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Gott hassen
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eBook241 Seiten3 Stunden

Gott hassen

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Über dieses E-Book

Gott hassen ist ein kompromissloser, nachdenklicher, spielerischer und zutiefst faszinierender Roman über Black Metal und weiß getünchte Idylle, über Untergrundbewegungen, Magie und Rebellion. 
Norwegen in den 90ern: Weiße Lattenzäune stehen in Reih und Glied, die junge Erzählerin leidet an der Eintönigkeit und am christlichen Konservatismus. Als erwachsene Frau beginnt sie sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen, hinterfragt ihre künstlerische Praxis und dekonstruiert die Maßstäbe, nach denen wir Kunst definieren. Sie sucht nach Befreiung im Untergrund und zieht ihre Energie aus dem Hass – einem Gefühl, mit dessen Hilfe sie sich produktiv einem jahrhundertealten Genie-Kult entgegenstellen kann.
SpracheDeutsch
HerausgeberMÄRZ Verlag
Erscheinungsdatum28. Feb. 2023
ISBN9783755050162
Gott hassen
Autor

Jenny Hval

Jenny Hval, geboren 1980 in Oslo, hat Kreatives Schreiben und Performance in Melbourne, Australien studiert. 2006 ist ihre erste EP »Cigars« erschienen. Seither hat sie fast ein Dutzend Platten aufgenommen, die mit allen wichtigen nordischen Musikpreisen ausgezeichnet wurden. Zuletzt erschien ihr Roman »Perlenbrauerei« bei MÄRZ.

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    Buchvorschau

    Gott hassen - Jenny Hval

    1. DIE HEXENKUNST

    Ich hasse Gott.

    Es klingt primitiv und erbärmlich, das zu sagen, aber ich bin eine primitive und erbärmliche Person.

    Der Bildschirm vor mir zeigt Bilder aus dem Jahr 1990. Fichten, Berge, grauer Himmel. Das Video flimmert und die Kamera wird durch ein niedrig aufgelöstes Digital-Universum geschwenkt. Eine jungenhafte Gestalt, vielleicht Nocturno Culto, läuft zu brutalen Gitarrenriffs durch den Wald. Die Kamera folgt ihm nur träge. Das Bild ruckelt im Takt der Schritte des Filmenden. Ist das eine Art Geburt? Ich schreibe: »Homevideo, im Einklang mit der Lo-Fi-Ästhetik des Genres. Kurze, rätselhafte und hässliche Kamerariffs über langweiliger norwegischer Landschaft.«

    Ich notiere: »Ich hasse Gott.« Was für eine arrogante Aussage, aber ich habe einen arroganten Charakter (»Ich« – ist das nicht auch nur ein anderes Wort für »Gott«?).

    Im Jahr 1990 hasse ich Gott.

    Nocturno Culto und seine Band spielen noch Thrash Metal, und ich hasse mich durch die Klassenräume der Grundschule und durch den dicken südnorwegischen Dialekt der Lehrer. Ich weigere mich, ihn anzunehmen, ich hasse seinen schweren Ton, mit dem die Ermahnungen einhergehen. Die Menschen aus Südnorwegen sagen so wenig anderes. Es ist auch gar nicht möglich, damit etwas Neues zu sagen, also verkünden sie die immergleichen Formeln. Ich weiß wirklich nicht, für was er sich eignen soll, abgesehen von Predigten. Wenn sie pRaktizieRendeR ChRist sagen, stößt die Zunge die r-Laute so heftig aus dem Rachen, dass die Konsonanten bis ins Fegefeuer fliegen müssen, und meine Ohren sind stigmatisiert.

    Am meisten hasse ich Gøud, wie die Leute aus Aust-Agder sagen, und mein Lehrer in jedem seiner Morgengebete. Wie ich es verstanden habe, ist Gott nur ein flüchtiges Konzept in ein paar Büchern, während Gøud da draußen existiert und den Leuten in Südnorwegen das Haar in strenge Knoten und die Kehlen in Schlingen legt. Es ist Gøud, der in mein Schulheft schreibt, dass ich den dritten Vers unserer Psalmreihe »Mond und Sonne« nicht auswendig gelernt habe, und es ist Gøud, der entschieden hat, dass wir nichts über andere Religionen und Weltanschauungen lernen. Ich hasse Gottesdienste, die chRistliche Taufe, Hochzeiten und BeeRdigungen. Ich hasse die chRistliche VolkspaRtei und ich hasse das KlaubensbeKenntnis. Ich hasse es auswendig, rückwärts, hoch und runter. VateR unseR, der du bist in der Hölle.

