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Alabama
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eBook142 Seiten2 Stunden

Alabama

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Über dieses E-Book

DeShawn genießt sein lustvolles und kreatives Leben als Künstler in San Francisco. Doch als er sich zur Beerdigung seines Onkels auf den Weg in seine Heimat Alabama macht, beginnt er eine Reise in die eigene Vergangenheit: In Rückblicken auf seine Kindheit und Jugend, sein sexuelles Erwachen und seine verflossenen Liebhaber entsteht das Bild eines Erwachsenwerdens, das zwischen energischen Frauen und verunsicherten Jungs, zwischen Südstaaten-Tunten und Westküsten-Punks, zwischen Gottesdienst und Partydrogen oszilliert.
Mit großer Eindringlichkeit, komisch und schonungslos direkt verwebt Brontez Purnell die sexuellen und künstlerischen Eskapaden seines Helden zu einer berührenden Coming-of-Age-Geschichte.
SpracheDeutsch
HerausgeberAlbino Verlag
Erscheinungsdatum1. Juli 2019
ISBN9783863002893
Alabama
Autor

Brontez Purnell

Brontez Purnell is the author of several books, most recently 100 Boyfriends, which won the 2022 Lambda Literary Award in Gay Fiction, was longlisted for the 2022 Mark Twain American Voice in Literature Award and the 2021 Brooklyn Public Library Literary Prize, and was named an Editors' Choice by the New York Times Book Review. The recipient of a 2018 Whiting Writers' Award for Fiction and the 2022 Foundation for Contemporary Arts Robert Rauschenberg Award, he was named one of the thirty-two Black Male Writers of Our Time by T: The New York Times Style Magazine in 2018. Purnell is also the frontman for the band the Younger Lovers and a renowned dancer, performance artist, and zine-maker. Born in Triana, Alabama, he's lived in Oakland, California, for two decades.

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    Buchvorschau

    Alabama - Brontez Purnell

    hatte.

    KAPITEL 1

    Bevor DeShawn nach Alabama aufgebrochen war – und vor dem Tod seines Onkels –, waren andere gegangen. Arnold zum Beispiel war tot. So tot, tot, tot wie Latein. Er war mit der Titanic untergegangen. Hatte sich aus dem Staub gemacht. This monkey’s gone to heaven. Es schien, dass all die wilden Männer um ihn herum zu schnell starben, als dass er noch den Überblick behalten konnte. Arnold war nicht der erste gewesen, aber er war wichtig.

    DeShawn hatte die Nachricht von Arnolds Tod morgens im Zug erhalten, auf dem Weg zu seinen Vorlesungen in Oakland. Daraufhin nahm er den nächsten Zug zurück nach Nirgendwo. Es gab keinen Ort, um den toten Jungen zu betrauern. Arnold hatte nirgends allzu lang gelebt, und er hatte so viel Scheiße gebaut, dass ihn keiner mehr so richtig liebte. Vielleicht warteten sie auch nur darauf, ihn wieder zu lieben, wenn er aus der Grube gestiegen war, die er sich selbst gegraben hatte. Als ob er plötzlich aus dem Nichts auftauchen würde, der Assistent eines Zauberers, ein Diadem auf dem Kopf und eine Schärpe um die Brust, auf der ‹Geheilt› stand oder so. Aber der tote Junge war gestorben, bevor er diesen Zaubertrick vollbringen konnte. Die Erinnerung an ihn war von der Sorte: den kannste vergessen. Er weinte drei Tage, dann kam ein Anruf. Arnolds letzter Mitbewohner bat ihn sehr freundlich, das Zimmer des toten Jungen zu entrümpeln. DeShawn sagte ja.

    Das würde der letzte Gefallen sein, den er Arnold tat. Er hatte Arnold geliebt. Niemand hatte gewusst, dass sie es miteinander trieben. Von außen hatte es vermutlich wie eine lockere Freundschaft gewirkt. Abgefuckter Junge liebt noch abgefuckteren Jungen. Es war ein regnerischer Tag, und DeShawn kam mit Putzmitteln, um das Zimmer des toten Jungen zu putzen.

    Er fand alte Klamotten, frische Nadeln, Crackpfeifen, Gedichtbände von Lorca und Bücher von Bukowski. Der tote Junge hatte sanfte Gesichtszüge und war sehr, sehr schön. Ein letztes Mal hatte er versucht, clean zu werden, er hatte es nicht geschafft und sich vor ein Auto geworfen.

    DeShawns Gedanken wanderten in seine weitentfernte Jugend, zu einer toughen Lady mit hochtoupierter Dauerwelle, die ihre Meinung zum Selbstmord kundtat. Sie sog an der Zigarette und sagte: «Wenn du mutig genug bist, von einem Haus zu springen oder dir in den Kopf zu schießen, dann bist du MUTIG. GENUG. ZU. LEBEN.»

