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Der Gotteswagen
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eBook297 Seiten4 Stunden

Der Gotteswagen

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Über dieses E-Book

Beate Lehndorf ermittelt in ihrem zweiten Fall: Im winterlichen Berlin werden zwei Mädchen tot aufgefunden, weggeworfen wie Abfall. Nach der Flucht einer jungen Frau aus dem Privatgefängnis einer evangelikalen Sekte konzentrieren sich die Ermittlungen auf "Das wahre Leben". Die Geschichte der Sekte reicht zurück in die DDR und der "Hirte" war in die Machenschaften der Stasi verstrickt. Sein ehemaliger Führungsoffizier ist inzwischen seine rechte Hand. Beate Lehndorf kümmert sich auch privat um die geflohene Circea und versucht noch weitere Gefangene zu finden. Doch der Arm der Sekte reicht bis in Polizeikreise, sodass ein verdeckter Ermittler des LKA in Gefahr gerät.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum25. Juni 2015
ISBN9783737554558
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    Buchvorschau

    Der Gotteswagen - Harro Pischon

    Prolog

    Da oben, wo sich Wand und Decke trafen, hatte sein Weg angefangen. Im fahlen Licht hatte er geglitzert, nur so war er zu sehen. Dann quälte er sich unsicher die Wand hinunter, abgelenkt von einem Sandkorn, einem Farbklecks, nach rechts zitternd, nach links, endlich wieder nach unten, wo er hinwollte. Er hinterließ eine feuchte Spur auf der einst weiß gestrichenen Wand, die jetzt grau war, schmutzig grau, spärlich beleuchtet durch einen Spalt in den Fensterläden aus Metall. Dann stockte er angesichts dieser Wulst, die die ganze Wand entlangführte. Hier begann die graue Ölfarbe, die bis zum Boden reichte. Er verharrte, sammelte Kraft, ja, du schaffst es, hab Geduld! Und dann wälzte er sich über die Wulst und nahm Tempo auf. Die Ölfarbe setzte nicht so viel Widerstand entgegen, er wurde schneller, bis - der Wassertropfen im Boden versickerte.

    Tränen der Erleichterung flossen über ihre Wangen. Noch hatte sie Tränen, woher immer die Flüssigkeit kam. Sie hätte hinstürzen sollen zur Wand und den Wassertropfen auflecken wie schon so viele, die ihren Weg davor gegangen waren. Doch sie war schon zu schwach, saß auf ihrer Pritsche an die Wand gelehnt und sah den Tropfen gegenüber zu. Manchmal wollte ihre Zunge die schrundigen Lippen befeuchten, doch sie war nur ein trockenes Stück Fleisch in ihrem Mund.

    Ihre Arme, ihre Hände waren selbstständig, sie vollführten einen seltsamen Tanz in der Luft, als beteten sie, ob nicht doch ein Wunder geschehen könne. Aber für sie gab es kein Wunder. Die gab es nur für die Guten, die Braven, die Erleuchteten. Ihr, Amira, war die Strafe vorbehalten. Die Beine trugen sie schon nicht mehr, die Stimme war versiegt, die Augen glanzlos, die Haare strähnten durcheinander. Und es war still, vollkommen still. Sie wusste, sie war nicht allein, es gab noch andere in anderen Zellen. Aber sie hörte nichts außer ihrem eigenen leisen Stöhnen und ab und zu fallenden Wassertropfen.

    Wo war Circea? Hatte sie es geschafft oder verdurstete sie nebenan, wurde vielleicht geschlagen, geschlagen, tot geschlagen? Circea, meine Schwester, meine Freundin, wo bist du? Ich werde dich nicht mehr sehen, ich werde …

    Kapitel 1

    Beate Lehndorf sah aus dem Fenster und fror. Die Heizung in ihrem neuen Büro funktionierte klaglos. Aber der Blick ging nicht mehr auf den Fehrbelliner Platz, auf den roten U-Bahnhof und das Parkcafé gegenüber. In ihrem alten Büro saß jetzt Wolfgang Menzel, ihr Kollege, inzwischen befördert und ihr gleichgestellt.

