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Bannmeilen: Ein Roman in Streifzügen
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Bannmeilen: Ein Roman in Streifzügen
eBook295 Seiten4 Stunden

Bannmeilen: Ein Roman in Streifzügen

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Über dieses E-Book

Wo die Stadt aufhört und die Vorstadt anfängt, ist in Paris klar markiert durch den Périphérique, den zu überschreiten Anne Webers Erzählerin bisher kaum in den Sinn gekommen ist. Denn was gibt es dort, in den verruchten Banlieues, außer einem Geflecht aus Schienen, Schnellstraßen und Autobahnen, zwischen denen Lagerhallen, gewaltige Supermärkte und Baustellen und Millionen von Menschen eingeklemmt sind? Außer der so notorischen Not, Gewalt und Armut? Als ihr alter Freund Thierry ihr jedoch vorschlägt, ihn für einen Film durch die Vorstädte des Départments Seine-Saint-Denis zu begleiten, die vor den Olympischen Spielen 2024 einem tiefgreifenden Wandel unterzogen werden, muss sie sich eingestehen, dass sie für die nächste Nähe jahrzehntelang blind gewesen ist. Da sind zum Beispiel der von Schrotthalden umgebene muslimische Friedhof von Bobigny, auf dem ein algerischer Olympiasieger der 1920er-Jahre begraben liegt; die beiden kreisrunden Sozialwohnungsbauten von Noisy-le-Grand, die einander wie gigantische Camemberts gegenüberstehen; und tausend andere von Kolonialismus und Leid, von Hoffnung und Fortschritt erzählende Orte. Und auch Thierry selbst entpuppt sich mit der Zeit als Teil dieser widersprüchlichen, ihrem Blick bislang verborgenen Welt.

Mit leisem Witz und großer Beobachtungsgabe öffnet sich Anne Weber in Bannmeilen dem Unvertrauten und Anderen mitten unter uns und entwirft damit nicht nur das Bild einer komplexen Freundschaft, sondern zugleich die Geschichte einer vielschichtigen Gesellschaft in der so noch nicht gesehenen Vorstadt der Liebenden.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum7. März 2024
ISBN9783751809566
Bannmeilen: Ein Roman in Streifzügen
Autor

Anne Weber

Anne Weber, Dr. phil., wiss. Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Christliche Gesellschaftslehre an der Theologischen Fakultät Paderborn.

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    Buchvorschau

    Bannmeilen - Anne Weber

    1

    Wir sind verabredet im Untergeschoss des Gare du Nord, vor der Sperre zu den Vorstadtbahnen der Linie B in Richtung Flughafen. Es ist nicht unsere erste Tour, aber wir stehen, ohne es zu wissen, noch am Anfang unserer Streifzüge. Ich bin wie meist etwas zu früh, er, wie sich herausstellen wird, oft zu spät – süd- und nordländische Klischees, von denen wir uns offenbar beide nicht befreien können oder wollen. Mich stört das nicht, ich stehe neben den Fahrscheinautomaten und schaue den mindestens zur Hälfte dunkelhäutigen Passanten nach, die die Sperren in beide Richtungen passieren, ein Strom, der gleichzeitig flussaufwärts und flussabwärts fließt. Warum, frage ich mich, gelingt es allen immer so gut auszuweichen und warum kommt es so selten zu Karambolagen? Rechts oder links: Es gibt bloß zwei Möglichkeiten, aneinander vorbeizukommen, nur ich, so scheint es mir, weiche meistens genau in jene Richtung aus, in die sich auch mein Gegenüber wendet, und so kommt es zu einer Stockung, manchmal sogar zu einer Berührung. Das Gegenüber lächelt nie, es wirkt verärgert, als sei es meine Schuld, und auch mir ist klar, dass ich es bin, die etwas falsch gemacht hat: Vor lauter vorauseilender Rücksichtnahme schieße ich über das Ziel hinaus, und statt aus dem Weg zu gehen, stelle ich mich quer.