    Er hatte das für die Wahrheit gehalten, weil es aus dem Mund einer Erwachsenen kam. Und er hatte daran geglaubt, bis zu dem Zeitpunkt, als jemand, den er kannte, sich vor ein Auto warf. Bevor er sich vor dieses Auto geworfen hatte, war Arnold kein mutiger Mensch gewesen. Er war erschöpft gewesen, und er hatte eine Entscheidung getroffen. DeShawn beugte sich über ein ungeöffnetes Puzzle. Er fragte sich, was Arnold gefühlt haben mochte, als das Auto ihn erfasste. Hatte er es bereut? DeShawn glaubte an Energien, und er glaubte an ein Jenseits. Er zündete Kerzen an, brachte den acht Ecken des Zimmers seine Ehrerbietung entgegen und betete – besser gesagt: hoffte –, dass der schöne, dahingeschiedene Junge in den guten Mächten ruhte. Er bat jedweden Gott, der ihm gerade zuhörte, ihm diesen Wunsch zu erfüllen, und errichtete Arnolds Altar – eine weiße Kerze und ein Glas Wasser – am höchsten Punkt seines Zimmers.

    Natürlich gab es in der Stadt Leute, die gerne redeten. Sie nannten den schönen toten Jungen einen Junkie und außerdem einen Dieb. Beides traf zu. «Er war ein geliebtes Kind Gottes», sagte Arnolds Mutter. Vielleicht traf auch das zu.

    Neben den Leuten, die sich das Maul zerrissen, gab es noch die kriminell gesinnten, weitgehend harmlosen Jungs aus Arnolds und DeShawns engerem Freundeskreis. Es ist eine wunderbare Sache, sich mit Leuten zu umgeben, die zu viel zwielichtigen Mist abgezogen haben, um über andere zu urteilen. Die Art von Leuten, die man über den Tisch ziehen kann, solange klar ist, dass es nicht persönlich gemeint war. Wo immer Arnold auftauchte, verschwanden Dinge – Bargeld, Schallplatten, Briefmarkensammlungen. Natürlich gab es da böses Blut. Aber dann wiederum erkannte jeder, dass Arnold ein Bruder war, der schweres Leid trug. Das machte seine Vergehen nicht vergessen, aber sie konnten ihm vergeben werden. Irgendwo hatte Arnold Flügel.

    Aber noch immer galt es, das Zimmer auszuräumen. DeShawn wusste, dass er das nicht mit einem Mal schaffen würde. Es würde Tage dauern, und das war in Ordnung. Er würde nie mehr im Handy das Lachen des toten Jungen hören. Arnold würde nicht mehr physisch präsent sein, am Fenster auf der Gitarre klimpern oder eine Zigarette rauchen, und auch nie mehr einfach nur nackt dastehen, mit der allerschönsten Erektion, die man sich nur vorstellen konnte. Arnolds rüder Abgang hatte ein schwarzes Loch hinterlassen, eine Abnutzung auf der Filmrolle. Diese Lücke erinnerte an die Macht der Zeit. Ein Chaos zu beseitigen braucht Zeit. DeShawn wusste, dass er die Rüstung innerer Distanz anlegen musste, wenn er das Zimmer des toten Jungen aufräumen wollte, richtig aufräumen. Distanz war eine wunderbare Sache. Nur mit Distanz konnte man es schaffen, andere nicht zu verurteilen. Er wollte nicht sagen, dass Arnold ein selbstsüchtiges Stück Scheiße war, weil er sich umgebracht hatte. Er wollte in dieser Angelegenheit Größe zeigen. Neutral und unvoreingenommen bleiben, das war seine Strategie, um weitermachen zu können, ein Mittel, um die dunkleren Gedanken in Zaum zu halten. Aber Menschen sind voreingenommen, sie fällen Urteile. Und zwar besonders gern.

    DeShawn hatte zirka hundert tragische Hurensöhne geliebt, und Arnold stellte keine Ausnahme dar. Diese Art Mann zu lieben, hieß, auf Meinungen, Urteile oder Erwartungen zu verzichten. Es hieß, dass man Erfahrung brauchte, die Dinge zu akzeptieren, wie sie waren. DeShawn verinnerlichte das Wesen all dieser Jungs, ihre Ängste, Hoffnungen und Fehler. Er studierte sie so eingehend, dass er sie nicht mehr sah; er sah nur noch sich selbst. Das war entweder eine wunderbare Erfahrung oder derselbe Fehler, den alle Empathen machten. Einen der tragischen Jungs zu verurteilen, die er liebte, würde heißen, sich selbst zu verurteilen. Er fand das jetzt schon kraftraubend, denn er wollte die Gefühle des toten Jungen spüren, das Adrenalin, das durch seine Adern pumpte. Was hatte Arnold wirklich gefühlt, als er sich vor dieses Auto stellte? In der Sekunde, als er den Schritt machte, hatte er es da bereut? Oder war er erleichtert gewesen?