    Vor zwei Tagen hatte sie ihren Dienst wieder aufgenommen, zwar im alten Team, der Mordkommission 115, aber nicht mehr als alleinige Leiterin.

    „Sie müssen verstehen, Frau Lehndorf, hatte Kampnagel gesagt, ihr Vorgesetzter im LKA 1, „aber mir blieb nichts anderes übrig, als den Kollegen Menzel zum Hauptkommissar zu ernennen und ihm die Leitung der Mordkommission zu übergeben. Sie müssen sich jetzt die Kompetenzen teilen und miteinander klarkommen. Aber Sie waren ja ein bewährtes Team, nicht wahr? Dass Wolfgang Menzel gleich ihr Büro übernommen hatte, wollte Kampnagel nicht kommentieren.

    Sie stand noch am Fenster und sah den Schneeflocken zu. Es hatte lange gedauert, bis der Winter in Berlin eingezogen war. Aber nun, im Januar, lag eine Schneedecke auf den Straßen und Gärten und dämpfte die Geräusche. Berlin war stiller geworden.

    Kampnagel hatte trotz der langen Zeit, die Beate krank geschrieben war, trotz des Aufenthalts in der Reha-Klinik Zweifel geäußert, ob sie wieder voll einsatzfähig sei. Ihre ärztlichen Atteste bescheinigten dies zwar, aber er hatte darauf bestanden, dass sie noch Termine bei einer Polizeipsychologin machte. Sie goss noch einen kräftigen Schluck Grappa in ihre Kaffeetasse. Das würde sie in den Griff kriegen müssen, vor der Psychologin und vor ihrem Team. Als sie nach der Reha wieder zu Hause war, alleine in der Wohnung, alleine in ihrem Leben, hatte sie angefangen sich mit Grappa zu trösten. Sie wollte aber nicht leere Flaschen verstecken und morgens Pfefferminzdrops lutschen. Sie wollte die alte Beate wieder entdecken.

    Bei ihrem letzten Fall wollte ein mehrfacher Mörder sich mit ihr in einem Haus verbrennen. Die schweren Verletzungen hatten sie ein halbes Jahr gekostet. Nun waren wenigstens im Gesicht keine Spuren mehr zu erkennen, an den Beinen aber waren Narben von den Transplantationen geblieben.

    Nicht alle Mitglieder ihres Teams waren erfreut über ihre Rückkehr. Menzel und die Sekretärin Isolde, genannt Leni, waren mehr als je ein Herz und eine Seele, weil endlich ein Mann an der Spitze stand. Aber Stefan Wondraschek, der junge Kommissar, hatte gestrahlt und sie herzlich begrüßt. Außerdem gab es noch eine Kommissaranwärterin, die der Gruppe zugeteilt worden war. Kira Worms war 28 Jahre alt, groß, schlank und mit langen, blonden Haaren gesegnet, die sie im Dienst meist zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Menzel war von ihr hingerissen und musste sich zusammennehmen, damit er das Einvernehmen mit Leni nicht störte. Die war zwar schon fast sechzig Jahre alt, gleichwohl eifersüchtig. Beate sah mit Genugtuung, dass Kira so viel Selbstbewusstsein hatte, den Avancen eines Mannes im Team nicht zum Opfer zu fallen.

    Beate setzte sich an ihren Schreibtisch und griff nach den Akten. Aber es fiel ihr noch schwer, sich zu konzentrieren. Scheck, so wurde Stefan genannt, hatte ihr zugeredet, sich langsam wieder einzufinden. Bei den Lagebesprechungen würde sie die Fälle am besten kennenlernen. Sie dachte zurück an Weihnachten, das sie in Dresden bei ihren Eltern verbracht hatte. Die hatten nach ihrer Verletzung ihren Sohn Benjamin aufgenommen, der bis zum Sommer in Dresden auch zur Schule ging.

