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Patriarchale Belastungsstörung: Geschlecht, Klasse und Psyche
Patriarchale Belastungsstörung: Geschlecht, Klasse und Psyche
Patriarchale Belastungsstörung: Geschlecht, Klasse und Psyche
eBook398 Seiten4 Stunden

Patriarchale Belastungsstörung: Geschlecht, Klasse und Psyche

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Über dieses E-Book

Patriarchat und mentale Gesundheit: Beatrice Frasl wühlt tief in den Eingeweiden unseres "kranken" Gesundheitssystems.

Psychische Gesundheit ist politisch
In Ländern wie Deutschland und Österreich können wir uns auf eine medizinische Notversorgung verlassen. Gibt es einen Unfall, wird ein Rettungswagen gerufen, Patient*innen werden in ein Krankenhaus gebracht und schnellstmöglich versorgt. Selbstverständlich, oder? Immerhin wäre es für uns unvorstellbar, mit einem Knochenbruch wieder nach Hause geschickt zu werden, einschließlich einer Wartefrist von sechs Wochen. Bis ein Behandlungsplatz zur Verfügung steht. In etwa so gestaltet sich jedoch die Situation im Bereich der psychischen Erkrankungen. Denn: Unser Gesundheitssystem schreibt, als Teil unseres Gesellschaftssystems, Ungleichheiten fort. Sozialer und ökonomischer Background, kulturelle Rahmenbedingungen und der neoliberale Leistungsgedanke bestimmen, wer gesund ist und wer nicht, wer krank sein darf und letztendlich auch: wem Behandlungsmöglichkeiten offenstehen und wem diese verwehrt bleiben.

Ungleichheit in der psychischen Krankenversorgung geht uns alle etwas an!
Du fragst dich, was Geschlecht und die Versorgung psychischer Erkrankungen gemeinsam haben? Was das Patriarchat mit der Diagnose von Krankheiten zu tun hat? Spoiler-Alarm: sehr viel! Der Grund, warum Frauen so viel häufiger von Depressionen und Angsterkrankungen betroffen sind als Männer, warum Männer jedoch weniger oft Ärzt*innen aufsuchen und sich behandeln lassen, liegt u. a. in den stereotypischen Vorstellungen und Rollenbildern, die wir im Laufe unseres Aufwachsens erlernt haben. Und: Frausein im Patriarchat bedeutet Gefährdung auf vielen Ebenen. Der Mangel an ökonomischer Sicherheit, die körperliche und psychische Gewalt, denen Frauen sehr viel häufiger ausgeliefert sind, und die Doppelbelastung, die durch Arbeit und Care-Arbeit auf den Schultern von Frauen lastet, sind zusätzliche Gründe dafür, warum weibliche Personen zur Risikogruppe zählen und durch unzureichende Krankenversorgung abermals benachteiligt sind.

Stigmatisierung und Tabuisierung: Wie können wir mit psychischen Erkrankungen umgehen?
Dass die psychische Krankenversorgung keine Selbstverständlichkeit ist, hängt eng mit der Pathologisierung bestimmter menschlicher Empfindungen zusammen, die nicht in das kapitalistische System passen. Besonders Frauen, ihre Körper und ihre Wahrnehmungen sind und waren schon immer ein Instrument zur Ausübung patriarchaler Kontrolle. Geschlechterrollen, der "Diagnose Gap" und gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse – Beatrice Frasl zeigt in diesem Buch: Das Sprechen über psychische Gesundheit ist ein feministischer Akt, ein Akt, der uns allen die Macht über uns selbst zurückgeben kann.
SpracheDeutsch
HerausgeberHaymon Verlag
Erscheinungsdatum15. Nov. 2022
ISBN9783709939895

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    Buchvorschau

    Patriarchale Belastungsstörung - Beatrice Frasl

    I. Hilflos?

    Depression is depressing.1

    Irving Kirsch – „The Emperor’s New Drugs"i

    Eine psychische Krise ist kein Beinbruch

    die Hürden auf dem Weg zur Hilfe Kassenplätze und Wartezeiten Therapie und finanzielle Möglichkeiten Deutschland und Österreich im Vergleich Kosten und Folgekosten Psychotherapie als Privatvergnügen? Versorgungslücken kosten Menschenleben