    Mir wird immer noch warm vor Freude, wenn ich das sage. Ich bin immer noch blasphemisch. Ich genieße das brennende Gefühl der Scham, und spüre, wie die Wangen anschwellen und im heißen Feuer der Ausgrenzung glühen. Ich kann mich mit Andersens Mädchen mit den Schwefelhölzern identifizieren. So wie sie in einer kalten Straße sitzt und sich am glücklichen Weihnachtsfest der anderen Menschen wärmt, wärme ich meine eiskalte Teufelsseele am Glaubensbekenntnis der anderen. Das Mädchen fröstelt zwischen den Visionen glitzernder Weihnachtsbäume und Hologrammen aus Engeln. Sie erfriert bei dem Versuch, sich an den Geistern des Heiligen, der Fata Morgana des Protestantismus, zu wärmen.

    Es macht mich so glücklich zu hassen. Mein Hass ist radioaktiv, seine Strahlen umgeben mich, das Kind, im Jahr 1990. Der Hass ist meine Fantasiewelt, mein pleasure dome. Gibt es ein Wort für pleasure dome auf Norwegisch? Man sagt es nicht. Jedenfalls gibt es den Ausdruck nicht im südnorwegischen Dialekt, er sitzt nur tief in meinem düsteren Blick. Dieser Blick sieht auf Bildern scheinbar nach innen und implodiert fast. Ist dieser Blick die Sprache, die sie Hass nennen?

    Du musst natürlich nicht antworten, nein. Wahrscheinlich verstehst du kein einziges Wort Dialekt. Aber vielleicht hat es dich schon mal glücklich gemacht zu hassen. Deswegen schreibe ich dir. Um mich zu zeigen.

    Ich hasse Gott, seitdem ich das Schreiben gelernt habe. Ich muss diese ganzen Worte großschreiben, und ich hasse es. Jesus Christus, Vater, Gott und so weiter, schriftliche Unterwürfigkeit. In der Schule muss ich nachsitzen und lernen, wie man ein großes O schreibt. Ich zeichne nur Spiralen und sie denken, dass ich einfach keinen Kreis zeichnen kann. Also soll ich Worte mit großem O abschreiben, und ich erinnere mich vor allem daran, Ordet, Ordet, Ordet wiederholen zu müssen – Das Wort. Es fühlt sich an, als würde es in mir und den Großbuchstaben brennen, und zum Schluss knicke ich ein und schreibe eine lange Reihe OOOOOOOOOOOOO auf das Blatt, es sieht mehr aus wie Gekritzel, und weniger wie Buchstaben. Ich schreibe über alle Zeilen in meinem Heft und dann weiter über den Tisch, bis der Lehrer kommt und mir eine Verwarnung erteilt. Ist dir schon mal aufgefallen, wie ähnlich die Worte schreiben und schreien klingen? Ich hasse Großbuchstaben, ich hasse Das Wort.

    Wir bekommen nicht die Erlaubnis, hassen auszusprechen – außer es geht um Hitler. Das hat ein Vater von jemandem mal gesagt. Aber ich sage es sowieso nicht wie die anderen, hadår, es ist viel zu weich und zu feucht, ich hasse, und ich liebe es zu hassen. Im Jahr 1992 bin ich die düsterste Kinderkönigin.

    Auch auf dem Bildschirm vor mir ist jetzt 1992, es läuft eine Bonus-DVD, die mit der Neuauflage der ersten Alben von Darkthrone veröffentlicht wurde. Ein paar schwirrende Bäume in Schwarz-Weiß. Angespannte Atmosphäre. Ich folge der wackligen Kamera durch den Wald, erfreut über den Versuch, die schönen und ordentlich gewachsenen Fichten in etwas Hässliches, Furchterregendes und Mysteriöses verwandelt zu sehen. Als würde die Band jeglichen Lebenssaft aus dem Jahr 1992 herauspressen wollen, oder alles, was an 1992 gewöhnlich war.

    Ein Junge, wahrscheinlich immer noch Nocturno Culto, raucht auf einer Bank im Wald. »Primitiver«, sagt Fenriz. Das Interview wurde viele Jahre später geführt, die Band analysiert und resümiert. Sie sehen zurück und sagen: »Wir wollten was Primitiveres.«

    Du kannst dir das Interview selbst ansehen, es ist online.