    Wie immer in Dresden waren sie am Weihnachtstag nachmittags in der Christvesper gewesen, um danach ein bescheidenes Abendbrot zu essen, Würstchen mit Kartoffelsalat. Anschließend wurden noch ausgiebig Weihnachtslieder gesungen, im drei- oder vierstimmigen Satz. Seit Jahren feierte ein Freundespaar der Eltern mit, das kinderlos geblieben war, sodass genügend Stimmen da waren. Benjamin konnte gerade noch die Tenorstimme singen, die fast immer fehlte. Beates Altstimme war sehr willkommen. Sie tauchte in die alten Rituale ein wie bei einer Rückkehr in die Kindheit. Es tat ihr wohl. Benjamin freute sich, sie zu sehen, war aber scheu wie auch ihre Eltern angesichts der Verletzungen. Unausgesprochen hing die Frage in der Luft, ob sie diesen gefährlichen Beruf weiter ausüben wolle.

    Ja, sie hätte sterben können, wäre verbrannt, wenn nicht René sie gerettet hätte, der Psychiater, den sie als Kleistkenner bei ihrem letzten Fall kennen gelernt hatte. Sie hatte sich in ihn verliebt.

    René Beauchamps. Sie seufzte und schlang ihre Arme um die Brust. Anfangs hatte er sie noch besucht, in der Klinik und dann in der Reha-Klinik in Wismar, er war freundlich gewesen wie immer, aber auch distanziert nach ihrem Geständnis, dass sie ihn liebe. Dann erhielt er im September ein Angebot, als Gastprofessor in die USA zu reisen, für drei Monate. Anfangs hatte er noch aus Baltimore geschrieben, dann versiegten die Briefe. Er war wohl noch auf einer Rundreise durch die Staaten. Sie wusste nicht, wie es ihm ging, wie es mit ihnen ging. Sie fühlte sich alleine wie früher, noch schlimmer, seitdem Benjamin in Dresden war. Sie trank. Es klopfte. Scheck steckte den Kopf in den Türspalt. „Beate, kommst du mit? Es gibt eine Leiche."

    Kapitel 2

    Manni Schulz fuhr die Rummelsburger Landstraße nach Westen. Sein Beifahrer war Ralph Demuth. Sie sollten einen Schuttcontainer am Ende der Rummelsburger laden und zurück nach Altlandsberg bringen. „Wat hat Chef jesacht, wo det jenau is?, fragte Manni. „Mensch, du hast aber ooch mehr Sieb als Jedächtnis, maulte Ralph.

    „Ick fahre, mein Bester, ick muss ma konsentriern, vastehste? Da kannste mir den kleenen Gefallen mal tun, wa?"

    „Also jut, jenau uff der Höhe von de Shelltanke jeht et rechts rin. Außerdem, meine Herren, Ralph machte den Chef nach, „sehen Sie hinter der Tankstelle das ausgedehnte Gelände des Funkhauses Nalepastraße, Sitz des früheren Rundfunks der DDR. Und wenn Sie weiter über die Spree blicken – blicken, det musste dir mal vorstellen – sehen Sie bestimmt das Riesenrad des alten Spreeparks im Plänterwald.

    „Als ob wir det nich kennen, hält der uns für nen Wessi-Grünschnabel, wie er einer is?, knurrte Manni. „Ick war noch mit meen Vadder im Spreepark, als allet noch funktionierte.

    Ralph rief laut: „Achtung, wir sind gleich da! Da vorne is die Tanke!"

    Manni fuhr langsamer und bog in einen unbefestigten Weg ein, der parallel zur Straße lief, bis er wieder in die Rummelsburger mündete. Da stand auch der große gelbe Schuttcontainer, mit einer grünen Plane bedeckt. Manni rangierte vor den Container und fuhr die beiden Ausleger mit den Ketten aus.

