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Virtuoso
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eBook285 Seiten3 Stunden

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Über dieses E-Book

Sie haben Heimweh nach einem Ort, den es nicht mehr gibt. Oder den es nie gegeben hat? Die rebellischen Frauen in »Virtuoso« ziehen aus dieser Melancholie explosive Kraft.

Während der braunen Polyesterjahre im kommunistischen Prag lernen sie sich mitten im Winter kennen: Jana und Zorka mit den rabenschwarzen Haaren. Während das System erste Risse bekommt, versuchen sie die Erwachsenen in ihrer von Paranoia und Begehren getriebenen Welt zu ergründen – bis Zorka eines Tages plötzlich in die USA verschwindet. Die Vororte Wisconsins sind für eine Rebellin wie Zorka keine geringe Herausforderung. Auch hier findet sie Gefährtinnen, die nach Revolution riechen. Erst Jahrzehnte später treffen sich Zorka und Jana wieder: im Blue Angel Club in Paris.

Yelena Moskovich ist eine gewiefte Fährtenlegerin und entfaltet in ihrer Geschichte einen hypnotischen Sog. Die Autorin verwebt das Persönliche mit dem Politischen auf tragikomische Weise. Nicht nur die Figuren, auch die Welt um sie herum verändert sich von Grund auf. In einem hochemotionalen Register schreibt Moskovich von Liebe und Freundschaft zwischen würdevoll verrückten Frauen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum25. Aug. 2022
ISBN9783803143532
Virtuoso
Autor

Yelena Moskovich

Yelena Moskovich was born in the former USSR and emigrated to Wisconsin with her family as Jewish refugees in 1991. She studied theatre at Emerson College, Boston, and in France at the Lecoq School of Physical Theatre and Université Paris 8. Her plays and performances have been produced in the US, Canada, France, and Sweden. Her first novel The Natashas was published by Serpent's Tail in 2016. She has also written for New Statesman, Paris Review and 3:AM Magazine, and in French for Mixt(e) Magazine, won the 2017 Galley Beggar Press Short Story Prize in 2017 and was a curator for the 2018 Los Angeles Queer Biennial. She lives in Paris.

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    Buchvorschau

    Virtuoso - Yelena Moskovich

    Die englische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel Virtuoso bei Serpent´s Tail in London.

    E-Book-Ausgabe 2022

    © 2019 by Yelena Moskovich

    © 2022 für die deutsche Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach

    Emser Straße 40/41     10719 Berlin

    Covergestaltung Julie August unter Verwendung einer Fotografie © Marta Bevacqua / Trunk Archive. Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt

    Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

    ISBN: 978 3 8031 4353 2

    Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3350 2

    www.wagenbach.de

    Wenn ich träume, dann von dir

    Meine Liebe, mein Freund

    Wenn ich singe, dann für dich

    Meine Liebe, mein Freund

    Marie Laforêt   Mon amour, mon ami

    … und riesige Sterne,

    über dem fiebrigen Kopf, und Hände,

    die nach dem einen greifen,

    der seit ewigen Zeiten nicht existierte –

    und nicht existieren wird

    – der nicht existieren kann –

    und existieren muss.

    Marina Zwetajewa   Nächte ohne den Geliebten…

    Erster Teil

    Selbstgespräch

    Mit dem Gesicht nach unten auf dem Hotelbett, der Körper. Eine Hand hängt seitlich vom Bett, ruht auf den roséfarbenen Teppichborsten, die Finger sind gespreizt, die Nägel lackiert, die Nagelbetten wund, der Ehering in Weißgold wie ein zwinkernd erstarrtes Auge.

    Der Rest ist leere fleischliche Hülle. Im Laken erstickte Brüste, das Kissen am Kopfteil zerdrückt, die Schultern zur Grimasse verzerrt, die Kniekehlen ein Ringen nach Luft und die Haut bereits matt.

    Diese Frau ist allein.

    Die mit ihr Verheiratete hat eine Tüte mit Zitronen auf den Wohnzimmertisch der Hotelsuite gelegt. Sie nähert sich der geschlossenen Schlafzimmertür, legt die Hand an den Knauf, dreht ihn. Die Metallfeder knackt, und die Tür gleitet über die flachen Borsten des Teppichs.

    Als sie den leblosen Körper sieht – wie allein er ist –, stürzt sie zu ihm.