    Im Kopf sehe ich die schnell sich kreuzenden Passanten aus einer hier im Untergeschoss von keinem Vogel eingenommenen Perspektive. Ich sehe, wie flüssig sie aneinander vorbeigleiten, ohne sich dabei anzuschauen; ihre lang erprobte Städter-Wahrnehmung erfasst die kaum merklichen Körperbewegungen der Entgegenkommenden und nimmt sie vorweg, ihr steter Fluss hat etwas Hypnotisches, und irgendwann, den Strom mühelos querend, kommt Thierry auf mich zugeschlendert und lächelt schief. Er will mir heute zeigen, wo er geboren wurde und die ersten Jahre seines Lebens verbracht hat.

    An der Station La Courneuve – Aubervilliers angekommen, sind wir lediglich drei Kilometer von Paris entfernt, und doch muss es jedem, der hier aussteigt, klar sein, dass dies nicht mehr Paris ist. Keine siebenstöckigen Häuser aus dem 19.Jahrhundert der Haussmann-Epoche, kaum ältere Gebäude und noch weniger reich dekorierte Fassaden. Stattdessen Gleise, unansehnliche Neubauten, weiter weg Hochhäuser, sehr nah eine Unterführung: Der Vorstadtbahnhof liegt direkt neben einer Autobahn, der A86, die eine Art zweiten Périphérique bildet, nur in größerer Entfernung zur Stadt. In einem Winkel der Bahnhofsfassade hat sich ein Obdachloser ein Haus aus allen möglichen Materialien gebaut, vorzüglich aus Plastikplanen, auch ein Teddybär ist zu sehen und Geschirr, aber nicht der Bewohner. Wir nehmen die Rue Honoré de Balzac, die sich ehrenwerter anhört, als sie aussieht.

    Auf dem Weg zu Thierrys Kindheitsort kommen wir an einem kleinen Platz vorbei, in dessen Mitte eine flache, unauffällige Kapelle aus den Sechzigerjahren steht, aus der Zeit also, in der auch Thierrys Wohnsiedlung entstand. Später werde ich merken, dass all den Betonhochhäusern, die in jenen Jahren aus dem Vorstadtboden schossen, eine kleine Kirche hinzugesellt ist. Diese Kirchen muten winzig an im Vergleich zu den Monumentalbauten, die dem irdischen Leben zugedacht sind, und zeugen davon, dass die katholische Kirche damals zwar noch mitgedacht wurde, aus dem täglichen Leben der Vorstadtbewohner aber eigentlich längst verschwunden war.

    An einem Haus des kleinen Platzes hängen vor dem Gitter eines Erdgeschossfensters zwei in durchsichtige Plastikfolie verpackte, völlig vertrocknete Blumensträuße, darüber ein rotes Schild: »Espace Sid Ahmed. Jeune Courneuvien assassiné 1994–2005«. Ein elfjähriger Junge ist hier getötet worden.

    Thierry, der in den 2000er-Jahren längst nicht mehr in der Gegend wohnte, weiß über den Tod des Jungen auch nicht mehr als ich, und erst später bringe ich in Erfahrung, dass Sid Ahmed Hammache vor dem Wohnblock Balzac der Siedlung Cité des 4000, wo er wohnte, von einer verirrten Kugel getötet wurde, als er gerade dabei war, das Auto seines Vaters zu waschen. Er geriet in einen Schusswechsel, in dem es den später Angeklagten zufolge um die Schwester eines der jungen Männer, wahrscheinlich aber auch, oder sogar hauptsächlich, um Drogen ging. Nicht der Vorfall selbst ist den Franzosen und auch mir in Erinnerung geblieben, sondern die Reaktion des damaligen Innenministers und späteren Präsidenten Nicolas Sarkozy, der sich zu der Wohnsiedlung hatte fahren lassen und dort verkündete, die Gangster würden verschwinden und er würde nun diese Siedlung »mit dem Kärcher reinigen«. Worauf mir einfällt, dass derselbe Sarkozy dieser Tage zu drei Jahren Haft, darunter eines ohne Bewährung, verurteilt wurde, aber das führt zu weit, nämlich in einen vornehmen Vorort im Westen der Stadt, Neuilly; wir sind und bleiben in La Courneuve, Thierry und ich.

    Der Kärcher-Satz von Sarkozy, der noch in aller Gedächtnis ist und häufig zitiert wird, klang so – und sollte vermutlich so klingen –, als sei dies keine Wohngegend, sondern ein Schweinestall, der endlich mal ordentlich ausgemistet und gesäubert gehöre. (Dabei war der Junge, als er getötet wurde, gerade dabei, ein Auto zu waschen.)