    „Nu mal hopp, Ralfi!, scheuchte er seinen Beifahrer, „flott die Ketten festjemacht! Und prüf nochmal, ob die Plane auch dicht ist! Du weißt, wie’s neulich war, als wir alles hinter uns eingestaubt haben. Bloß’n Glück, dass keene Klamotten runterjekommen sind.

    Ralph sprang aus dem LKW und wollte auf seiner, der Straße abgewandten Seite, anfangen. Er war gerade dabei, die Ketten einzuhaken, als er merkte, dass die Plane an einer Stelle geöffnet war. Außerdem...

    „Manni! Manni!"

    „Wat is denn, Ralfi?"

    „Da is was!"

    „Na, wat is denn da?"

    „Da hängt’n Been raus!"

    „Mann, Ralfi, wat du dir immer zusammenspinnst! Manni kletterte vom Bock und ging auf die andere Seite zu Ralph. Der zeigte schreckensbleich auf eine Öffnung zwischen Plane und Container, aus der ein Unterschenkel ragte, die Kante im Kniegelenk. Manni wiegte seinen Kopf. „Det woll’n wir doch mal sehen. Bevor er an der Seite hochkletterte, sagte er noch zu Ralph: „Haste neulich den Krimi jesehen? Da dachte ooch eener, er hätte ne Leiche jefunden in nem Container. Und denn war’s ne Prothese. Und de Polizei war schon mit'm janzen Fuhrpark anjerückt."

    „Det is ne Leiche, sag ich dir, zitterte Ralph, „ick gloob sojar det is 'n Mädchen. Guck dir doch mal den Fuß an.

    Manni stand inzwischen auf dem Blech, in das die Ketten eingehängt wurden. Er hob die Plane hoch und lugte darunter. Dann sprang er herunter, ebenso bleich wie Ralph und sagte: „Recht haste, det is n' totes Mädchen."

    „Wat mach'n wir'n jetze?"

    „Nu dreh mal nich durch, Ralfi, setz dir mal in'n Wagen rin und trink was. Ick ruf mal die Bullen an und sach dem Chef Bescheid. Der wird sich freuen, det weeß ick schon."

    Manni zog sein Handy aus der Gürteltasche und tippte 110.

    „Ja, hallo, die Polizei? Ja, wir haben hier ne Tote jefunden, also ne Leiche jewissermaßen. Wo hier is? Na, inne Rummelsburger Landstraße, jenau gegenüber vonne Shelltanke und von det Funkhaus. Mit wem...? Also, ick bin Manni, also Manfred Schulz und mein Beifahrer, das ist der Ralph … Demuth, mit h hinten, aber det is jetzt nich so wichtig. Wo wir...? Innem Container, den wollten wir abholen. Ja, klar, wir bleiben vor Ort und warten, bis Sie kommen. Und nüscht anfassen, un'nich rumtrampeln, allet klar."

    Dann sah Manni nach Ralph, der mit blasser, spitzer Nase im Führerhaus saß. „Die werden wohl bald kommen. Weeßte wat, du passt hier schön auf, rührst dir nich vom Fleck und ick hol uns mal 'n Kaffee von gegenüber. Chef ruf ich später an."

    Er wartete, bis er die Rummelsburger Landstraße überqueren konnte. Seine Hände zitterten.