    Stell dir vor, du hattest einen Unfall und als Folge dieses Unfalles starke Schmerzen im linken Bein, die sich auch mit Coldpack, Hochlagern und Ibuprofen nicht bewältigen lassen. Du vermutest, dir das Bein gebrochen zu haben. Also beschließt du, wie man das in der Regel bei Beinbrüchen so tut, medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Du rufst ein Taxi oder einen Krankenwagen und fährst zur nächstgelegenen Ärztin oder ins nächste Krankenhaus. Dort passiert aber etwas Unerwartetes: Die Ärztin informiert dich darüber, dass krankenkassenfinanzierte Plätze zur Behandlung von Beinbrüchen leider nur begrenzt verfügbar seien, dass es ihr leidtue, sie aber aktuell keine Behandlungsplätze mehr frei habe. Sie nennt dir deine Handlungsmöglichkeiten: Zum einen kannst du die Behandlung privat bezahlen. Welche Kosten auf dich zukommen, sei noch nicht genau abzusehen. Denn zuerst habe schließlich eine Diagnostik stattzufinden, um festzustellen, welche Behandlung überhaupt medizinisch notwendig ist. Diese Diagnostik ist mitunter sehr kostspielig, da sie vermutlich ein Röntgen umfasst. Schon die Kosten für die Diagnostik sind für dich also voraussichtlich nicht leistbar.

    Nun hast du eine zweite Möglichkeit: nämlich die, zu warten, bis ein Behandlungsplatz frei wird. Nachdem du deine Diagnostik und Behandlung nicht aus der eigenen Tasche bezahlen kannst, tust du genau das: warten. Trotz deiner Schmerzen und Beschwerden. Deine Ärztin setzt dich also auf eine Warteliste. Etwa zwei, drei Monate wird es dauern, so sagt sie, bis dein mutmaßlicher Beinbruch diagnostiziert und behandelt werden kann. Sie verschreibt dir noch Schmerzmittel zur Überbrückung, wünscht dir alles Gute und verspricht, sich zu melden, sobald ein Behandlungsplatz frei geworden ist und du auf ihrer Warteliste entsprechend weit vorgerückt bist.

    Eine völlig absurde und undenkbare Situation in einem Land wie Österreich oder auch Deutschland, in dem doch alle die beste medizinische Versorgung erhalten sollten, und das rasch und kostenfrei? Nun, was in Bezug auf körperliche Leiden tatsächlich undenkbar ist, ist bei psychischen Erkrankungen und Krisen gang und gäbe, denn: Psychotherapieplätze auf Krankenschein sind in Österreich kontingentiert. Das bedeutet in der Praxis, dass erstens nur einige Psychotherapeutinnen überhaupt Kassenplätze anbieten können und dass zweitens jene Psychotherapeutinnen mit Kassenverträgen immer nur eine geringe Anzahl an Therapieplätzen anbieten können, die von der Krankenkasse finanziert werden. Diese sind in der Regel schnell besetzt – Patientinnen haben die Möglichkeit, sich auf Wartelisten setzen zu lassen, wo sie, je nach Therapeutin, oft mehrere Monate auf einen ambulanten Therapieplatz warten.

    Derart lange Wartezeiten auf Psychotherapie sind aus mehreren Gründen ein großes Problem: Der erste Grund ist naheliegend: Es ist schlicht unmenschlich, Menschen, die Hilfe benötigen, diese Hilfe zu verweigern oder sie so lange auf Behandlung warten zu lassen. Lange Wartelisten bzw. das nicht ausreichende Finanzieren von Psychotherapie-Kassenplätzen, das zu den langen Wartelisten führt, sind aber auch aus ökonomischer Perspektive sehr kurzsichtig. Auch psychische Erkrankungen können sich, in der Zeit bis zur Behandlung, verschlimmern oder chronifizieren.

    Neben dem Warten gibt es für jene, die es sich leisten können, noch eine zweite Option: Man kann die Psychotherapie aus eigener Tasche bezahlen. Das ist in Österreich auch der Regelfall, 80 Prozent der Psychotherapiestunden werden nicht über die Krankenkassen verrechnet. Der Vorteil hier ist, dass nirgends offiziell „aufscheint", dass man an einem Punkt in seinem Leben psychotherapeutische Unterstützung in Anspruch nehmen musste – aufgrund der umfassenden Stigmatisierung, die psychische Erkrankungen und Krisen umgibt, ist das nicht unerheblich. Der große Nachteil sind aber naturgemäß die Kosten. Selbst finanziell für eine Psychotherapie aufzukommen ist nämlich gerade für jene, die sie am dringendsten benötigen, oft unmöglich. Eine reguläre 50-Minuten-Einheit kostet in etwa 100 Euro (zwischen 80 und 120 Euro). Beim ebenso regulären Therapieintervall von einer Einheit pro Woche fallen jeden Monat also in etwa 400 Euro an Psychotherapiekosten an – für viele unleistbar.