    Wir nähern uns den Überresten der Cité des 4000, die so heißt, weil hier einmal in vier Gebäuden viertausend Menschen untergebracht werden konnten, ach was, nicht viertausend Menschen, viertausend Wohnungen hatten darin Platz – wie viele Menschen mögen das gewesen sein? Zwanzigtausend? Fünfundzwanzigtausend? In jedem der Gebäude waren tausend Wohnungen. Tausend Wohnungen! Man muss einen solchen Block aus der Nähe gesehen haben, um sich die Dimensionen eines derartigen Ungetüms vorstellen zu können. Neben dem einzigen dieser Monstren, das noch steht, Barre du Mail de Fontenay genannt, ist lediglich ein 26-stöckiger bewohnter Betonturm aus jener Zeit übrig, und mir wird klar, dass die zwei trockenen Blumensträuße nicht am Tatort, sondern vor jenem kleinen Haus am kleinen Platz hängen, weil das Hochhaus, in dem der getötete Junge zu Hause war und vor dem er gestorben ist, längst abgerissen wurde. Auch der Block Debussy (für den Nachmittag eines kingkongartigen Stahlbetonfauns geeignet), in dem Thierry seine frühe Kindheit verbracht hat, wurde schon 1987, gute zwanzig Jahre nach seiner Entstehung, wieder abgerissen. Was war das für eine gar nicht ferne Zeit, in der man gigantische Wohnfabriken aus dem Boden stampfte, um sie dann gleich wieder zu zerstören und damit niedrigeren Mietshäusern Platz zu machen, die auch schon wieder heruntergekommen wirken?

    2005, als der Junge getötet wurde und Sarkozy seinen Kärcher-Satz losließ, hätte ich zwar ungefähr sagen können, wo die Vorstadt La Courneuve liegt, doch wäre mir die Entfernung nicht viel größer erschienen, hätte der Vorfall in Tours oder in Marseille stattgefunden. Dabei ist dieser Ort nur ein paar Vorstadtbahnstationen weg, vom Gare du Nord aus ist man in zwanzig Minuten hier, von meiner Wohnung könnte ich in einer Stunde zu Fuß hergelangen.

    Dem Betonturm den Rücken kehrend, gehen wir an dem letzten noch übrig gebliebenen Riesenquader entlang, und Thierry erklärt mir Ahnungsloser, was es mit den abgewrackten Bürosesseln auf sich hat, die an den Hausecken stehen, und vor allem mit den jungen Männern oder Jungs, die auf oder neben diesen Sesseln herumlümmeln. Dass es nämlich sogenannte chouffeurs, also Späher, sind, die Alarm schlagen, sobald die Polizei auftaucht, um Drogendealer einzuschüchtern oder zu fassen. Er ist noch dabei, mir diese einfachen Sachverhalte zu erklären, über die hier jedes Kind Bescheid weiß, wenn es nicht gar darin verwickelt ist, als sich hinter uns eine tiefe Männerstimme zu einem lang gezogenen Ruf erhebt und bald darauf, etwas weiter weg, eine zweite und eine dritte an wieder anderer Stelle, Stimmen, die keineswegs panisch klingen, eher nach einem Klagegesang. Es ist ein Chor, ein Kanon, ein Echoraum, der da entsteht. Der Vergleich scheint mir absurd, aber ich muss an Alphörner denken, die einander über ein Tal hinweg antworten. Das also sind die Alarmsignale der chouffeurs?

