder sich, wenn möglich, mit Waffengewalt gewehrt wie 1609, als sie die Gruppe Niederländer attackierten, zu der der zukünftige Generalgouverneur Jan Pieterszoon Coen gehörte.⁴³

    Der ist seit diesem Massaker der Überzeugung, die Bandaneezen seien unverbesserlich und das Banda-Problem erfordere eine endgültige Lösung: Die Einwohner müssen von den Inseln entfernt werden. Andernfalls werde die VOC niemals ein Monopol für die Muskatnuss und die Muskatblüte etablieren können. Sind die Bandanesen erst einmal weg, kann man Siedler und Sklaven auf die Inseln bringen und eine neue Wirtschaftsweise einführen. Man würde damit zwar von der gängigen niederländischen Praxis abweichen, sich auf den Handel zu konzentrieren und auf den Erwerb von Territorien zu verzichten,⁴⁴ aber da der Muskatnusshandel die völlige Herrschaft über die Banda-Inseln voraussetzt, geht es jetzt nicht anders.⁴⁵ Und Eile ist geboten. Denn die Engländer sind den Niederländern von Amerika bis Ostindien dicht auf den Fersen und haben sich vor Kurzem auf der winzigen Banda-Insel Run festgesetzt.⁴⁶ Coen will um keinen Preis zulassen, dass sie auf dem Archipel weiter Fuß fassen.

    Den Direktoren der VOC teilt er mit: »Meiner Meinung nach wäre es am besten, ausnahmslos alle Bandanesen aus dem Land zu vertreiben«, und genau mit diesem Vorhaben ist er dieses Mal hierhergekommen.⁴⁷ Um den Job so effizient wie möglich zu erledigen, hat er seine Flotte um ein Kontingent von achtzig japanischen Söldnern vergrößert, Ronin, herrenlose Samurai. Sie sind nicht nur billiger und zäher als europäische Soldaten, sondern auch ausgebildete Schwertkämpfer und äußerst geschickte Scharfrichter, Experten in der Kunst des Köpfens und Zerhackens.⁴⁸

    Das Rätsel der Lampe von Selamon hätte mich nicht dermaßen beschäftigt, wenn sich nicht menschliches und nichtmenschliches Handeln so unheimlich gekreuzt hätten.

    Mit dem Schreiben dieses Kapitels habe ich Anfang März 2020 begonnen, eben in dem Moment, als sich ein mikroskopisch kleines Ding, das neueste Coronavirus, in Windeseile auf diesem Planeten verbreitete, kaum zu stoppen und extrem bedrohlich. Während Autos und Menschen aus den Straßen meines Wohnorts Brooklyn verschwanden, überkam mich ein seltsames Empfinden, als sei ich an einem anderen Ort, und beim Lesen der Notizen von meinem Besuch der Banda-Inseln im November 2016 hatte ich das unheimliche Gefühl, ich sei unkörperlich zu dem Archipel zurückgekehrt.

    Ich hatte dort in einem Hotel gewohnt, das ein Mann namens Des Alwi erbauen ließ, der früher als der Radscha der Banda-Inseln bekannt war. Er gehörte einer der prominentesten Familien auf den Inseln an, starb 2010, und alle, die ihn kannten, erinnern sich an ihn als ungewöhnlich charismatisch und überlebensgroß. In seiner Funktion als Autor und Diplomat gründete er eine Stiftung zur Pflege des Erbes der Inseln, mithilfe derer nicht nur viele bröckelnde Gebäude aus der Kolonialzeit restauriert, sondern auch etliche Bücher und Broschüren gedruckt wurden, unter anderem die Einleitung zu einer Geschichte der Inseln von einem Freund Alwis, dem US-amerikanischen Historiker Willard A. Hanna. Und in diesem Buch mit dem Titel Indonesian Banda. Colonialism and Its Aftermath in the Nutmeg Islands las ich zum ersten Mal von der umgekippten Lampe in Selamon am 21. April 1621.

    Obwohl dieses Detail nur beiläufig erwähnt wurde, ging es mir nicht mehr aus dem Kopf. Warum hatte ein solch harmloses, alltägliches Malheur eine solche Panik unter Soncks Beratern ausgelöst?

    Als die Stille der Nächte in Brooklyn nur von den Sirenen vorbeirasender Krankenwagen unterbrochen wurde, konnte ich mir allerdings gut vorstellen, dass uns alle ein plötzliches, unerwartetes Geräusch an die uns umgebenden, unsichtbaren nichtmenschlichen Wesenheiten gemahnen konnte, die so in das Alltagsleben eingreifen, dass gewöhnliche Ereignisse eine vollkommen andere Bedeutung annehmen.

    Nicht weit von meiner Wohnung befindet sich eines der größten Krankenhäuser Brooklyns. Damals forderte Covid-19 so viele Menschenleben, dass man die Toten draußen in Kühlwagen lagern musste. Wenn ich aus dem Haus trat und spürte, wie die schiere Angst durch die Straßen um mich herum wallte, empfand ich eine Art Verwandtschaft mit den schreckerfüllten Bewohnern von Selamon, als sie sich in ihren Häusern zusammenkauerten und fragten, ob das Fallen der Lampe ein böses Omen für künftig Schlimmeres war.