    In Deutschland ist die Situation bezüglich kassenfinanzierter Therapieplätze („Kassensitze" genannt) zwar auch nicht ideal, aber im Vergleich zu Österreich um einiges besser. So ist beispielsweise gesetzlich geregelt, dass Psychotherapeutinnen wöchentliche Sprechstunden und Akutbehandlungen anbieten müssen, die allen Versicherten zugänglich sind. Jede Person kann bis zu sechs dieser Sprechstunden pro Therapeutin in Anspruch nehmen. Es ist auch möglich, im Rahmen der Sprechstunden die Therapeutin zu wechseln oder sich eine Zweitmeinung bei einer anderen Therapeutin einzuholen.

    Allein durch das Angebot der therapeutischen Sprechstunden ist die Situation in Deutschland, verglichen mit Österreich, wo man auf ein Erstgespräch oft bereits monatelang warten muss, signifikant besser. Das ändert selbstverständlich nichts an der Problematik, dass viele Therapeutinnen den Hilfesuchenden nach diesen Sprechstunden und Akutbehandlungen keine Therapieplätze anbieten können. Die Wartezeit auf letztere wird dadurch aber verkürzt und möglicherweise erträglicher gemacht, denn sie ist auch in Deutschland viel zu lang. Schon vor Corona lag sie im Durchschnitt bei 20 Wochen.ii

    Für viele Betroffene ist es allerdings bereits entlastend, überhaupt auf ein offenes Ohr zu stoßen. Das Gefühl vermittelt zu bekommen, dass sie nicht völlig allein dastehen, dass es überhaupt Hilfe gibt, kann schon helfen – so können die Sprechstunden möglicherweise bereits erste Belastungen abfedern. In jedem Fall sind sie im Vergleich zum österreichischen System, in dem Notleidende mit „Leider ist gerade kein Platz frei, melden Sie sich in drei Monaten wieder" auf sich selbst zurück- und in die Hoffnungs- und Hilflosigkeit geworfen werden, eine deutlich bessere Ausgangslage.

    Außerdem bieten deutsche Krankenkassen auch an, je nach Therapieverfahren vier bis sieben probatorische Sitzungen, also Probestunden, bei Therapeutinnen zu absolvieren, um herauszufinden, wie gut die Therapeutin zu einem passt. Diese Probesitzungen werden ohne Antrag gewährleistet. Das ist aus einer therapeutischen Sicht höchst sinnvoll und auch notwendig, da die Qualität der therapeutischen Beziehung über den Therapieerfolg entscheidet und es deshalb äußerst ratsam ist, zu testen, ob eine solche therapeutische Beziehung überhaupt aufgebaut werden kann. Aus der Perspektive einer Österreicherin klingt dieses Angebot allerdings völlig utopisch. Wer bessere psychische Gesundheitsversorgung fordert, ist schnell mit dem Argument konfrontiert, dass diese für den Staat unleistbar sei. Wir können es uns nicht leisten, allen Menschen, die Psychotherapie brauchen, diese Psychotherapie auch zu finanzieren ist allerdings sehr kurz gedacht, denn: Wer bei Psychotherapie einspart, lässt am anderen Ende weitaus größere Kosten entstehen: in Form von Krankenständen, in Form von Arbeitsunfähigkeit, Arbeitslosigkeit und Frühpension. Aber auch in Form von oft langen Krankenhaus- und Reha-Aufenthalten. Wer Menschen nicht hilft, verschlimmert oder chronifiziert ihr Leiden. Bereits 2019 – also noch vor der Pandemie – waren psychische Erkrankungen in Österreich für zwei Drittel aller Frühpensionierungen verantwortlich, bei Frauen in einem noch größeren Ausmaß als bei Männern. Die häufigsten Erkrankungen, die zu Arbeitsunfähigkeit führen, sind affektive Störungen: Angsterkrankungen und Depressionen.iii Vor allem Depressionen führen, gerade, wenn sie schlecht, zu spät oder gar nicht behandelt werden, zu enormen Folgekosten. Laut Schätzungen verursachen sie mit 92 Millionen Euro ein Drittel aller Gesamtkosten, die von psychischen Erkrankungen verursacht werden. Von allen neurologischen und psychischen Erkrankungen sind Depressionen damit europaweit die teuersten.iv