    Ich bleibe stehen und schaue mich um und sehe wirklich einen Polizeiwagen mit vier Polizisten darin langsam heranrollen. Thierry gibt mir ein Zeichen, und wir gehen in unserem bisherigen Tempo weiter, bis wir die Siedlung hinter uns gelassen haben. Kaum, dass wir abseits sind, erklärt er mir, es sei ratsam, an Orten, an denen der Drogenhandel floriere, nicht stehen zu bleiben, sondern gelassen weiterzugehen, als habe man ein hinter der Siedlung gelegenes Ziel, und tatsächlich hatte ich gar nicht vorgehabt, stehen zu bleiben, sondern mich ganz dem Verhalten meines Freundes anpassen wollen, doch als ich hörte, wie sich aus allen Ecken die vielstimmigen, klangvollen Klagerufe erhoben, konnte ich nicht anders, als innezuhalten und mich umzuschauen. Mir fällt ein, dass Thierry gelegentlich Reiseführer war in jungen Jahren. Und das Sprichwort, das er gerne zitiert: Il ne faut jamais voyager dans un pays sans ses habitants – bereise nie ein Land ohne seine Bewohner. Ich bin ihm dankbar, dass ich diese Reise mit ihm machen kann, alleine hätte ich sie sicher nicht unternommen.

    Thierry merkt, wie betört ich immer noch bin von diesem unerhörten Gesang und beglückwünscht mich dazu, gleich bei einem unserer ersten Streifzüge in den Genuss eines solchen Konzerts gekommen zu sein, doch gleich darauf fängt er an, sich über mich feinsinnige Touristin lustig zu machen, die das, was für andere Kriminalität oder elementare Vorsichtsmaßnahme zum Schutz vor Festnahmen ist, offenbar für eine ästhetische Darbietung, eine Konzertvorstellung, ein überraschendes Schauspiel hält. Ich muss lachen, zumal er sich nicht auf boshafte Weise mokiert, und zugleich frage ich mich, ob es wohl nicht nur lächerlich, sondern auch schockierend sei, in etwas Schönheit zu sehen – oder in diesem Fall zu hören –, was für andere, für die meisten Bewohner der Siedlung zum Beispiel, die es sich nicht leisten können, woanders hinzuziehen, eine tägliche Belästigung und Bedrohung darstellt. Ich komme zu keinem eindeutigen Ergebnis, zumal wir weitergehen und sich bald andere Besonderheiten oder Schönheiten vor mir auftun, von denen viele in den Augen der meisten Menschen wohl hässlich, abstoßend, wenn nicht gar furchterregend sein mögen – aber es hilft ja nichts, sich selbst einzureden: Das ist schlimm, das ist hässlich, wenn es sich nun mal (auch) als Schönheit offenbart. Zudem merke ich jetzt bereits, dass ich in Thierry einen Führer habe – im Deutschen ein kaum verwendbares Wort, Führer, aber welches andere wählen für einen Menschen, der dir eine Welt zugänglich macht, die du ohne sie oder ihn nicht betreten hättest? –, dass ich in Thierry also jemanden habe, der für die Schönheiten des gemeinhin als hässlich Geltenden weitaus empfänglicher ist als ich und dem das Erschrockensein, die Wut oder die Scham über das Gesehene dessen Schönheit, wenn eine solche denn spürbar ist, nicht verhüllen kann.

    Thierry war sechs Jahre alt, als seine Eltern 1969 aus der Siedlung wegzogen, er hat nicht viele Erinnerungen an die Cité des 4000. Drogen habe es keine gegeben, überhaupt sei es nicht gefährlich gewesen, die Männer hätten keine Kapuzenpullis, sondern Anzüge und Schlips getragen, und die Frauen Kleider, im Übrigen hätten keineswegs nur Ausländer in diesen Hochhäusern gelebt, und wenn, dann hauptsächlich europäische, Portugiesen zum Beispiel. Alles sei gerade erst fertiggestellt gewesen und habe neu gerochen, manches habe noch nicht richtig funktioniert, bis es dann bald nicht mehr funktionierte, aber da habe er nicht mehr hier gewohnt, seine Eltern seien mit ihm und seinen Geschwistern in ein Häuschen in Le Bourget gezogen. In der Cité habe es keine Spielplätze gegeben, die Kinder hätten zwischen den Wohnblöcken und den Parkplätzen gespielt, einmal sei ein Freund von ihm von einem Auto angefahren worden.

    Aber war diese neue Siedlung für deinen Vater nicht besser als die Slums in Nanterre? Wo es noch nicht mal fließendes Wasser gab, sondern nur Baracken mit schlecht zusammengeflickten Wellblechdächern?