    Primitiv. Ich habe das Wort noch nie jemanden aus Südnorwegen sagen hören.

    Ich hasse mich weiter durch die Klassenstufen hindurch, bis in das Jahr 1997, auf das Gymnasium, und es wird immer offensichtlicher, dass die Sprache nicht ausreicht. Irgendetwas stimmt nicht hier im Süden. Oder mit der norwegischen Sprache. Vielleicht gibt es im Norwegischen einfach nicht die richtigen Worte und Klänge für Genuss. Es fühlt sich wie eine provinzielle Sprache an, eine Sprache für wortkargen Austausch über das Wetter, Gottesdienste, Bootshandbücher und Strafpredigten. Die Worte klingen nicht so musikalisch und archaisch wie die aus dem Old English Dictionary oder aus den altenglischen Gedichten in gothischer Schrift. Die norwegische Sprache hält viele Worte für meine Sünden und meine Fehler bereit; meine auferlegte Muttersprache ist eine Sprache für Menschen, die eigentlich kein Verständnis von Sprache haben, von Poesie oder der Notwendigkeit von Kommunikation. Am Gymnasium verkörpert Inger aus Der Segen der Erde die norwegische Sprache: Inger hat eine Hasenscharte und einen Sprachfehler. Sie kann die Worte beim Sprechen nicht richtig koordinieren und hält, oder sollte, nach Hamsun ihren Mund halten. Die Vorstellung ihrer verworrenen Sprache macht mir Freude. Ich sollte mich vielleicht stärker mit ihr identifizieren: Sie ist der Ausdruck eines genetischen Fehlers, der Mund und Kopf betrifft, also auch mich – aber ich tue es nicht. Ich entscheide mich für den Hass. Ich hasse Knut Hamsun, und ganz besonders Pan. Ich weigere mich, dieses Buch durchzulesen. Ich sage dem Lehrer, dass es eine Beleidigung für das Gehirn sei, und der Lehrer erteilt mir eine schriftliche Warnung. Ich wünschte, ich hätte dem Lehrer gesagt, dass die Bibel eine Beleidigung für die Seele ist.

    Während meiner gesamten Kindheit und Jugend schäumt die Spucke in meinem Mund. Wenn ich rede und wenn ich nicht rede. Es gibt nur eine Stelle, mit der ich etwas anfangen kann, wenn wir Terje Vigen von Ibsen laut vorlesen müssen: Die schäumenden Wellen an der Schärenküste von Homborsund, denn ganz genau so schäumt es in meinem Mund, wenn ich lese. Es gibt nichts Sanftes oder Weiches in meinem Mund; alles, was feucht ist, schäumt und brodelt endlos, wie ein geloopter Beat.

    Nocturno Cultos Zigarette ist aus. Die Kamera fährt wieder in den Wald hinein, in den Schnee, Schwarz-Weiß, zur Musik von Transilvanian Hunger. Ich notiere: »Norwegische Landschaft sieht aus und klingt wie surrende, wütende Insekten.«

    Ich sehe mir diese Clips an, weil ich ein Drehbuch schreiben will. Ich weiß noch nicht, worum es gehen soll, aber ich mag die frühe Black Metal-Ästhetik, die nur um Haaresbreite von meiner Jugend entfernt ist. Es erfüllt mich mit Hoffnung, dass Kunst auf so primitive Weise entstehen kann, ohne Spuren von Professionalität oder Kompromissen. Kunst, die Hass enthält. Ich denke daran, wie viel Hoffnung im Hass steckt.

    Ich sehe mir noch einen Clip an. Darin spielt eine Black Metal-Band ein Konzert in der Turnhalle einer Schule, es sieht nach frühen Neunzigern aus. Ich schreibe: »Gesunde, norwegische Jugendliche unterhalten sich, verlassen die Halle und gehen wieder hinein, und die Band spielt vollkommen unbeeindruckt. Black Metal kriecht unbemerkt durch die Adoleszenz, auch durch meine, er gräbt sich nicht vollkommen hinein, aber solange er da ist, lebt und kriecht er.«

    Ich hätte dabei sein können. Wäre ich nur ein paar Jahre älter gewesen, oder der Clip nicht von 1991, sondern 1997, wäre ich kein Mädchen gewesen und damit nicht automatisch von der schwarzen Leinwand ausgeschlossen. Ich hätte dabei sein können, wir hätten zusammen hassen können. Stattdessen musste ich allein hassen. Provinzhass.