    Depressionen haben aber auch einen negativen Einfluss auf die körperliche Gesundheit von Betroffenen, sie erhöhen das Schlaganfall- und Herzinfarktrisiko, beeinflussen die Krankheitsverläufe bei Krebserkrankungen negativ, ebenso bei Diabetes und anderen chronischen Erkrankungen.v Psychische Erkrankungen nicht oder zu spät zu behandeln, bringt also auch Folgekosten mit sich, die nicht direkt durch eine schlechtere psychische Gesundheit, sondern durch einen schlechteren körperlichen Gesundheitszustand der Betroffenen entstehen.

    Schon 2014 kosteten psychische Erkrankungen der österreichischen Volkswirtschaft laut OECD-Bericht elf Milliarden Euro.vi Der gesamtwirtschaftliche und gesamtgesellschaftliche Schaden, der infolge psychischer Erkrankungen entsteht, ist nicht nur in Österreich beachtlich. In den USA beispielsweise sind 85–95 Prozent der Menschen mit schwerwiegenden psychischen Erkrankungen erwerbsarbeitslos. Die Kosten und Folgekosten sind enorm. Andrew Solomon beschreibt in „The Noonday Demon, wie diese Kosten sich von Generation zu Generation multiplizieren, wie Erwachsene mit unbehandelten psychischen Erkrankungen diese an ihre Kinder weitergeben, wie diese wiederum zu psychisch kranken Erwachsenen werden. Er konkludiert mit dem Satz: „Die Kosten für die Behandlung von Depressionen in dieser Gesellschaft sind bescheiden, wenn man sie mit den Kosten vergleicht, die entstehen, wenn Depressionen nicht behandelt werden.vii

    Die Nicht- oder Zu-Spät-Behandlung von psychischen Erkrankungen kostet aber nicht nur Geld. Sie kostet auch Menschenleben.

    Vor allem für Menschen mit Depressionen ist die äußerste und letzte Konsequenz ihrer Krankheit nicht selten Suizid. Mit einer Depression nämlich ist das Risiko, durch Suizid zu sterben, um das 20-Fache erhöht. Mindestens 50 Prozent aller Suizide sind die Folge von oder stehen in Zusammenhang mit einer depressiven Erkrankung.viii In einer umfassenden Studie wurde festgestellt, dass insgesamt 87,3 Prozent der Menschen, die durch Suizid versterben, vor ihrem Tod mit einer psychischen Erkrankung diagnostiziert wurden.ix

    Weltweit stirbt alle 40 Sekunden ein Mensch durch Suizid2, das sind 3.000 Menschen pro Tag, über eine Million pro Jahr.

    Während schon die Zahl an abgeschlossenen Suiziden (das Wort „erfolgreich erscheint mir in dem Zusammenhang fehl am Platz) erschreckend hoch ist, ist gleichzeitig davon auszugehen, dass die Zahl an Suizidversuchen die Zahl an „erfolgreichen Suiziden um das 10- bis 30-Fache übersteigt. Das bedeutet allein für Österreich eine Zahl von 12.500 bis 37.500 Suizidversuchen pro Jahr, von denen im Übrigen 70–75 Prozent durch Vergiftung verübt werden.x Verlässliche Zahlen haben wir hier leider keine, da Suizidversuche oftmals nicht als solche erkannt, als Unfälle missverstanden werden und nicht zwingend zu einem Kontakt mit dem Gesundheitssystem oder anderen Behörden führen.

    Anmerkungen

    i„Depression ist deprimierend". Kirsch, 3.

    ii https://www.zdf.de/dokumentation/zdfzoom/zdfzoom-psyche-innot-102.html .

    iii https://www.derstandard.at/story/2000109688123/psychisch-krankesind-in-oesterreich-problematisch-schlecht-versorgt .

    iv Gender-Gesundheitsbericht, 33.

    vGender-Gesundheitsbericht, 33.

    vi https://www.diepresse.com/3841010/oecd-bericht-milliardenkostendurch-depressionen .

    vii Solomon, 337. „The dollar cost for treating depression in this community is modest when compared to the dollar cost of not treating depression."

    viii Gender-Gesundheitsbericht, 33.

    ix Arsenault-Lapierre et al., 4.

    xGender-Gesundheitsbericht, 34.