    Draußen das Heulen des Krankenwagens. Immer näher zum Hotel. Im Schlafzimmer, auf dem Nachttisch, hängt das Telefon an seinem eng gewundenen Kabel und tutet hysterisch. Die Frau sucht den Körper nach Atemzügen ab, entfernt Haare aus dem Mund. Zieht ihn vom Bett, ein dumpfer Schlag. Millionen roséfarbene Borsten. Ihre Hände klatschen auf das Brustbein.

    Das Telefon tutet und sie pumpt, gummibesohlte Schritte nähern sich. Der Hotelangestellte ist jung und schlank, er tritt einen Schritt vor, dann zurück, wieder vor und zurück, er will hinschauen und will es nicht. Schwerere Schritte hinter ihm, jetzt ist der Geschäftsführer des Hotels da, er sagt »Volte agora para baixo« zu dem Jungen, geh jetzt nach unten. Als sich der Junge zögerlich entfernt, eilen ein Mann und eine Frau in waldgrünen Sanitätskitteln an ihm vorbei. »Geh!«, wiederholt der Geschäftsführer. Der Junge geht, dreht sich aber immer wieder um. Jetzt schreit die Frau: »Por favor! Sie stirbt!«

    Auspacken des Defibrillators. Der Mann im grünen Kittel hat einen Aufnäher auf der Brusttasche, ein medizinisches Emblem mit einer dünnen roten Schlange. Die Frau in der gleichen Aufmachung schiebt die tobende Frau weg, zieht sie beiseite, dann noch einmal. »Ich spreche kein Portugiesisch! Wir machen hier Urlaub!« Die Frau im Kittel legt ihr eine Hand auf die Schulter und versucht Blickkontakt zu ihr aufzunehmen, aber die Frau schreit auf Französisch, als würde sie jemanden zusammenstauchen, und die andere im Kittel hält sie fest und nickt. Sie schnippt sich die blonden Haare aus den Augen, will wieder hinschauen zu dem Körper. Ihre Zunge hadert mit den Worten, sie denkt, Ich will sie nur berühren, als wäre nichts weiter nötig. Die Frau im Kittel zieht sie in den angrenzenden Raum. »Ich verstehe«, wiederholt sie nasal auf Englisch, »ich verstehe, Madame …«

    »Zurückbleiben«, sagt der Sanitäter auf Portugiesisch und jagt einen Stromstoß in den Körper, der Brustkorb wölbt sich, die Frau springt auf, die Frau im Kittel fängt sie auf, es entsteht so etwas wie eine Umarmung, der Körper fällt auf den Teppich. Die Tränen der Frau spalten sich wie Haare. »Zurückbleiben«, verkündet der Mann erneut, die Frau im Kittel drückt den Unterarm der Frau. Sie schnappt nach Luft, verstummt und schaut. Der Strom rast durch das Fleisch zum Herz und richtet den Körper auf, der Brustkorb biegt sich, die Rippen splittern unter der Haut, und einen Augenblick lang glaubt die Frau, dieses Mal setzt sie sich auf. Aber dann sackt der Körper wieder zusammen und knallt mit einem dumpfen Schlag auf die Millionen roséfarbener Borsten. Die Schulterblätter weiten sich, der Kopf wackelt, dann bleibt er still liegen. Der Mund ist reglos. Von ihren schlaffen, geöffneten Lippen rinnt zähflüssiger blauer Schaum.

    Später, die Sonne ist untergegangen, die Frau füllt Formulare aus, ihr Blick ist leer, das Handgelenk steif, die Nase läuft. Name der Toten, Alter und Sozialversichertennummer. Ihren eigenen Namen schreibt sie zögerlich, muss mehrfach wegschauen, bevor sie ihren Blick wieder aufs Papier richtet. Als ihr Stift den letzten Buchstaben setzt, nimmt sie das Blatt und starrt ihren vollständigen Namen an: Aimée de Saint-Pé.

    Erst da fällt ihr auf, dass sich noch etwas im Raum befindet. Eine Farbe, wo vorher keine war. Sie schaut sich um: Die Ärztin, eine Brünette in gestärktem Weiß, sitzt auf dem Stuhl; hinter ihr hellgraue Fensterscheiben, dazu helle gesprenkelte Bodenfliesen. Aber außerdem ist dort noch ein zusätzliches Gewicht, eine Bewegung, die sich selbst vollendet.

