Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Aus den Notizen eines Angepassten
Aus den Notizen eines Angepassten
Aus den Notizen eines Angepassten
eBook280 Seiten3 Stunden

Aus den Notizen eines Angepassten

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Den Titel "Aus den Notizen eines Angepassten" entnahm ich meinen gleichlautenden Lesungen 1992 in Köpenick im "Club 17" sowie im "Bürgerhaus Grünau".
Der Titel impliziert den Widerspruch, unter dem Schreibende in der DDR gearbeitet und gelebt haben. Denn wer das Leben unter der Anpassung beschreibt oder davon erzählt, widersetzt sich ihr zugleich.
Die Einschätzung, ein "typisch angepasster DDR-Bürger" zu sein durch den Personalrat, dessen Leiter kurz darauf aufgrund einer IM-Tätigkeit vom Dienst freigestellt wurde, brachte mich 1992 auf den Gedanken, aus meinen Notizen zur DDR-Zeit zu lesen.
Mir geht es dabei nicht um die simple Anpassung, die so gern undifferenziert und oberflächlich, als willfährig und widerstandslos ergeben gedeutet wird - (auf der einen Seite die Willfährigen, Bleibenden, auf der anderen Seite die mutigen Ausreisenden und die mutigsten Mauerüberwinder.) Diese beiden Darstellungen interpretieren am Leben vorbei, erklären weder den DDR-Alltag, noch den weitgehend gewaltlosen Umsturz. Deshalb ja meine Notizen seit vierzig Jahren, deshalb meine kurzen und hoffentlich nicht zu schlecht erzählten Texte, in denen ich zeigen möchte, dass die sogenannte "Anpassung" bei den allermeisten Menschen in der DDR ein oft stiller Widerstand in unzähligen, scheinbar nebensächlichen Alltäglichkeiten gewesen war, der in der Summe mit der Opferbereitschaft der Flüchtlinge und der Ausreisenden letztendlich zu der relativ stillen, und größtenteils friedlich verlaufenden Maueröffnung geführt hatte. Und diese Allermeisten haben es verdient, gerecht beurteilt und in der Deutung der DDR-Geschichte nicht unterschlagen zu werden. Im Interesse eines gesunden Nebeneinander in Deutschland dürfen wir die einen nicht gegen die anderen aufwiegen und schon gar nicht ausspielen.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum6. Jan. 2015
ISBN9783738009316
Aus den Notizen eines Angepassten

Mehr von Fritz Leverenz lesen

Ähnlich wie Aus den Notizen eines Angepassten

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Aus den Notizen eines Angepassten

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Aus den Notizen eines Angepassten - Fritz Leverenz

    Am Nachmittag, am Abend

    Er saß auf der Couch, etwas vorgeneigt, als lauschte er. Plötzlich konnte er die Stille hören. Noch an keinem Abend war sie ihm so tief und beruhigend erschienen. Er hörte sie, nachdem auf der Straße ein schweres Baufahrzeug vorübergerumpelt war. Es schien, als näherte sich ihm dieses zärtliche Gefühl hier in der Stille; dieses Gefühl, das er am Nachmittag verloren zu haben glaubte.

    Der Schein der Nachttischlampe drang durch die angelehnte Schlafzimmertür. Er hörte Lina in einer Zeitschrift blättern. Sie hüstelte nervös. Er wusste, sie wartete auf ihn. Vielleicht spürte sie seine Veränderung. In den Jahren ihrer Ehe hatte er zu oft vergeblich gehofft, sie käme, wenn er sich einsam fühlte, als dass er darüber hinweghörte. Er konnte jede Nuance ihrer Stimme, ihrer Mimik, ihrer Gestik, ihrer noch so kleinen Gewohnheiten deuten. Meistens war er es gewesen, der sich näherte. Kürzlich in der Straßenbahn hatte eine junge Mutter ihren dreijährigen Sohn aus irgendeinem Grund ärgerlich von sich geschoben, und der Kleine hatte sich nicht wegdrängen lassen, sondern sich mit aller Kraft gegen ihre Beine gestemmt. Er hatte den Kleinen sofort verstanden.

    Erst mit den Jahren hatte er Linas Scheu erkannt, mit der sie zu ihm kam, diese Furcht, wie leise Fremdheit, die sie nicht ablegte. Lächelte sie, berührte ihn wie zufällig mit einem Finger, oder setzte sich unaufgefordert in seine Nähe, fühlte er sich geborgen. Obgleich er sich noch immer wünschte, sie näherte sich, streichelte ihn, und er müsste nicht um Zärtlichkeit betteln, fühlte er sich mit ihrer beider Suche zueinander verbunden.