    Leute neigen dazu, sich von ihren Erfahrungen leiten zu lassen. DeShawn selbst hatte nie über Selbstmord nachgedacht, aber er konnte die Genervtheit verstehen, dieses Gefühl, dass das Leben ewig und enorm ist, dass aber keiner weiß, was das alles soll. An diesen wirklich schwierigen Tagen fühlte DeShawn sich wie ein einzelnes Spermium, das im Arschloch irgendeines schwulen Typen herumschwamm und verzweifelt nach einem Ei suchte, das schlicht nicht da war. Aber Selbstmord? Niemals. Mord? Ja. Verdammte Scheiße, ja, dachte er. Die Vorstellung, irgendeine unverschämte Kackbratze kaltzumachen, die es nicht anders verdient hatte, war so orgastisch, dass er einen Ständer bekam. Aber das war natürlich nur ein Gedanke. Jemanden umzubringen kam ihm wie eine furchtbar komplizierte mathematische Gleichung vor. Es gab Zeitvariablen, X und Y, und wo würde man sich heutzutage einer Leiche entledigen? Ein Mörder musste autark sein und seine Spuren beseitigen. Ein Selbstmörder hinterließ eine Sauerei, um die sich irgendein anderer zu kümmern hatte. Er fragte sich, ob der Rettungssanitäter, der Arnolds Leiche von der Straße geputzt hatte, irgendetwas dabei gefühlt hatte oder ob ein Job für ihn einfach nur ein Job war. Es ist ganz bestimmt nie erfreulich, wenn man von montags bis freitags zerschmetterte Körper vor sich liegen hat, aber nach dem hundertsten Mal musste sich da doch etwas ändern. Für gewöhnlich schafft es jedes Trauma, sich abzukühlen, wenn nur genug Zeit vergeht.

    • • •

    Unter einem Haufen leerer Farbtuben fand DeShawn Arnolds Nirvana-Shirt. Es stank barbarisch und weckte mehr Erinnerungen, als ihm lieb war. Abgesehen davon, dass das Arnolds Lieblingsband und eins seiner Lieblingsshirts gewesen waren, war dieses Stück Stoff auch noch mit historischem Ballast beladen. DeShawn erinnerte sich an den 4. April 1994. Er war in der sechsten Klasse. Der Frühling hatte noch nicht richtig begonnen. Er erinnerte sich an diesen kühlen, windigen Tag, daran, wie sehr er den Schulbus hasste, der ihn zu Hause absetzte. Er erinnerte sich, wie er MTV eingeschaltet und seinen verfickten Verstand verloren hatte. Kurt Loder sprach in die Kamera; Kurt Cobain hatte sich umgebracht. Sich direkt in den Kopf geschossen.

    In der siebten Klasse schmiss DeShawn Sonntagsschule und Bibelstunde und begann mit der ersten Gruppe von Headbanger-Girls von seiner Schule abzuhängen: Margret Lopez, Amelia Andrews, R’ella Bollers und ein Mädchen, an dessen Namen er sich nicht erinnern konnte. Genau ein Jahr nach Kurts Tod hielt die Clique eine satanische Séance unter der Treppe zur Schauspielklasse – ein gründlich gescheiterter Versuch, den Geist von Kurt Cobain zu beschwören. DeShawn machte es nichts, dass die Séance nicht erfolgreich war, er war einfach nur froh, dass die Mädchen ihn dazu eingeladen hatten – quasi die offizielle Beglaubigung, dass er cool war. Sie trugen alle Schwarz, rauchten Gras, waren irgendwie schon sexuell aktiv (Margret hatte sich Gerüchten zufolge im vergangenen Sommer fingern lassen), und sie praktizierten Satanismus. Wie scheiße cool war das denn?

    Es war eine ziemlich lausige Séance. Der Hexenzirkel hockte unter der Treppe so gut es ging im Kreis. Margret zündete eine schwarze Kerze an und legte ein Foto von Kurt auf den Boden. Alle (außer DeShawn) trugen schwarzen Lippenstift. Sie hielten sich an den Händen und glaubten gemeinsam.

    Nach zwei Minuten wurde DeShawn klar, dass er nicht die geringste Ahnung hatte, auf was für ein ‹Zeichen› sie warteten, um zu wissen, dass Cobain ihre Nachricht im Reich der Geister tatsächlich erreicht hatte. Er wusste nur, dass nach einer weiteren Minute des Glaubens die Schulglocke läutete. Sie würden zu spät zum Unterricht kommen und

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