    Die Krankenschwester legt Aimée eine Hand auf die Schulter. »Alles in Ordnung, Madame? Brauchen Sie vielleicht ein Glas Wasser?« Aimée schaut zu ihr auf. Die feinen Furchen ihrer Lippen sind fettig, ihre Haut jetzt nach Sonnenuntergang dunkler, und ihre Augen – Aimées starrer Blick gleitet an der Schwester vorbei hinter deren Kopf, an die Bürowand. Da ist etwas.

    Die Schwester wartet: »Brauchen Sie …?«, setzt sie erneut an, gibt den Satz aber auf. Es ist hinter ihr, ja. Das Gewicht, die Bewegung, die Farbe. Die Ärztin blickt auf, dann wieder auf die Unterlagen. Die Schwester spricht Aimée erneut an. Es – es löst sich aus der Luft, tastet sich vor, bewegt sich langsam fast fleischlich auf sie zu.

    Ein metallisches Knacken und Aimées Stuhl wird von einer feuchten Hitze erfüllt. Die Ärztin tackert die Unterlagen zusammen, dann tropft Urin auf den Boden.

    Ein Stückchen mehr nach links, mon amour

    Es war anhaltend schwül, als der August verhauchte, der Ozean sich an die Küste warf und das Fieber herausprügelte. Autos mitsamt Insassen schoben sich zum Ferienende zurück nach Paris, feuchter Mief waberte über den Autodächern, vor den Oberkörpern der Fußgänger und den Erdgeschossfenstern.

    Ich kannte Ihre Freundin, die Malá Narcis, so begann Mr Doubeks E-Mail.

    Janas Achseln waren schon wieder feucht, obwohl sie auf der Bahnhofstoilette noch einmal Deo aufgetragen hatte. Nach ihrem Solo-Urlaub im Süden war sie gerade erst wieder in Paris zurück.

    Auf die Idee, nach Marseille zu fahren, war sie gekommen, als sie eine Broschüre für den Petroleum-Import/-Export übersetzte, in der ausgeführt wurde, dass die Stadt das französische Zentrum für die Ölraffinerie sei, da sie dank zahlreicher Kanäle über einen ausgezeichneten Zugang zu den französischen Wasserstraßen bis hinauf zur Rhone verfügte. Jana hatte sich die Zugpreise angesehen und für vertretbar gehalten.

    In Marseille nahm sie die Fähre zur Insel If und besuchte das Verlies aus Dumas’ Der Graf von Monte Christo; aß Schwertfisch mit Ratatouille und Safranreis; betrachtete die Opéra de Marseille von außen und sah, dass nichts auf dem Spielplan stand; beschnupperte die verschiedenen in der Region hergestellten Seifen; sie schaute die toten Fische auf der blauen Plane mit dem zerstoßenen Eis auf dem Markt am Quai des Belges ganz am Ende des Hafens an; dann ging sie zum Strand, setzte sich in den Schatten und malte sich aus, was für eine Kindheit und Jugend ein Außenseiter wie Antonin Artaud, der avantgardistische Theaterkünstler und gebürtige Marseillaner, hier wohl verbracht hatte. Sie stellte sich vor, wie er mit seinen weit auseinanderliegenden Augen und von philosophischer Wut erfüllt durch seine Heimatstadt streifte. Als sie seine Silhouette, einen dunklen Fleck, über den Sand huschen sah, begriff sie, dass nicht er es war, an den sie dachte, sondern ein Mädchen, das sie früher in Prag gekannt hatte und das alle Malá Narcis nannten, die kleine Narzisse.

    Am Abend schlenderte Jana ins Stadtzentrum zu den sogenannten Lesben-Bars, die sie entdeckt hatte, trank dort einen Gin-Tonic am Tresen und kehrte zum Hotel zurück. Fünf Nächte waren genug, sie brauchte keine sieben, also ging sie zum Bahnhof und tauschte ihre Fahrkarte um.