    ____________

    1Von direkten Zitaten am Anfang der Kapitel findest du in den Endnoten eine deutsche Übersetzung.

    2Ich spreche hier bewusst nicht von „Selbstmord, da ich leidende Menschen nicht mit einem grausamen Gewaltverbrechen in Verbindung bringen möchte. Ich verwende die Formulierung „durch Suizid sterben, nicht „Suizid (oder Selbstmord) begehen", da Selbsttötung kein Verbrechen ist, nicht im moralischen Sinne und – zumindest hierzulande – auch nicht im rechtlichen Sinne.

    Mein Therapieplatz: Geschichte einer Suche

    persönliche Erfahrungen mit dem Gesundheitssystem Hilflosigkeit als Multiplikator der Krise

    Ich kenne das Problem der vielen Hürden auf dem Weg zur Hilfe aus eigener Erfahrung. Im Jahr 2010 entschied ich mich zum ersten Mal dazu, mir einen Psychotherapieplatz zu suchen. Ich hatte mehrere Jahre hinter mir, in welchen ich immer wieder wochenlang stark depressiv war, immer öfter gesellten sich tiefe Gefühle von Hoffnungslosigkeit dazu sowie eine erdrückende Überzeugung, im Leben völlig versagt zu haben und als Mensch wertlos zu sein. Ich war zu dem Zeitpunkt übrigens 23 Jahre alt, allzu viele Möglichkeiten zum Scheitern hatte ich noch gar nicht gehabt, ebenso wenig eine Ahnung, wie viel Scheitern ein Menschenleben so beinhaltet und wie viel dieses Scheiterns noch auf mich zukommen würde. 2010 also, als 23-Jährige, kam ich zum ersten Mal als potenzielle psychiatrische/psychotherapeutische Patientin mit dem österreichischen Gesundheitssystem in Kontakt. Es war ein kurzer Kontakt, denn ich gab die Suche nach einem Therapieplatz sehr schnell wieder auf – die Hürden waren zu groß und ich hatte zu wenig Kraft, sie zu überspringen.

    Da waren einerseits die finanziellen Hürden. Als Studentin aus der Arbeiterinnenklasse mit sehr geringem Einkommen, das zu dem Zeitpunkt weit unter der Armutsgrenze lag, konnte ich es mir nicht leisten, für einen Therapieplatz zu bezahlen. Ich war also auf der Suche nach einem Kassenplatz. Allen inneren Widerständen zum Trotz (und aller Stigmatisierung von Psychotherapie zum Trotz) zückte ich irgendwann das Handy und den Laptop. Zuerst suchte ich online nach Therapeutinnen, die auf meine Thematiken spezialisiert waren und/oder Therapiemethoden anwendeten, von denen ich dachte, dass sie mir helfen könnten, und die Kassenplätze anboten. Denn wie bereits erläutert haben nur wenige Psychotherapeutinnen in Österreich überhaupt Kassenverträge. Die allermeisten kamen also ohnehin nicht in Frage. Schon die Anrufe allein kosteten mich sehr viel Überwindung. Abgesehen davon, dass ich es hasse zu telefonieren, braucht es erstaunlich viel Kraft, sich zuerst einzugestehen, dass man Hilfe braucht, und dann eine fremde Person anzurufen, seine Symptome zu schildern und nach Hilfe zu fragen. Nichts daran ist angenehm. Nichts daran ist leicht. Leider teilte mir eine Therapeutin nach der anderen mit, dass sie keine freien Plätze habe. Die geringste Wartedauer auf der Warteliste, die mir genannt wurde, war ein halbes Jahr, die längste zwei Jahre. Das Ergebnis der Therapiesuche war also: kein Therapieplatz, sondern Desillusionierung und noch größere Hilflosigkeit. Das Gefühl, dass ich keine Hilfe bekomme, auch wenn ich mich darum bemühe.

    Das ist ein Problem, denn Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit sind wesentliche Symptome, um die Depressionen häufig kreisen. Menschen in depressiven Krisen mitzuteilen, dass es für sie keine Hilfe gibt (wenn auch implizit, indem man ihnen sagt, dass es keine Therapieplätze gibt), ist fatal. Es potenziert die Depression.