    »Der Jongleur«, sagt Fenriz in dem Clip. »Wir wollten den Jongleur spielen.«

    Oder meint er den Gaukler? Den Hofnarren, der alles auf den Kopf stellt, die Welt in ein rabenschwarzes Spiel verwandelt, den Comedian, der dem König die schlechten Nachrichten überbringen soll? Fenriz sagt the Juggler. Schwer zu sagen, was Leute meinen, wenn sie ihre Gedanken in eine andere Sprache übersetzen müssen. Er sagt auch, bashed out primitive shit. Totale Misanthropie. Total misanthropic black metal.

    Jungs aus Kolbotn, Sveio, Rauland oder Ski, meinetwegen auch Arendal: Ich zeige euch Misanthropie. Ich gehe auf Konzerte, die aussehen wie dieser Turnhallen-Gig. Ich gehe auf diese Konzerte, um dem konformen, norwegischen Christenalltag zu entkommen, ich suche nach einer neuen Gemeinschaft außerhalb des Klassenzimmers. Ich bin auch hier. Auf der Bühne stehen nur Jungs. Jungs mit langen, schwarzen Haaren, die ihre Köpfe mit choreografischer Präzision vor- und zurückwerfen. Es unterscheidet sich nicht mal so sehr von der Bewegung, die ich im Jazzballett gelernt habe. Während das Headbanging der Mädchen im Jazzballett sexy aussehen soll, steht die identische Bewegung in der Metal-Szene für Aggression. Hier gibt es nur eine Farbe, Schwarz, und nur zwei Materialien, Leder und Samt. Die glitzernden Gitarrenhälse ähneln Schwertern oder Schwänzen, oder beidem. Wenn ich mich umschaue, sehe ich nur Jungs im Publikum, oder nein, da sind auch andere Mädchen. Aber keines der Mädchen headbangt, niemand ist wie ich. Niemand sonst scheint zu hassen. 1997 ist es zu spät. Metal ist nach den Morden und Kirchenbränden ängstlich geworden und in einer romantischen Phase angekommen. Dem Hass wurden Beruhigungsmittel verschrieben. Die surrenden, chaotischen Gitarrenriffs auf den primitiven Aufnahmen wurden durch eine aggressive Tristesse ersetzt, die mit dem regnerischen Wetter, den synthetischen Drogen und der höflichen Wortkargheit in Südnorwegen vereinbar ist. Niemand im Publikum trägt corpse paint, ein paar Jungs mit schwarzem Kajal unter den Augen sind damit beschäftigt, den Schülern Ecstasy zu verkaufen und achten kaum auf die Musik. Nur ich stehe in der letzten Reihe, höre zu und hasse, alleine, unbeweglich und stumm in einer Ecke, eingeklemmt zwischen Handlung und Bedeutung, wie du vielleicht auch.

    Wir treffen uns nie. Provinzhass ist so einsam. Aber er rettet uns davor, in unserer schäumenden Spucke zu ertrinken. Vielleicht hat er die Jungs auch gerettet.

    Ich schreibe an meinem Film. Ich schreibe, um etwas herauszufinden, oder meinen Weg aus etwas heraus zu finden. Einen Weg aus der Sprache? Irgendwie macht man ja genau das, wenn man einen Film schreibt. Das Dokument bahnt sich einen Weg aus der Domäne der Schrift. Das Geschriebene existiert nicht mehr nur für sich allein, es ermöglicht ein neues Kunstwerk, den Film, und gibt sich ihm hin, so wie sich das Bonus-Material zu Darkthrone den Platten hingibt, die die Band einmal herausgegeben hat. Ich denke, so will ich schreiben: unbestimmt, unordentlich, unmöglich, primitiv. Das Drehbuch ist ein Fluch, der noch nicht ausgesprochen wurde. Ein Ritual, das noch nicht begonnen hat. Ein magisches Dokument. Vielleicht kann ich in diesem Dokument nach dem Primitiven suchen. Vielleicht kann ich in diesem Dokument etwas aus der Sprache ausgraben; etwas, das weder in der Schrift noch in Bildern existiert, sondern nur in einem Zwischenraum. In einem ganz neuen Raum. Weder dieser Raum noch das Schreiben selbst sollte eine Wiederholung gelernter Anweisungen sein. Auf diese Weise definieren wir Blasphemie. Ich habe nie gelernt, Gott zu hassen.

    Im Schreiben gehe ich aus den Szenen heraus und betrete sie wieder, ich sehe alles. Hier drinnen bin ich Gott. Ich kann nur mich selbst hassen.