    Kapitel 3

    Schneller als erwartet, kamen Scheck und Beate vorwärts. Auf der Stadtautobahn und durch den Britzer Tunnel in Richtung Schönefeld ging es problemlos. An der Johannisthaler Chaussee mussten sie die Autobahn verlassen. Als sie in der Rummelsburger Landstraße 6 ankamen, waren alle schon da: die Kriminaltechnik, der Forensiker Dr. Traber und Wolfgang Menzel, der natürlich die junge Kommissaranwärterin mitgenommen hatte. Über den Köpfen zerflogen die Dampfwolken der kondensierten Atemluft. Traber stand auf einer Leiter der KT und untersuchte das Mordopfer, das oben auf dem Schuttcontainer lag. „Was können Sie sagen, Dr. Traber?, drängelte Menzel. Traber blickte unwillig auf ob der Störung, da sah er Beate, die mit Scheck vor dem Container stand. Seine Falten zogen sich nach oben, dass man es für die Andeutung eines Lächelns halten konnte und er sagte: „Frau Haupt­kommissarin Lehndorf, willkommen in der wirklichen Welt. Das war schon eine der größten Freundlichkeiten, deren er fähig war. Gleich darauf nahmen die Falten wieder die gewohnte mürrische Lage ein und er knurrte zu Menzel: „Fassen Sie sich in Geduld, Herr Hauptkommissar. Ihren Zauberer müssen Sie selbst mitbringen. Er beschäftigte sich wieder mit der Toten, schüttelte immer wieder den Kopf, bis er Anweisung gab, die Leiche aus dem Container zu holen. Vorher hatte der Polizeifotograf schon den Tatort aus allen Perspektiven fotografiert. Als die Tote vor ihnen lag, dozierte Traber: „Das Opfer ist etwa 18-20 Jahre alt. Es sind keine äußeren Verletzungen erkennbar, die zum Exitus geführt haben können. Aber wie Sie an dem Stand der Abmagerung erkennen können, kann hier ein Marasmus vorliegen und gleichzeitig eine Exsikkose. „Auf Deutsch, bitte, Herr Dr. Traber!, monierte Menzel. Der seufzte und sagte: „Schwere Unterernährung und Austrocknung. Der Tod kann letztlich durch Infektionen eingetreten sein, verursacht durch den Proteinmangel, aber eben auch durch Dehydrierung. Genaueres später.

    Kira Worms flüsterte: „Weggeworfen wie Abfall hat man das arme Ding. Beate registrierte mit hochgezogenen Augenbrauen, dass Menzel tröstend den Arm um sie legte und sagte: „Deshalb fangen wir gleich an zu arbeiten, um die Sache aufzuklären. Wir fahren ins Präsidium und du kannst mit Leni recherchieren, ob das Mädel vermisst gemeldet ist. Scheck und Beate, ihr fragt am besten in der Umgebung nach. Hier sind zwei Firmen und rechts einige Einfamilienhäuser. Außerdem ist die Tankstelle gegenüber von Belang. Die beiden Fahrer, die die Leiche gefunden haben, habe ich schon befragt. Menzel genoss die leitende Rolle sichtlich, zu einer gleichberechtigten Zusammenarbeit konnte er sich nicht herablassen. Beate fühlte den Konflikt anwachsen, bis es zu einem Ausbruch kommen musste.

    Die Lagebesprechung am Fehrbelliner Platz ein paar Stunden später war niederschmetternd: Die Identität der Toten blieb unklar. Niemand vermisste sie und selbst die gründliche Untersuchung des Containers hatte keine Papiere zum Vorschein gebracht. Keiner hatte etwas beobachtet oder gesehen – weder in den benachbarten Firmen noch in den Wohnhäusern. Der Nachtdienst in der Tankstelle meinte zwar, in der Nacht sei ihm ein weißer Lieferwagen aufgefallen, der in der Nähe des Containers gehalten habe, vielleicht eine Viertelstunde, aber gesehen habe er nichts weiter. Auf die Frage nach der Automarke meinte er: „Na, wat die meisten so fahren, so'n Sprinter, wa? Vielleicht ooch 'n Transporter, also 'n Bulli. Aber det is ja weit wech, wissen Se? Ob da wat uffjeklebt war? Hab ich nüscht gesehen, nee."