    Während wir also Menschen in psychischen Krisen oder in tiefer Verzweiflung auf der Suche nach Hilfe Hürden in den Weg stellen, die schon für „Gesunde fast unüberwindbar wären, werden durch diese Hürden auch noch die Krisen selbst bestärkt. Das Empfinden der eigenen Hilflosigkeit und Aussichtslosigkeit wird von außen „offiziell bestätigt – Nein, dir ist wirklich nicht zu helfen. Es gibt keine Hilfe. Wir werden dir nicht helfen. Deine Situation ist aussichtslos ist die implizite Botschaft, und auch wenn sie implizit bleibt, gibt es nichts, was eine Person in einer Depression weniger hören sollte als das.

    Nachdem meine Therapiesuche erfolglos war und mir die Kraft fehlte, mich ihr noch länger zu widmen, als ich das ohnehin schon tat, hörte ich auf mit der Suche, zog mich noch weiter zurück, stürzte noch tiefer in meine Depressivität. Ab und zu nahm ich meinen ganzen Mut und meine ganze Kraft zusammen und versuchte wieder einen Therapieplatz zu finden, aber immer mit demselben Ergebnis.

    Daher weiß ich: Der Weg zu psychotherapeutischer Hilfe muss vereinfacht werden. Und: In der Bereitstellung von Hilfe muss dringend miteinbezogen werden, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen und in psychischen Krisen in der Regel nicht die psychischen und oft auch nicht die kognitiven Kapazitäten haben, um diese Herausforderung zu meistern.

    Und dann kam 2014. Ich war mittlerweile 27 Jahre alt und hatte gerade mein Studium unter Hochdruck abgeschlossen. Meine Symptome wurden durch diese Situation potenziert, aber auch als der äußere Druck vorbei war, ließ das Gefühl des Unter-Druck-Stehens nicht nach. Der Stressor war weg, der Stress blieb. Eigentlich hätte ich viel Grund zur Erleichterung und zu Freude und Stolz gehabt – mein Studienabschluss erhielt das Prädikat „mit Auszeichnung, ich war nun nicht mehr nur die Erste in meiner gesamten Verwandtschaft, die eine höhere Schule mit Matura absolviert hatte, sondern auch die Erste mit einem Studienabschluss. Aber die Erleichterung kam nicht. Die Freude und der Stolz auch nicht. Im Gegenteil: Ich entwickelte eine Reihe irrationaler Ängste, war ständig nervös und agitiert und gleichzeitig deprimiert, ich konnte nicht mehr schlafen, nichts mehr essen. Ich verlor in Folge innerhalb kürzester Zeit fast die Hälfte meines Körpergewichtes. Lange wurde das von meiner Umwelt nicht als Problem gesehen. Da ich vorher dick war und an die 95 Kilo hatte, wurden die 50 Kilo, die ich nun wog, sehr positiv wahrgenommen. Die Komplimente für meine „Modelfigur waren zahlreich. Dass es mir nie so schlecht ging wie zu jenem Zeitpunkt und dass der Gewichtsverlust ein Ergebnis tiefen inneren Leids und großer Verzweiflung oder, anders formuliert, das Symptom einer Krankheit war, schien niemanden zu interessieren. Ausdrücklicher wurde mir nie vor Augen geführt, dass mein Wohlbefinden als Frau irrelevant ist, solange ich nur schlank und ansehnlich bin. Die Nachricht war: Es ist egal, wie es dir geht, solange du dabei gut aussiehst. Wichtig und lobenswert für eine Frau ist es offenbar, so wenig Raum wie möglich einzunehmen – auch physisch.

    Da mein Gewichtsverlust nicht das Ergebnis gezielten und kontrollierten Abnehmens war, sondern ein Resultat dessen, dass ich monatelang kaum einen Bissen hinunterbrachte, entwickelte ich Vitamin- und Nährstoffmängel. Diese wirkten sich körperlich aus. Ich litt unter Haarausfall, hatte seltsame Ausschläge und wurde insgesamt immer schwächer und kränker. Ich verbrachte viel Zeit bei Ärztinnen, da mir meine körperlichen Symptome noch zusätzliche Sorgen bereiteten. Jede Ärztin untersuchte jeweils nur die Körperregion, für die sie zuständig war, niemand blickte über den Tellerrand. Die irrationalen Ängste setzten sich nun in einer großen Angst vor körperlichen Erkrankungen und Infektionen fest. Die für mich unheimlichen Symptome, die mein Körper aufgrund der psychischen Krise, die ich durchmachte, und aufgrund des massiven Gewichtsverlustes ausbildete, gaben diesen Ängsten recht.