    Mein Vater hätte lieber in seinem Dorf in Algerien bleiben sollen, da lief er barfuß, er hatte keine Schuhe, aber er brauchte auch keine, er war glücklich, also gut, was heißt glücklich, keine Ahnung, aber es ging ihm gut. Dann hat man ihm eingeredet, er müsse hier in Frankreich arbeiten und Geld verdienen, und da es viele so machten, hat er es auch gemacht, er war sehr jung, und schon die Reise war ein Abenteuer, zudem das fremde, reiche Land. Algerien gehörte noch zu Frankreich, er brauchte kein Visum, es war leicht, viel leichter als heute, hierher zu gelangen. Trotzdem, er hätte besser zu Hause bleiben sollen.

    Bist du sicher? Dann gäbe es dich nicht.

    Ja, dann würden wir jetzt nicht rumlaufen und nach den viertausend oder zwanzigtausend Gespenstern suchen, die hier mal gehaust haben.

    Am Abend schickt mir Thierry einen Link zu einem Film, in dem die Cité des 4000 kurz nach ihrer Entstehung zu sehen ist. Der Film ist offensichtlich im Winter gedreht worden, das Licht ist grau, die Betonblöcke stehen nah beieinander und sind ebenfalls grau und glatt und so groß, dass sie gar nicht ins Bild passen, die Durchgänge sind dunkel, irgendwo gibt es eine Einkaufspassage, die Männer tragen tatsächlich Anzüge, man spaziert durch diese Passage, andere Freizeitbeschäftigungen gibt es nicht.

    Wir sind jetzt an einer breiten, befahrenen Straße angelangt, der Nationale 186, und bald darauf an einem Kreisel, vor dem sich die Ruine eines Hochhauses erhebt, dessen Fassaden mit Schriftzeichen bedeckt sind wie die Seiten eines Buchs, ein aufrecht stehendes, würdiges Gerippe, durch dessen hohle Augen der Wind pfeift – ein Wahrzeichen, aber für was? Für Vernachlässigung, Verwahrlosung? Zwanzig breite, fensterlose Stockwerke, Aufzugtüren, hinter denen keine Kabine, sondern nur der gähnende Schacht wartet, Besetzer, die regelmäßig ausquartiert werden. Thierry zufolge steht das Gebäude schon seit zwanzig Jahren leer, im Keller sammelt sich das Wasser, Ratten breiten sich aus, die Nachbarn beschweren sich. Tatsächlich steht gleich neben dem Wrack ein Wohnblock, der sicher ein paar Hundert Wohnungen umfasst. Abends lese ich einen Zeitungsartikel aus dem Jahr 2017, der ankündigt, anlässlich der bevorstehenden Olympischen Spiele werde die Ruine nun endlich abgerissen. 2023 steht sie immer noch und wird uns Wanderern noch häufig zur Orientierung dienen.

    Ein Stück weiter stoßen wir bereits auf die nächste Autobahn, die A1 ist es diesmal, die nach Norden, nach Lille führt: La Courneuve ist eingeklemmt zwischen zwei Autobahnen. Auch hier stehen riesige Wohnanlagen, und zwischen Autobahn und Wohnhäusern liegt – wie soll man es nennen – eine Grünfläche? Garten oder Park wäre zu viel gesagt, aber es wächst Gras hier und es wachsen auch ein paar Bäume, die grasbewachsene Fläche steigt an zur Autobahn, die von unten nicht sichtbar, sondern nur zu hören ist. Ein paar junge Typen streifen mit Furcht einflößenden Hunden durch diese Grünzone, ich kann einen Pitbull und einen Schäferhund erkennen, doch Thierry scheint vor Hunden keine Angst zu haben, und das lindert auch meine Ängste. Wir steigen den Abhang hinauf, von wo aus die Autobahn auf der einen, die Wohnblöcke auf der anderen Seite zu sehen sind; in einiger Entfernung der hohle braune Turm mit den vielen leeren Fensteraugen. Auf der Steintreppe, die den Abhang wieder hinunterführt, zeigt Thierry auf eine benutzte Spritze, verstreut daneben liegt weiterer Abfall, und vor der Wohnanlage häuft sich der Sperrmüll. Mir fallen diese Müllberge hier nicht zum ersten Mal auf, und auf meine Frage danach antwortet Thierry, es sei wohl gerade Sperrmülltag, doch insgeheim weiß er vermutlich, was mir erst allmählich klar werden wird: dass nämlich in den großen Wohnanlagen jeder Tag Sperrmülltag ist. Die Leute werfen vor die Tür, was sie nicht mehr brauchen können, neben »Sperrmüll abladen verboten«-Schildern türmt sich haufenweise Sperrmüll, Sperrmüll ist überall. Anfangs frage ich Thierry noch: Aber warum liegt hier dieser ganze Kram, warum verwandeln sie ihre eigene Wohngegend in eine Müllhalde, doch schon bald fällt mir nichts mehr dazu ein. Warum erwarte ich von Menschen, die in solchen Betonkisten neben der Autobahn leben müssen, dass sie sich mit der Reinlichkeit und Ordnung ihrer Umgebung befassen?