    Wieder in Paris, in ihrer Einzimmerwohnung in der Sackgasse, die vom Place Monge abging, im sechsten Stock über dem Laden, in dem es ausschließlich Werkzeugkästen in verschiedenen Zusammenstellungen gab, schloss sie ihr Handy an, klappte ihren Laptop auf und entdeckte die seltsame E-Mail von einem gewissen »Mr Roman Doubek«. Er erklärte, er habe bereits über ihre Agentur versucht, sie für seine bevorstehende Teilnahme an der medizinischen Handelsmesse in Paris anzufragen, wo er Linet vertreten würde, den bekannten tschechischen Produktionsbetrieb für Krankenhausbetten, man habe ihm aber mitgeteilt, sie stünde zu den angegebenen Terminen nicht zur Verfügung. Anscheinend hatte man während ihrer Abwesenheit eine andere tschechische Übersetzerin verpflichtet, dachte Jana, bestimmt die junge großäugige Alicia, die als unaufdringliche und dankbare Ausländerin mit sichtbaren Slip-Konturen angefangen hatte. In jüngster Zeit hatte sie sich, teilweise durch ihren neuen französischen Freund, mit dem es ja so ausgezeichnet lief, aber auch weil die Republik Tschechien ihr inzwischen sehr weit weg vorkam, zur selbstbewussten, katzenäugigen, tangatragenden jungen Frau gemausert, die früher zwar wahnsinnig naiv gewesen war, jetzt aber ja sooo froh, dass sich das geändert hatte.

    Jana las die E-Mail und dachte an Alicia, an ihre festen Brüste in ihren billigen, wild gemusterten Blusen, ihren Blick irgendwo zwischen erwartungsvoll, schüchtern und gemein. Daran, wie sie Jana gefragt hatte, ob sie mit jemandem zusammen sei, und das Gespräch mit Anekdoten über ihren Freund und seine witzigen französischen Kumpels angereichert hatte. Einmal hatte sie gar keine Ruhe gegeben und ihr unbedingt ihre Sorge anvertrauen müssen, Jana würde vereinsamen, gewiss täte es ihr gut, sich ein bisschen zu öffnen, denn eigentlich sei sie doch im Großen und Ganzen eine attraktive Frau, und wenn sie wolle, könne sie ja mal mit ihr und ihrem Freund und dessen witzigen französischen Kumpels ausgehen und dann, wer weiß. Jana faltete ihre Gefühle zu einer geraden Linie und zog sich die Lippen damit nach.

    Ich kannte Ihre Freundin, die Malá Narcis, lautete die erste Zeile.

    Am nächsten Tag erhielt Jana einen Anruf von einer Agenturdisponentin, die sich sehr freute, sie bereits vor der Zeit wieder in Paris anzutreffen. Sie brauchten dringend Ersatz für Alicia, die eigentlich schon vor Tagen von ihrem Urlaub in Biarritz hatte zurückkehren sollen. Sie war auf Felsen am Strand geklettert, um ein Sonnenuntergangsfoto im neuen Bikini zu schießen, und ihr französischer Freund hatte sie gebeten, »ein Stückchen mehr nach links, mon amour« zu rücken, seine Kumpels und deren Mädchen hatten Bier getrunken, und als das tschechische Mädchen die untergehende Sonne im Rücken spürte, Wellen auf sich zurollen sah und das Gefühl hatte, endlich ihren Platz auf der Welt gefunden zu haben, war der Felsen gekippt, sie war ausgerutscht und hatte sich das Fußgelenk gebrochen.

    Jana verabredete mit der Disponentin, dass sie Mr Doubek am nächsten Vormittag übernehmen würde.

    Jana zog eines ihrer Dienstkostüme an – einen knielangen Rock mit passendem Blazer in Mitternachtsblau, dazu ein schlichtes cremefarbenes Oberteil mit V-Ausschnitt und hohe, dunkelblaue Schuhe.

    Sie traf früh auf dem Pariser Expo-Gelände in Porte de Versailles ein. Die Messe fand im größten Pavillon des über sieben Hallen verfügenden Kongresszentrums statt, einem riesigen Gebäude mit gewölbten Oberlichtern über rasterförmig angeordneten Ständen. Sie spazierte durch die Gänge, machte sich mit den Gegebenheiten vertraut, passierte die Bs und die Cs, schaute auf ihren Plan, um nicht auf der Höhe von J14 die richtige Abzweigung zur International Meetings Lounge zu verpassen, wo Mr Doubek und seine französischen Kunden sie um zehn Uhr erwarteten.

    Viele Stände waren bereits mit Leuten besetzt, die in verschiedenen Sprachen plauderten, Tafeln aufstellten und medizinische Gerätschaften zusammenbauten. An D32 war ein Rollstuhl ausgestellt, das hellbraun-beige Polster zierte ein Yin-Yang-Symbol, die Rückenlehne war mit einem weichen, geriffelten Material bezogen. Auf einer Tafel hinter dem Rollstuhl waren die Vorzüge des Produkts aufgelistet: Polster zur Vermeidung von Druckgeschwüren, Aufrichtfunktion mit Fernsteuerung … Jana betrachtete die rechte Armlehne, aus der eine herausziehbare Fernbedienung mit einer blauen Gummi-Grifffläche herausschaute.