    Um es kurz zu machen: 2014 bekam ich endlich einen Therapieplatz. Ich musste erst körperlich erkranken, meine psychische Erkrankung musste sich körperlich auf massiv gesundheitsgefährdende Weise manifestieren, um Hilfe zu erhalten. Leider aber auch 2014 nicht in Form eines Kassenplatzes. Ich erfuhr zufällig und durch Glück, dass die österreichische HochschülerInnenschaft Therapiestunden finanzierte, und nach den so finanzierten zehn Einheiten konnte ich meinen Therapieplatz zu einem Sozialtarif behalten. Erst 2017, als bei meiner damaligen Therapeutin ein solcher frei wurde, erhielt ich einen kassenfinanzierten Therapieplatz. Sieben Jahre also, nachdem ich ursprünglich mit der Suche begonnen hatte.

    Wie viel Leid wäre mir erspart geblieben, hätte ich früher Hilfe bekommen? Wie vielen Menschen würde Leid erspart, würde ihnen früher geholfen? Meine Geschichte ist nämlich keineswegs außergewöhnlich – sondern ein Beispiel von vielen.

    Gesundheit auf eigene Kosten

    Deutschland und Österreich: verschiedene Systeme Fachärztinnen Medikamente

    Während die Kostenübernahme von Therapie durch staatliche Krankenkassen in Österreich die absolute Ausnahme darstellt, ist sie in Deutschland Standard. Wenn ich auf Social Media über die Kosten berichte, die mir durch meine psychische Erkrankung entstehen, reagieren deutsche Followerinnen in der Regel mit Verwunderung bis Schock. „Aber das zahlt doch die Krankenkasse? Warum musst du das denn selbst zahlen? Hast du keine Diagnose?"

    Doch, doch, ich habe eine Diagnose, und ich mache meine Therapie aus Notwendigkeit, nicht als Zeitvertreib. Dennoch: Die Psychotherapie bei meiner aktuellen Therapeutin kostet mich 110 Euro die Stunde. Glücklicherweise hat die staatliche Krankenkasse (als Selbstständige bin ich bei der sogenannten „SVA" versichert) meinen Antrag auf Teilrefundierung gestattet, wodurch ich pro Einheit 40 Euro von der Krankenkasse refundiert bekomme. Es bleibt also eine wöchentliche Summe von 70 Euro für Psychotherapie, eine für mich lebensnotwendige Gesundheitsdienstleistung.

    Für die Refundierungsbewilligung musste ich einen Antrag stellen, der genauso gut hätte abgelehnt werden können. Wäre ich bei der österreichischen Gesundheitskasse (der ÖGK) versichert, wo die meisten Personen in Österreich versichert sind, beispielsweise fast alle Arbeiterinnen in regulären Beschäftigungsverhältnissen, würde der Refundierungsbetrag nur 28,42 Euro pro Einheit betragen. Hinzu kommen die Kosten für meine Psychiaterin, die 180 Euro pro Termin berechnet – von denen ich in der Regel 80 Prozent refundiert bekomme, vorstrecken muss ich den Betrag dennoch. Gute Psychiaterinnen sind rar, die meisten von ihnen haben keine Kassenverträge. Jene mit Kassenverträgen sind in aller Regel so überbucht, dass sie keine neuen Patientinnen mehr aufnehmen können. Neben Psychotherapie zahlt man in Österreich also auch die behandelnde Psychiaterin in der Regel selbst.