    Wir gehen weiter und kommen an der Grundschule Robespierre vorbei. Innerhalb von Paris heißen die Schulen anders, doch auch an die Namen der Straßen, Schulen und sonstigen Einrichtungen in diesen nördlichen, ehemals und manchmal heute noch von Kommunisten regierten Vorstädten werde ich mich noch gewöhnen. Häufig tauchen hier die Namen sowjetischer Astronauten auf, angefangen bei Gagarin, zudem natürlich die Nicht-Astronauten Marx und Lenin (weder Trotzki noch Stalin), die Straßen heißen Rue de la Révolution, Rue de l’Internationale oder Rue de l’Égalité. Auch Danton und Saint-Just dienen vielfach als Namensgeber. Ich werde mich daran gewöhnen, aber hier, vor dieser Schule, überkommt mich ein Schauer. Vermutlich, weil es eine Grundschule ist, die diesen Namen trägt: Robespierre, eine zwiespältige Figur, auf der linken Schale der Waage liegen zum Beispiel das allgemeine Wahlrecht, die Abschaffung der Todesstrafe und der Sklaverei, auf der rechten Dantons Kopf und zigtausende andere Köpfe. Die linke Schale wiegt schwer, so schwer wie die rechte mit den vielen abgehackten Köpfen, zu denen sich am Ende Robespierres eigener gesellt hat und die ich nicht mit den kleinen Kindern einer école élémentaire in Verbindung bringen möchte. Aber die Schule heißt nun einmal so, sie steht nah der Autobahn und ist hinter einer hohen Mauer verborgen.

    Auf dem Weg nach Le Bourget, wo Thierrys Eltern hinzogen, als sie sich ein Häuschen leisten konnten, kommen wir an Lagerhallen vorbei, Niederlassungen von Bauunternehmen. Vor einer der Einfahrten wartet ein Grüppchen Männer ungewisser Herkunft; alle haben sie Kapuzenjacken an und Rucksäcke dabei. Des clandos, sagt Thierry, was heißt: des clandestins – illegale Einwanderer, die darauf hoffen, dass sie vielleicht auf einer Baustelle gebraucht werden. Ohne ausländische Schwarzarbeiter läge in Frankreich das Baugewerbe brach, kann man in der Zeitung lesen, aber wer es in der Zeitung liest, stellt sich nicht vor, dass diese unerlaubt nach Frankreich eingereisten Arbeiter in abgelegenen Pariser Vorortecken Morgen für Morgen in aller Frühe vor der Einfahrt eines Bauunternehmens in der Kälte ausharren, ohne jede Gewissheit, Arbeit zu finden für den Tag. Manche stehen offensichtlich in der Mittagszeit immer noch da und warten, dass sie angeheuert werden, und wenn sie dort stehen, wird das wohl heißen, dass sie vielleicht noch jemand holen kommt. Dass es jedenfalls nicht ausgeschlossen ist.

    Es ist jetzt halb zwei und wir haben Hunger, doch etwas Essbares zu finden, ist wie immer nicht leicht. Wer von einer Vorstadt zur anderen geht, stößt oft lange auf keinen Laden, noch weniger auf ein Lokal, wo er einkehren und vielleicht auch einmal die Toilette benutzen könnte, was gerade Frauen auf Wanderschaft sehr gelegen käme – aber natürlich begegnen wir keinen Frauen auf Wanderschaft –, und wenn, dann sind es reine Männerkneipen, an denen wir jedes Mal lieber vorbeiziehen.