    Vor einer Stunde bereits, während er eine Kurzgeschichte von Tschechow gelesen hatte, um sich abzulenken, war er eingenickt. Doch er blieb sitzen. Er konnte jetzt nicht zu Lina, als wäre nichts vorgefallen, obwohl sie schon häufig zu verstehen gegeben hatte, für wie zweitrangig sie es hielt, würde er zu anderen Frauen gehen. Auch darüber sprechen konnte er heute nicht. Ihm schien, er habe dieses Mädchen in Lina verraten, dessen Wesen er mit dem Heranwachsen seiner Tochter verstehen lernte. Er fühlte sich erschöpft, an allen Äußerlichkeiten dieses Abends uninteressiert, als habe er zerrissen, was ihn bislang mit allen Fasern gehalten hatte: Nichts zu tun, was er nicht mit ganzem Herzen tun konnte.

    Ellen hatte er zufällig in der S-Bahn wieder getroffen. Sie war klein, dünn, strähnig blond, trug eine kurzärmlige weiße Bluse, einen karierten Faltenrock, aus dem etwas zu gerade weiße Beine hervorsahen. An ihren wasserblauen Augen hatte er sie wiedererkannt und an den schmalen Lippen, die ihr im Kontrast miteinander einen Ausdruck sanfter Ironie gaben. Er hatte sie in der Schulzeit geliebt mit heimlicher Verehrung, mit der Jungen häufig lieben. Jetzt fiel ihm auf, dass er als Dreizehn- oder Vierzehnjähriger ein Gesamtbild aus wenigen Einzelheiten von ihr besessen hatte, das ihn bis in seine Träume hinein ausfüllte: ihre humorvoll lächelnden Augen, ihre Lippen, die sie zusammenkniff, als scheute sie sich zu sprechen, wie sie dabei ihren Kopf senkte, ihre kindliche helle Stimme, ihre stille Heiterkeit. Und jetzt klebte sein Blick an unwesentlichen Details, die sein jahrzehntelanges Bild von ihr verwischten. Er versuchte dessen Konturen aufzufrischen: Sie mit blondem gescheiteltem Haar, das rechts von einer Spange gehalten, ihr Gesicht freihielt; am Ausgang der Felshöhle in der Sächsischen Schweiz auf das Geländer der Treppe gestützt, dem Klassenlehrer zugewandt, der die Gruppe fotografierte. Er selbst in weiten ausgebeulten Trainingshosen und engem Pullover im Profil, nur Blicke für sie, ihr zugewandt.

    Zweimal hatten sie sich im Café Espresso am Alexanderplatz, getroffen und waren einmal ins Kino gegangen, wo sie seine Hand gehalten und er sich recht tatenlos auf die Filmhandlung konzentriert hatte. Er konnte es nicht leugnen, seine heutigen Empfindungen zu Ellen ähnelten kaum noch denen aus seiner Erinnerung, dennoch war er ihrer Verabredung ins Strandcafé Grünau gefolgt.

    Ellen lehnte halb sitzend auf einem Steinpfosten des niedrigen Holzzaunes und begrüßte ihn lächelnd. Sie trug ein dunkelrotes Kleid, in dem ihr Gesicht noch durchscheinender wirkte als sonst. Ihr Haar trug sie hochgesteckt, sodass sein Blick an ihrem schlanken Nacken festhielt. Das Café, so war auf einem Zettel an der Gartentür zu lesen, blieb einige Tage wegen Reparatur der Tanzfläche geschlossen.

    Gehen wir zu mir, sagte sie, als überraschten sie die Schließtage nicht. Es klang ganz selbstverständlich. Er erschrak, fühlte, wie sein Lügen sich in ihm breitmachte und antwortete nur mit einem Schulterzucken. Weshalb dachte er, ich verspiele jede Sympathie. Zugleich verspürte er nervöse Ungeduld, sie zärtlich zu berühren. Er lächelte gezwungen und blieb wortkarg. Dieser Nachmittag, sagte er sich, ist das Äußerste, worauf du dich einlassen darfst, widersprach ihrer Einladung mit sich unzufrieden, aber nicht heftiger als mit einem mürrischen Gesicht.

    Sie überquerten die lange Brücke, fuhren drei Stationen mit der Straßenbahn und gingen auf einem Trampelpfad zwischen Flachgaragen zu einem Altneubau. Während des gesamten Weges blieb er schweigsam. Ellen redete fast ohne Pause von ihrer Arbeit als Drogistin. Er erinnerte sich, dass sie, was damals noch unüblich war, in Oranienburg die Mittelschule besucht hatte, um Apothekerin zu studieren, während er zur Erweiterten Oberschule gegangen war. Im Gegensatz zu ihm war sie konsequent ihren Weg gegangen. Er folgte ihr gedankenverloren.

    Vor der Wohnungstür suchte sie einige Sekunden lang an ihrem Schlüsselbund den passenden Schlüssel. In Gedanken spielte er mit einem Vorwand, sich zu verabschieden. Dann aber schloss sie mit entschuldigendem Lächeln auf, trat vorsichtig in den Flur, als dürfte sie ihn jetzt nicht stören. Er folgte zögernd. Wie behutsam sie mit ihm umging, doch schreckte ihre Rücksichtnahme ihn auf wie ein Albdrücken.