    Ich wollte mehr über die heruntergefallene Lampe wissen. Aber wie sollte ich anfangen? Die Schwierigkeiten, Licht in einen Moment zu bringen, der vier Jahrhunderte zurück in der Vergangenheit liegt, werden noch um einiges größer, wenn der Schauplatz des Geschehens so weit entfernt und vergessen ist wie das Banda-Archipel. Und natürlich haben nur wenige Wissenschaftler über die Inselgruppe geschrieben; die Ereignisse von 1621 liegen im Dunklen und werden selbst in vielen historischen Abhandlungen und Ethnografien der Region übergangen.⁴⁹ Wo hatte Hanna dieses Detail gefunden? Bei der Durchsicht des Buches stellte ich fest, dass seine Hauptquelle eine Monografie war: De vestiging van het Nederlandsche gezag over de Banda-Eilanden (1599–1621) [»Die Errichtung der niederländischen Herrschaft über die Banda-Inseln (1599–1621)«]. Verfasst hatte es J. A. Van der Chijs, und das Buch erschien 1886 in Batavia (Jakarta).

    Während des Lockdowns in New York war ich damals wie so viele andere ständig wie benommen und fühlte mich regelrecht dissoziiert. In den Monaten zuvor war ich, wie getrieben von der immer schnelleren Beschleunigung der Vor-Corona-Zeit, fortwährend gereist. Bei dem abrupten Stillstand war mir, als bliebe mir der Atem weg, als sei ein mit hoher Geschwindigkeit rasendes Auto auf der Autobahn quietschend zum Stehen gekommen.

    Meine Frau Debbie, ihrer Leserschaft als Deborah Baker bekannt, befand sich in Charlottesville, Virginia, wo sie für ein Buch recherchierte und ihre Familie besuchte. Anfang des Jahres, im Januar 2020, in eben dem Monat, in dem wir unseren dreißigsten Hochzeitstag gefeiert hatten, war ihre neunzigjährige Mutter Barbara gestorben. Woraufhin ihr neunundachtzig Jahre alter Vater in eine Abwärtsspirale geriet und sie eine Zeit lang in Virginia bleiben musste. Ich wollte nachkommen, aber als die Infektionszahlen in New York rapide zunahmen, entschied ich mich dagegen. Angesichts des Risikos, das Virus mit mir zu tragen, erschien es mir unverantwortlich, die Stadt zu verlassen. Ja, sogar das vertraute Brooklyn wollte ich in dieser desorientierenden Zeit nicht verlassen; außerdem wohnen auch mein Sohn und meine Tochter dort. Und so geschah es dann, dass ich unter diesem gruseligen Zusammentreffen von Umständen allein war und noch viel mehr Stunden in meinem Arbeitszimmer verbrachte als sonst.

    Ohne die seltsame Lockdown-Zeit hätte ich dann auch nie Folgendes getan: Ich suchte im Internet nach einer pdf-Datei des Buchs von Van der Chijs und fand zu meiner Überraschung eine, die ich, ohne weiter nachzudenken, herunterlud. Warum, weiß ich nicht, ich verstehe nicht einmal Niederländisch. Aber da hatte ich sie vor mir, eine Fundgrube an Geheimnissen, die ich jedoch nur anstarren konnte wie einen Runenstein oder eine prähistorische Felsgravur.

    Als ich eines Tages auf das täglich um 19 Uhr stattfindende New Yorker Dankesritual für das medizinische Personal wartete – das Applaudieren, die Hochrufe und (in meinem Fall) das Schlagen auf Töpfe –, scrollte ich wahllos durch den Text. Und schon bald stieß ich auf manch vertrauten Namen und manch vertrautes Wort – das englische »lamp« zum Beispiel lautet im Niederländischen genauso und bedeutet das Gleiche. Spontan gab ich einen niederländisch Satz in eine weitverbreitete online-Übersetzungsapp ein, und zu meiner Überraschung präsentierte sie mir eine durchaus sinnvolle Folge von Worten. »Ungefähr um Mitternacht vom 21. auf den 22. April [1621] fiel im bale-bale, wo Sonck und seine Berater schliefen, eine Lampe um, ein unbedeutendes Ereignis, [aber] es reichte aus, unter den Europäern, die immer und überall Verrat witterten, Panik auszulösen.«⁵⁰

    Jetzt gab es für mich kein Halten mehr. Ich vergaß das Topfschlagritual und fütterte stattdessen die App mit einem niederländischen Satz nach dem anderen, und aus den oft kauderwelschigen Resultaten verstand ich immerhin so viel, dass ich immer tiefer in den Text gezogen wurde.

