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DAS ICH ALS AUSGANGSPUNKT

Autofiktion ist ein Begriff der Stunde. Vor zwei Jahren gewann Saša Staniši für „Herkunft“ den Deutschen Buchpreis, 2020 wurden die autofiktionalen Romane „Streulicht“ von Deniz Ohde und „Ein Mann seiner Klasse“ von Christian Baron vielfach besprochen. Auch in den Verlagsprogrammen in diesem Frühjahr findet man immer häufiger den Hinweis, ein Buch sei autofiktional. Offenbar bedient diese Zwischenform aus Autobiografie und Roman das Bedürfnis nach vermeintlich „authentischen“ Geschichten, in denen die Identität von Autor:in, Erzähler:in und Hauptfigur zumindest dem Anschein nach übereinstimmt.

Dennoch gibt es keine klare Definition von Autofiktion. Manche bezweifeln sogar, dass der Begriff notwendig sei. Schließlich schöpften Schriftsteller:innen schon immer aus ihrem Erleben und auch beim autobiografischen Schreiben, das eine lange Tradition hat, gebe es fiktive Elemente, weil jede Erinnerung fiktiv sei. Für Schriftsteller:innen mag diese Sichtweise stimmen. Und doch entfalten autofiktionale Romane eine andere Wirkung beim Lesen. Erfahrungen und Erlebnisse werden nicht mehr nur der Hauptfigur zugesprochen, sondern auch der Autorin. Sie ist das Ich, das alles filtert, an die alles gebunden ist. Dieses Ich ist der Ausgangspunkt von autofiktionaler Literatur.

EXEMPLARISCHE AUTOFIKTION

In Lena Goreliks wird von der Selbstfindung einer Frau erzählt, die 1992 als elfjähriges Mädchen St. Petersburg verlässt und im schwäbischen Ludwigsburg aufwächst. Später wird sie Journalistin und Schriftstellerin. Die biografischen Details stimmen mit Lena Gorelik überein, auf dem Umschlag steht Roman. Es gibt Fiktionssignale in diesem Buch – Leitmotive, der gesamte Aufbau, der sich an russischen Wörtern und ihrer Übersetzung orientiert. Es ist ein eindringliches, ein starkes Buch über das Aufwachsen in einem anfangs fremden Land, über Migration, über das Fremd-und Anderssein, das Finden der eigenen Stimme. Dass die Erzählerin, Hauptfigur und Lena Gorelik übereinstimmen, bewirkt jedoch, dass mehr emotionale Anknüpfungspunkte entstehen. Dabei ist unerheblich, wie „wahr“ die Erinnerungen in diesem Buch sind. Ihre Suche nach einem Selbst, nach ihrer Identität, ihrem Platz in der Familie erzeugt eine größere Verbundenheit als in rein fiktionaler Literatur, weil sie an ihr Ich gebunden ist. Ihren Erfahrungen spreche ich beim Lesen Authentizität zu, weil ich annehme, dass sie nicht rein erfunden, sondern erlebt sind. Dadurch bekommen sie eine höhere Glaubwürdigkeit und Validität.

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