    Ich sehe mir den letzten Clip der Bonus-DVD noch mal an. Wir sind wieder im Wald, immer im Wald. Der Hain ist dunkler geworden. Wird es Abend? Jetzt schneit es. Winterwald. Die Gitarren klingen fremdartig, als wären sie nicht mit Kabel und Mikrofon aufgenommen worden, und es hört sich an, als würden surrende Insekten über das Vierspurgerät krabbeln.

    Ich versuche, eine neue Szene in meinen Film einzuschreiben, eine Erinnerung an eine Party, auf der ich mal gewesen bin: Ein eigensinniger, hagerer 16-Jähriger aus Nedenes versucht auf Gedeih und Verderb, allen zu erklären, was Satanismus wirklich ist. Der Mensch denke ohnehin nur an sich selbst, sagt er, deshalb solle man versuchen, Held des eigenen Lebens zu werden. Oder sagt er vielleicht, dass Satan nur ein Symbol für unsere innere Lebenskraft ist? So oder so ähnlich habe er es jedenfalls in einem Buch gelesen, einem Buch, das der Bibel und Dem Wort viel zu ähnlich sieht, und vielleicht ebenso viele Großbuchstaben und ebenso wenige weibliche Stimmen enthält. Niemand versteht, wovon er redet. Aber als er sich wenig später in den Bauch schneidet und Blut herausläuft, verstehen wir alles. Schneiden verstehen wir. Wir spüren es in unserem eigenen Bauch, auf unserer eigenen Haut. Wir identifizieren uns mit dem Schneiden, und dem Blut nach dem Schnitt. Das Blut spricht eine Sprache, die wir verstehen, ohne gebrochenen südnorwegischen Dialekt.

    Ein ungefähr gleichaltriges Mädchen schafft es, ihm das Messer wegzunehmen und mit ihm zu sprechen. Ein anderes Mädchen sieht nur zu, sie wird später eine Blutspur im Neuschnee hinterlassen. Sie symbolisiert gewissermaßen mich, die einsame Blutende. 1997 hätte ich so nach Hause gehen können.

    Ich streiche diese Szene. Zu viele einsame Blutende, ein Wettbewerb der Angst und adoleszenten Einsamkeit. Es wird zu psychologisch. Ich hasse Psychologie. Psychologie hat Ähnlichkeit mit Religion, und die Gestalt des Psychologen hat zu viel Ähnlichkeit mit Gott, du sollst dich vor ihm öffnen, ihm mit Ehrlichkeit begegnen, dich vor ihm in Stücke reißen und selbst zerstören, so grundlegend, dass die kleinen Splitter, die du hinterlässt, nicht mal mehr Kunst genannt werden können. Sich zu öffnen bedeutet, das zu wiederholen, was man gelernt hat. Das zu wiederholen, was man gelernt hat, ist menschlich: Das einsame Mädchen kniet vor Gott.

    Ich bin es leid, einsam zu sein. Ich will dazugehören. Das übe ich schon seit 1991. Während Fenriz und Nocturno Culto mit ihrem Camcorder durch den Wald torkeln und dessen Strukturen zerstören, tue ich das Gleiche in meinen Notizbüchern und Schreibblöcken. Ich schreibe meine Essays und Aufgaben an jemanden. Nicht an den Lehrer, sondern an bekannte Autoren: Ibsen, Bjørnson, Shakespeare. Sie antworten häufig am Rand mit säuerlichen Kommentaren über die Jugend von heute, berichtigen Schreibfehler und stellen Sätze um, noch bevor ich die Aufgabe abgebe. Ich bekomme eine Verwarnung von meinem Lehrer, weil er meint, eR könne keine Aufgabe beweRten, die schon beweRtet wuRde. Aber ich hasse weiter, am Rand der A4-Seite, ich tue alles, um mir nicht vorstellen zu müssen, dass es Gott ist, dem ich schreibe, Gott in der Gestalt des Lehrers. Ich habe schon immer jemanden gebraucht, dem ich schreiben kann. Die Schreibhandlung soll ein Ort sein, an dem du jemanden triffst, die nicht Gott ist.

    Was ich an der Partyszene mag, ist das Bild des fließenden Blutes: das lebende und das sterbende Gewebe. Es fließt kontinuierlich, unaufhaltsam und formlos, und es macht mir Hoffnung, genau wie die Kamera, die zwischen den Bäumen hindurchfährt. Blut hat keine Nationalität, keine Religion und kein Geschlecht.

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