    Wie machen das denn die Frauen bei dir, wenn sie außer Haus sind und mal aufs Klo müssen?, frage ich Thierry (es hat sich zwischen uns eingebürgert, dass »bei ihm« hier in den Vorstädten und »bei mir« Paris ist).

    Unsere Frauen sind nicht außer Haus, und wenn, dann müssen sie nicht aufs Klo. Draußen-aufs-Klo-Gehen ist haram, sagt er mit einiger Ironie in der Stimme, denn es hat sich außerdem zwischen uns so eingebürgert, dass er die Rolle des gläubigen, traditionellen Algeriers spielt, der er nicht ist, und ich die der weißen, westlichen, privilegierten Frau, die ich bin.

    In Le Bourget angekommen, führt er mich in eine ruhige einspurige Straße, die auf beiden Seiten von Einfamilienhäuschen flankiert ist. In einem davon, einem einfachen Backsteinhaus, das vielleicht hundert Jahre alt und mit einem Minimum an Zierrat versehen ist – ein Mosaikhalbkreis über dem einzigen nennenswerten Fenster in der Obergeschossfassade –, wohnten seine französischen Großeltern. Er sagt immer »meine französischen Großeltern«, obwohl er gar keine anderen hatte, ich meine: obwohl er seine anderen, die algerischen Großeltern, als Kind nicht kannte und auch später nie kennenlernen sollte. In ein schlichtes weißes Haus ein paar Straßen weiter waren seine Eltern Ende der Sechziger gezogen, hier ist er groß geworden.

    So unheimlich es mir vorhin war, mir Thierry als kleinen Jungen, als vier-, fünfjähriges Kind zwischen den Megaklötzen der Cité des 4000 vorzustellen, so friedlich und geradezu anheimelnd wirkt jetzt auf mich – vielleicht auch nur im Gegensatz – diese neue Umgebung. Das kaum befahrene Sträßchen könnte auch durch irgendeine verlorene französische Kleinstadt führen; nichts, außer vielleicht die vielen nahen Flugzeuge am Himmel, lässt erahnen, dass rings umher Millionen leben.

    Thierrys Vater arbeitete erst in der Fabrik, dann auf dem Bau, später, in den Siebzigerjahren, gründete er als Elektriker seine eigene Firma, bald konnte er das Häuschen abbezahlen, und sobald es ging, ab Ende der Siebziger, fuhr er einen Mercedes. Thierrys Mutter arbeitete anfangs als Sekretärin, sein Großvater bei der Bahn, die Großmutter war zu Hause und kümmerte sich viel um Thierry. Dies sind die einfachen Tatsachen, die ich schon länger kenne, aber nun, da ich hier stehe und an den dazugehörigen Orten darüber nachsinne, tun sich mir Fragen auf, zum Beispiel: Wie haben Thierrys französische Großeltern den algerischen Schwiegersohn aufgenommen? Wie hat sein Vater sich an die französischen Verhältnisse angepasst? Wie hat Thierry selbst diese zweifache Herkunft erlebt?

    Seine Großeltern hätten sich ihren Schwiegersohn anders vorgestellt gehabt, sagt Thierry, aber eine ihrer Töchter sei eben von einem Algerier schwanger geworden, und so sei ihnen nichts anderes übrig geblieben, als so schnell wie möglich eine Heirat zu organisieren. Pech gehabt.

    Ich suche nach einer vorsichtigen Ausdrucksweise: Kann es sein, dass eine Heirat mit einer Französin für deinen Vater auch einen sozialen Aufstieg bedeutet hat?

    Klar, sein Vater sei von Anfang an darauf aus gewesen, sich so schnell wie möglich zu einem Franzosen zu machen, in der Masse der Franzosen unterzugehen, bloß niemandem als Algerier aufzufallen. Seine kleine Elektrofirma habe einen sehr französischen Namen getragen. Seinen eigenen Nachnamen habe er zu seinem Leidwesen zwar offiziell nicht loswerden können, doch niemand habe ihn je unter seinem wirklichen Vornamen Ahmed gekannt. Bei all seinen Freunden habe er sich immer als Marcel ausgegeben. Die meisten hätten gar nicht gewusst, dass er Algerier war. Und

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