    Allenfalls ein Allerweltslieferwagen, von dem wohl tausende in Berlin zugelassen waren und kein Hinweis auf die Identität der Toten, wo sollte man da ansetzen? „Ich hasse es, mit leeren Händen dazustehen!, schimpfte Menzel. „Was soll ich denn Sargnagel sagen? Das war der Spitzname von Kriminaldirektor Kampnagel, ihrem Vorgesetzten. Tja, dachte Beate, Eitelkeit ist keine gute Voraussetzung für erfolgreiche Ermittlungen, mein lieber Wolfgang. Laut sagte sie: „Ich denke, wir müssen mit einem Bild an die Öffentlichkeit gehen. Vielleicht kennt oder vermisst sie ja doch jemand, auch ohne Anzeige. Und Scheck meinte: „Das Mädchen war ja offensichtlich eingesperrt oder wurde gefangen gehalten. Vielleicht ist das ja so ein Kampusch-Ding wie in Österreich, wo einer ein Mädchen entführt hat. Dann kann das auch viele Jahre zurückliegen. Wir sollten auch nach alten Entführungen und Vermisstenanzeigen suchen. „Gute Idee, Scheck, lobte ihn Menzel dankbar. „Das machen wir.

    Kapitel 4

    Die Air-France-Maschine aus Paris hatte einen weiten Bogen geflogen und steuerte nun die Landebahn von Tegel an. René blickte auf die vorbeiziehenden Häuser von Pankow und dachte nach, wie es ihm mit der Rückkehr nach Berlin ging. Im September des Vorjahres hatte er ein Angebot der John-Hopkins-Universität in Baltimore erhalten, für drei Monate in einem Team über bipolare Störungen zu forschen, Vorträge zu halten und Aufsätze zu schreiben. Er hatte sofort zugesagt, um seinen Dämonen in Berlin den Rücken zu kehren, dem Unfall, den er nur mit Glück überlebt hatte und dem seine Frau zum Opfer gefallen war. Außerdem gab es da eine Hauptkommissarin beim LKA, mit der er einen Fall lösen konnte, der wieder fast das Leben der Kommissarin gekostet hätte. Offensichtlich hatte sie sich während ihrer Zusammenarbeit in ihn verliebt und betrachtete ihn als ihren Lebensretter. Dieser um ein Haar eingetretene abermalige Verlust versetzte René in große Unruhe. So hoffte er, Abstand zu finden und eine neue Haltung zu gewinnen.

    Anfang Oktober kam er in Baltimore an. Die Universität hatte ihm ein kleines Haus in der Stadt angeboten, nicht weit von seinem Arbeitsplatz im John-Hopkins-Hospital. Es war ein schmales Häuschen über zwei Stockwerke, bunt gestrichen wie seine Nachbarhäuser und erinnerte ihn an die Onkel-Tom-Siedlung Bruno Tauts in Berlin. Es stand in der Federal Street. Es war voll eingerichtet und wurde immer wieder als Gästehaus der Universität benutzt. René fand es wohnlich, wenn auch eng und verwinkelt verglichen mit seiner Berliner Wohnung.

    Erinnerungen und Bilder leuchteten in René auf:

    Das Postkartenmotiv des altehrwürdigen Zentralgebäudes des John-Hopkins-Hospitals mit der Kuppel, längst umgeben von modernen Zweckbauten. In einem davon arbeitete das Team.

    Das Team. Eine überraschend offene und respektvolle Atmosphäre, in der keine Meinung entwertet oder dominiert wurde. Die Amerikaner sind sehr überzeugt von der Bezeichnung der Krankheit als bipolare Störung. Aber sie sind auch versiert im strukturübergreifenden Verständnis der Psychose, sowohl der Symptomatik als auch der Therapie, im Zusammendenken von psychischen, sozialen und somatischen Faktoren. Immer wieder gibt es spektakuläre Fälle von Prominenten aus dem kreativen Bereich, zuletzt Catherine Zeta-Jones, die sich 2011 in eine Klinik begab.

    Die absolute Freundlichkeit der Menschen im persönlichen Kontakt. René erinnerte es an die nicht immer glaubwürdige Liebenswürdigkeit der Wiener. Im ohnehin meist oberflächlichen Kontakt wirkte sie aber angenehm und beruhigend.