    Sie ging weiter, verlangsamte vor H40, studierte ein Plakat von einem prallen Herzen, das von blauen, in unterschiedliche Richtungen zeigenden Pfeilen geädert war. Zwei gedrungene Defibrillatoren wurden aus ihren Koffern gehoben und auf einem Klapptisch drapiert.

    »Excusez-moi« – die Stimme kam von hinten. Dann berührte eine Hand ihre Schulter. Jana drehte sich abrupt um, hätte die Frau beinahe mit dem Ellbogen gestoßen.

    »Oh, Verzeihung!«, sagte diese, wich einen Schritt zurück, und Jana nahm schnell die Hände vor den Bauch.

    Die Frau trug ebenfalls ein Kostüm, aber ihres sah ganz anders aus. Der Rock war ein bisschen kürzer und enger, die Farbe dunkler – Mitternacht irgendwo zwischen Blau und Schwarz. Der Blazer spannte an der Taille und aus dem Ausschnitt lugte die Andeutung einer elfenbeinfarbenen Bluse. Um den Hals trug sie einen schwarzen Seidenschal, aber ihr Schlüsselbein war unbedeckt. Jana schaute auf ihre Füße: hohe Schuhe, aber vorne spitz zulaufend.

    »Ich wollte Sie nicht erschrecken …«, sagte die Frau nervös.

    Ihre blonden Haare waren ordentlich in der Mitte gescheitelt und glatt zu einem zwischen ihren Schulterblättern wippenden Pferdeschwanz gebunden. Ihre Wangenknochen umrahmten ihr Gesicht, ließen ihre Augen schmal wirken, tiefliegend, nur jetzt weiteten sie sich vor Verlegenheit.

    »Kennen wir uns?«, fragte Jana ausdruckslos.

    »Oh … Oh!« Die Frau schlug eine Hand vor den Mund. »Tut mir leid, ich dachte, Sie arbeiten hier«, sagte sie durch die Finger.

    Der Blick der Frau glitt zu Janas Namensschild an ihrem Revers, sie sprach die rot gedruckten Buchstaben laut aus »Liné …?«

    »Linet«, korrigierte Jana ihre Aussprache. »Das ist ein tschechischer Hersteller. Weltweit die Nummer eins für Krankenhausbetten. Ich arbeite tatsächlich hier. Ich bin Übersetzerin.«

    »Ach …«, fuhr die Frau betreten fort, »dann können Sie mir vielleicht doch nicht helfen, ich suche den Stand von Dupont. Das heißt, den zwischen Dupont und einer Gruppe mit Sauerstoff-Generatoren. Ich bin schon zweimal durch die ganze Halle gelaufen, aber … ich kann ihn nicht finden.«

    »Sie sind hier in der internationalen Abteilung«, sagte Jana.

    »Bin ich das?«, erwiderte die Frau.

    Jana faltete ihren Plan auseinander. Rasch zog auch die Frau ihren hervor und zeigte ihn Jana.

    »So einen habe ich auch, aber ich schwöre, die Standnummer gibt es nicht!«

    Die beiden Frauen hielten ihre Pläne nebeneinander, als könnten sie den Geltungsbereich des anderen dadurch erweitern, und suchten das Raster der nummerierten Buchstaben ab.

    »Der Arzt, der bei Global Plastics auf dem Podium spricht«, erzählte die Frau anlasslos, während sie gemeinsam suchten, »das ist mein Vater. Er ist Prothesen-Spezialist.«

    »Arbeiten Sie für Ihren Vater?«, fragte Jana.

    »Ich war seine Assistentin, oder ehrlich gesagt, eher Empfangsdame, aber das ist Jahre her. Jetzt arbeite ich für einen seiner Freunde, einen Gynäkologen, seine Klinik befindet sich direkt neben der portugiesischen Botschaft, oberhalb des Parc Monceau, in der …«

    »N39.« Jana zeigte auf ein kleines Quadrat in der südöstlichen Ecke der Halle.

    »Komisch«, sagte die Frau, »ich bin immer wieder an N36 und N37 vorbeigegangen und habe es nicht gesehen …«

    Die beiden Frauen trennten die Pläne und steckten sie jeweils zusammengefaltet in die Taschen ihrer Blazer.