    Rasch merkte ich freilich, dass ich mit dem ersten Satz Glück gehabt hatte, andere Passagen gab die App als völligen Wortsalat wieder. Dabei hatten die meisten unverständlichen Brocken eines gemeinsam: Sie standen in Anführungszeichen, denn es waren Zitate. Und die machten der App zu schaffen, weil sie offenbar nur modernes Niederländisch übersetzen konnte.

    Ich zählte zwei und zwei zusammen und begriff, dass Van der Chijs’ Bericht großteils aus unmittelbar übernommenen Stellen aus Quellen des siebzehnten Jahrhunderts bestand. Später erfuhr ich, dass der Autor als landsarchivaris oder Chefarchivar der niederländischen Verwaltung in Batavia gearbeitet hatte; kein Wunder, dass er direkten Zugang zu all den relevanten Dokumenten aus dem siebzehnten Jahrhundert hatte. Sie dienten ihm natürlich als Grundlage für sein Buch – was für ein Glück, denn viele dieser Dokumente sind seitdem verschollen.⁵¹

    Als ich an den Nonsenssätzen aus der App herumknobelte, kam mir dann noch der Gedanke, dass sich die Schreibweise bestimmter ganz normaler niederländischer Wörter seit dem siebzehnten Jahrhundert geändert hat.

    Zum Glück bin ich mit einem der besten niederländischen Asien-Historiker befreundet, Dirk Kolff, dessen Kenntnis der niederländischen Archive des siebzehnten Jahrhunderts, insbesondere der der VOC, unübertroffen ist. Als ich ihm mein Problem schilderte, schickte er mir freundlicherweise eine Auflistung der veränderten Schreibweisen. Und die wirkte Wunder. Kaum schrieb ich die Worte aus den Texten in ihrer modernen Schreibweise, wurden die Sätze in der App viel verständlicher.

    Und während immer mehr Krankenwagen vor meinem Arbeitszimmerfenster durch das einstmals niederländische Dorf Breukelen heulten, tippte ich Satz für Satz, Absatz für Absatz, ganze Seiten in die App. Bald war es, als hätten sich das Coronavirus und das Internet, zwei weltumspannend agierende, nichtmenschliche Dinge, zusammengetan und ein Geisterportal für mich kreiert, um mich mittels des Geistes eines lange verstorbenen Niederländers in die Nacht vom 21. auf den 22. April 1621 auf den Banda-Inseln zu befördern.

    Wie bedeutend für das einundzwanzigste Jahrhundert ist wohl noch die Geschichte von etwas heute so Billigem und Irrelevantem wie der Muskatnuss?

    Schließlich ist das Geschehen auf den Banda-Inseln nur eine Momentaufnahme in der Geschichte des Kolonialismus, der in einem erheblich größeren Ausmaß auf der anderen Seite des Globus, auf dem amerikanischen Doppelkontinent, stattfand. Man könnte außerdem sagen, das Kapitel sei abgeschlossen und das einundzwanzigste Jahrhundert habe nichts mehr mit längst vergangenen Zeiten zu tun, in denen Pflanzen und andere Dinge aus der Natur über das Schicksal von Menschen entschieden. In der Epoche der Moderne, heißt es, habe sich die Menschheit von der Erde emanzipiert und in ein neues Zeitalter des Fortschritts katapultiert, in dem menschengemachte Güter wichtiger seien als Produkte der Natur.

    Das Problem ist nur, dass nichts von alledem zutrifft.

    Denn von den »Produkten der Natur« sind wir jetzt sogar noch abhängiger als vor dreihundert Jahren (oder fünfhundert oder fünftausend), und das nicht nur bei Lebensmitteln. Die meisten heutigen Menschen sind komplett angewiesen auf Energie, die aus lang begrabener Kohle stammt, und was sind Kohle, Öl und Naturgas anderes als fossile Formen pflanzlicher Materie?

    Und was den Kreislauf von Gütern betrifft, da rangieren zwei fossile Brennstoffe vor jeder Art menschengemachter Güter. »Heute ist Energie die weltweit wichtigste Ware«, schreiben zwei Energieökonomen. »Und fast einerlei, wie man es bemisst – die Energieindustrie ist enorm groß. Neben den Energieverkäufen eines Jahres von mehr als zehn Billionen US-Dollar verblassen die Ausgaben für jede andere einzelne Ware. Der Handel mit und der Transport von Energie schlägt mit drei Billionen Dollar in den internationalen Transaktionen zu Buche. Sie wird durch zwei Millionen Kilometer Pipelines transportiert und macht fünfhundert Millionen Tonnen tote Ladung in der internationalen Seefahrt aus. Acht der zehn größten Weltkonzerne sind Energiefirmen, und ein Drittel der weltweiten Schiffsflotten befördert Öl. Angesichts dieser Zahlen ist es nicht verwunderlich, dass man für den globalen Energieverbrauch pro Sekunde mehr als 2800 Barrel Öl quenchen muss.«⁵² Am Gesamtumfang aller Waren, die im Mittelalter über Land- und Seewege transportiert wurden, hatten vermutlich menschengemachte Waren (wie Porzellan und Textilien) einen größeren Anteil am

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