    Die Chesapeake Bay, das Meer und doch eine tief eingeschnittene Bucht. Weite, Himmel und die gering besiedelte Halbinsel mit Fischerdörfern, Wäldern. Was für ein Kontrast zu Metropolen wie Baltimore oder dem benachbarten Washington.

    Das unbekümmerte, helle Lachen von Sam, der blonden, lebhaften Journalistin, Samantha Mc Blair, seiner Nachbarin in der Federal Street. Er hörte es zum erstenmal, als er am Tag nach seiner Ankunft auf der Terrasse einen Kaffee trank. Die Morgensonne wärmte die nachtkühle Terrasse und die kleinen Gärtchen hinter den Häusern. Hätte sich nicht hinter den Gärtchen noch ein großer Parkplatz erstreckt, wäre der Eindruck fast wie in Berlin oder im Bremer Viertel gewesen. Im Nachbarsgärtchen grub und pflanzte schon eine junge Frau im Overall und Gummistiefeln, die üppigen blonden Haare mit einem Tuch festgebunden. Er sah ihr eine Weile zu und grüßte freundlich, als sie aufblickte. Sie winkte ihm zu und rief: „Ah, der neue Hopkinsgast! Seien Sie willkommen. Wie lange bleiben Sie? René sagte, er bleibe drei Monate. „Wunderbar, meinte sie, „da können Sie Baltimore und seine Umgebung gut kennenlernen. René schaute auf seine Kaffeetasse und lud seine neue Nachbarin ein, bei ihm auf der Terrasse einen Kaffee zu trinken. Sie stimmte zu, wollte sich nur noch kurz die Hände waschen. Einige Minuten später klingelte es an der Tür und sie stand vor ihm, in Jeans und weißem Baumwollpullover, die lockigen Haare offen. „Hi, I'm Samantha. René stellte sich vor und führte sie auf die Terrasse, den Kaffee nahm er mit. Sie plauderten unbefangen, Samantha war Journalistin bei der Baltimore Times in der Feuilletonredaktion. Als sie erfuhr, dass René aus Berlin kam, war sie sehr neugierig zu erfahren, wie es war, in dieser Stadt, von der man auch in den USA immer wieder hörte, zu leben. Sie lud ihn ein, wenn ihm das Hospital Zeit lasse, einige interessante Neighbourhoods von Baltimore zu erkunden: Little Italy, Harbour East und Canton. Nichts war schwer und belastet wie in Berlin, er fühlte sich nicht mehr als Witwer, seine durch den Unfall eingeschränkte Beweglichkeit hatte er fast gänzlich wiedergewonnen. Da war nur diese heitere Frau, die ihn offensichtlich auch nicht unsympathisch fand. So begann es. In den folgenden Tagen, meist Abenden, durchstreiften sie das italienische Viertel, vertilgten Köstlichkeiten in den kleinen Osterien, tranken sizilianischen Rotwein, spazierten am Kai entlang und blickten auf die ausgedehnten Hafenanlagen. Zu Hause angekommen, standen sie noch kurz vor der Tür und Sam, „Nenn mich bitte Sam, Samantha ist so förmlich", Sam also meinte, jetzt sollten sie auch noch die Zeit nutzen, bevor der Winter hereinbräche, die Umgebung kennenzulernen. Sie verabschiedeten sich mit einem Kuss. Am nächsten Wochenende stiegen sie in Sams Auto, einen Toyota Prius, und fuhren in die Chesapeake-Bay ans Meer. Das erste Ziel war die Chesapeake-Bay-Bridge, die sich mit zwei getrennten Fahrbahnen in einem kühnen Bogen über das Meer schwingt. Im Sandy Point State Park stellten sie das Auto ab, aßen in einem Restaurant am Strand und liefen den Sandstrand entlang. Es blies schon ein heftiger Herbstwind und

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