    »Könnten Sie mir wohl noch bei einer anderen Sache helfen?«, fragte die Frau schüchtern, griff in ihre Tasche und zog ein Namensschild mit einer auf der Rückseite angeklebten Sicherheitsnadel heraus. Sie hielt es Jana hin.

    Jana nahm das Schild, drehte es um, öffnete die Sicherheitsnadel und blickte auf.

    »Wo soll ich das hinstecken?«

    Die Frau zeigte mit einem Finger, der Nagel war in einem cremigen Rosé-Ton lackiert, auf ihren Blazer-Aufschlag.

    »Hier. Dankeschön.«

    Jana näherte sich dem Schlüsselbein der Frau, stach die Nadel in den groben dunklen Stoff, hakte sie fest und ließ los, vorsichtig darauf bedacht, nicht die Brust zu berühren.

    Dann trat sie einen Schritt zurück und betrachtete das Schild am Revers der Frau.

    »Aimée DE SAINT-PÉ«, stand darauf.

    »Merci«, sagte die Frau.

    Genau in diesem Moment fiel Jana ein, sich selbst vorzustellen, aber die Frau lächelte nur kurz, drehte sich um und ging Richtung N39 davon.

    Jana sah ihr nach, ihr Rock schlug leichte Falten über der Wölbung ihres Hinterns, und der Saum rutschte die Oberschenkel hinauf.

    Jana

    Die ersten neunzehn Jahre meines Lebens war ich ein einfaches tschechisches Mädchen, ein Aquarell.

    Die Zeit damals richtete sich nach der Uhr der Arbeiter und des ŠtB, der tschechoslowakischen Staatssicherheit. Arbeiter in schmutzigem Beige-Braun luden große rechteckige Jutesäcke auf Laster. Arbeiter gingen in zugeknöpften Hemden zur Arbeit. Trugen ihre Aktentaschen an steifen Armen. Der ŠtB ging in Zivilkleidung umher, schoss heimlich Fotos. Mann auf Treppe. Frau mit Kinderwagen. Mann und Frau Hand in Hand. Berühmte Kunstwerke unseres Zeitalters. Sie zapften Telefonleitungen an, öffneten Briefe über Wasserdampf, krochen durch die Schlagadern der Stadt und pickten einzelne heraus, zogen sie aus ihren Biografien. Menschen verschwanden, tauchten wieder auf, gestanden, berichteten über andere … es werden viele lebendige Kunstwerke im angesagtesten Medium der Fotografie geschaffen: Mann untergräbt Republik (Schwarzweiß), Frau beim Verteilen (Triptychon), Mann und Frau organisieren (Reprint).

    Die Ereignisse verheilten wie Wunden aus Wasser. Das Leben ging weiter. Atembläschen stiegen an die Oberfläche und platzten. Die Straßen füllten sich mit Geistesabwesenden, mit mental Schwerfälligen, die eine Sorge unter einer anderen begruben. Ameisenhügel und Krater. Aus einem geöffneten Fenster quoll der warme Dampf kochender Kartoffeln. Tauben pickten vom kargen Boden. Schlangen mit Menschen, die um Zuckerrationen, Kaffee, Salz und Brot anstanden … in schmalen Gassen zusammengedrängte Schatten, die rasch auseinandergingen. Da waren Küsse. Da waren Flugblätter. Ausländische Scheine wanderten von einer Tasche in eine andere. An der Ecke überquerte eine Frau die Straße. Auf dem Gehweg fiel ein Kind vom Fahrrad. Ein Code oder nur bedeutungslose Ereignisse? Die Katze am Fenster riss ihr Maul so weit auf, als wäre sie ein Tiger.

    Als der tschechische Student Jan Palach sich im Januar 1969, dreizehn Jahre vor meiner Geburt, auf dem Prager Wenzelsplatz anzündete, um gegen die sowjetische Zwangsherrschaft in der Tschechoslowakei zu protestieren, war ich nur ein Partikel, eine Frequenz, ein Regenbogen am Himmel, eine Melodie am Rande eines Bewusstseins.

    Und auch als einen Monat später, am 25. Februar 1969, ein weiterer tschechischer Student, Jan Zajíc, anlässlich des 21sten Jahrestags der kommunistischen Machtübernahme denselben Platz in der Prager Innenstadt aufsuchte, war ich noch ein immaterieller Refrain. Er war ein Niemand aus Šumperk, hatte dort die Technische Hochschule besucht, sich auf Schienenführung spezialisiert und nebenher Gedichte geschrieben. Ungefähr eine Stunde nach Mittag

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