    Hinzu kommen die Kosten für Medikamente – das ist in aller Regel nur ein Kostenanteil, der an die Krankenkasse entrichtet werden muss. Aktuell liegt diese Rezeptgebühr in Österreich bei 6,65 Euro pro Medikamentenpackung. Allerdings gibt es auch eine Reihe neuerer Antidepressiva, die in Österreich nicht von der Kasse übernommen werden. Eines davon ist Vortioxetin (als Brintellix auf dem Markt). Vortioxetin ist das einzige Antidepressivum, das laut Angaben der Pharmafirma, die es vertreibt, die kognitiven Symptome von Depressionen lindert.i Von den staatlichen Krankenkassen wird es in Österreich nicht übernommen. Als ich vor einiger Zeit, nachdem ich bereits verschiedene Medikamente ausprobiert hatte und keines davon Wirkung zeigte, von meiner damaligen Psychiaterin auf meinen Vorschlag hin – da ich als Doktorandin insbesondere die kognitiven Einschränkungen, die mit meiner Depression einhergingen, belastend fand – Brintellix verschrieben bekam, musste ich etwa 130 Euro pro Packung für das Präparat bezahlen. Eine Packung reichte für 28 Tage. „Glücklicherweise" zeigte aber auch Brintellix bei mir genauso wenig Wirkung wie die Medikamente vor ihm und ich wurde wieder auf ein kassenfinanziertes Präparat eingestellt, für welches ich reguläre Rezeptgebühren zu entrichten hatte.

    Da ich – auch aufgrund meiner Depression – nach meinem Studium einige Jahre nur von Mindestsicherung lebte, machten die Kosten, die mir durch meine psychische Erkrankung entstanden, einen Großteil des mir zur Verfügung stehenden Monatseinkommens aus. Oft überstiegen sie es sogar, was dazu führte, dass mein Konto-Minus unablässig wuchs. Ich war in der paradoxen Situation, dass mich die Behandlung meiner Depression zusätzlich belastete: weil ich sie mir eigentlich nicht leisten konnte und weil ich sah, dass ich mich Monat für Monat, für diese Behandlung, in Schulden stürzte. Ich erinnere mich sehr gut an einen bestimmten Moment im Jahr 2018, als ich beim Bankomat Geld für einen Besuch bei meiner psychiatrischen Fachärztin beheben wollte, aber der Überziehungsrahmen meines Kontos ausgereizt war. Ich konnte also nicht zur Psychiaterin gehen, weil ich es mir schlicht nicht mehr leisten konnte.

    Wie es mir ging, geht es vielen Menschen in Österreich.

    Anmerkung

    ihttps://www.arzneimitteltherapie.de/heftarchiv/2014/12/vortioxetin-multimodales-antidepressivum-als-neuartige-option-inder-therapie-der-major-depression.html#:~:text=Vortioxetin%20(Brintellix%C2%AE)%20ist%20ein,auf%20unterschiedliche%20Rezeptoren%20des%20Serotoninsystems .

    Psychotherapie als teurer Luxus

    Ausbildungskosten Therapie als Klassenfrage

    Der Sozialpakt der UN aus dem Jahre 1966 legt im Artikel 12 fest, dass alle Menschen das Recht auf den „höchsten erreichbaren Stand an körperlicher und geistiger Gesundheit" haben. Gesundheit und ein niederschwelliger Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen sind also ein Menschenrecht. Der Zugang zu psychischen Gesundheitsdienstleistungen wird vom österreichischen Gesundheitssystem allerdings eher wie ein privater Luxusspaß gehandhabt. Dies ist für alle Beteiligten ein großes Problem. Neben der Kostenintensität von Psychotherapie für jene, die sie in Anspruch nehmen müssen, ist nämlich auch der Ausbildungsweg zur Psychotherapeutin kein einfacher.

    Er besteht in Österreich aus zwei Teilen: dem sogenannten Propädeutikum und dem darauffolgenden Fachspezifikum. Laut psyonline.at belaufen sich die Kosten für den ersten Teil, das Propädeutikum, auf 4.000 bis 8.000 Euro, hinzu kommen noch die Kosten für 50 Stunden Selbsterfahrung und 20 Stunden Supervision – diese sind nicht näher ausgeführt. Das Fachspezifikum wiederum kostet zwischen 25.000 und 50.000 Euro – je nach Ausbildungsanbieter. Zudem gibt es die Möglichkeit, an privaten Universitäten – konkret der Donau-Universität Krems und der Sigmund-Freud-Universität in Wien – Psychotherapiewissenschaften zu studieren. Auch hier muss man tief in die Tasche greifen. Ein Beispiel: An der Sigmund-Freud-Universität bezahlt man für das BA-Studium, dessen Abschluss das Propädeutikum beinhaltet, 6.300 Euro pro Semester.

    Die Ausbildung zur Psychotherapeutin ist also teuer. So teuer, dass sie für die meisten ein unbezahlbarer Traum bleibt. Wer nicht das Glück wohlhabender Eltern hat, die die Ausbildungskosten stemmen können, kann sich diesen Traum oft erst

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