    In der Wohnung hing der Geruch nach Terpentin, frischer Lackfarbe und Bohnenkraut. Ellen sprach jetzt leise mit ihm und doch ungezwungen. Und während er seine Jacke an den Haken neben der Tür hängte und die Schuhe von den Füßen streifte, antwortete er mit hölzernem Humor, trocken, ironisch, schlagfertig, wie um sich selbst zu ermutigen.

    Komm, rief sie mit leiser Euphorie in der Stimme, die ihn bekümmert durchatmen ließ, ich zeige dir die Wohnung! Er trottete hinter ihr her, betrachtete unaufmerksam das Kinderzimmer, begutachtete das Bad mit den drei, an die hellblaue Decke gemalten, Schwänen; lobte die Einrichtung ihrer winzigen Küche, die frisch mit Pariser Blau lackierten Gewürzregale, die Blumenkästen mit Petunien auf dem Fensterbrett, neben denen Farbbüchsen und Gläser mit Pinsel standen. Im Wohnzimmer, einer geräumigen Mansarde standen Korbmöbel und ein gewaltiger gebeizter Kleiderschrank. Ihn interessierte die Wohnung jedoch nicht ernstlich, da er wünschte, sie ginge ihn nichts an.

    Nach dem Rundgang verschwand Ellen in der Küche. Er setzte sich auf die Ledercouch und blätterte uninteressiert und nervös in einer Reclambroschüre, die auf dem Tisch lag.

    Was möchtest du essen?, kam es aus der Küche. Um Himmelswillen!, wollte er sagen, nicht auch noch essen! Doch wollte er nicht ungeschickt erscheinen und antwortete möglichst gelassen: Einen Apfel, bitte.

    Kaffee oder Kakao?

    Na, meinetwegen, Kakao. Er fühlte sich zu Hause und zugleich von ihr vereinnahmt. Er hatte ihr erzählt, er trinke gern Kakao. Was ging das sie an? Das, was er sonst gern tat, hatte nichts mit dem zu tun, der er hier in dieser Wohnung war.

    Fang!, rief sie sanft von der Küchentür und warf ihm einen Apfel zu. Dann kam sie mit zwei geblümten Henkeltöpfen. Er kaute hastig, saß wie auf dem Sprung. Sie setzte sich mit angezogenen Beinen gegen die Armstützen gelehnt und trank in kleinen Schlucken. Unter ihrem Kleid sahen ihre zierlichen Füße hervor. Ihr Gespräch kam nicht in Fluss, wirkte albern, aufgesetzt. Er redete Belangloses, vermied das Thema Familie, kam auf Bücher zu sprechen. Ellen sprach von sich, von unruhigen Nächten im Haus. Ein alter Mann aus der Wohnung nebenan wäre kürzlich gestorben. Er hätte an die Wand geklopft in der Nacht und um Hilfe gerufen. Die Nachbarn wären im Treppenhaus zusammengelaufen in Nachthemden und Pyjamas, und jemand hätte den Rettungsdienst alarmiert, da der alte Mann keine Luft bekam.

    Dann schwiegen sie. Die Nachricht vom Tod des alten Mannes hier im Haus erschütterte ihn mehr, als er wahrhaben wollte. Nur die Vorstellung von der Versammlung der Nachthemden ermunterte ihn.

    Ein Psychologe würde aus der Stellung, in der wir beide zueinander sitzen, interessante Schlüsse ziehen, sagte sie leicht vorwurfsvoll und massierte mit schmerzvollem Gesicht ihr Bein.

    Nicht nur ein Psychologe, sagte er leise wie zu sich selbst, auch ich finde uns interessant. Er saß eine Armlänge von ihr entfernt, etwas weggeneigt und sah ihr nachsinnend in die Augen. Vielleicht wäre ihrer beider Zukunft ohne die damalige Traumstörung näher beieinander verlaufen. Ellen stellte ihren Kaffeetopf auf den Tisch, rückte näher, kraulte ihm den Nacken.

    Sie saßen an einem Abend im Schein einer trüben Glühlampe auf dem Heuboden, auf dem sie übernachteten, und sangen mit dem Lehrer und seiner Frau Volkslieder. Hinter ihnen betrachteten sich drei Jungen die Landkarte der Umgebung. Am anderen Tag wollte die Klasse zur Felsenbühne wandern. Er saß mit Ellen Rücken an Rücken, und es gab für ihn nichts auf der Welt, als sie beide im Dämmerlicht, der Geruch nach Heu, die Wärme ihres Rückens, der Klang ihrer hellen Stimme, die in ihm summte, ihn ausfüllte und ihn hinaustrug in die Weite seiner noch unbekannten Jahre. Als sich ihm plötzlich der Griff eines Wanderstockes um den Hals legte, ihn nach hinten zerrte. Er fiel mit dem Ellenbogen mitten in die Wanderkarte, die zerriss. Der Besitzer der Karte gab ihm eine Ohrfeige. Er, so brutal aus des Traumes Süße gerissen, holte mit der Faust aus, traf dessen Stirn und brach sich einen Handknochen. So endete der Abend und ihre Annäherung jäh. Während seine Mitschüler am anderen Tag wanderten, legte ihm ein Arzt in Hohenstein die Hand in Gips. Bis in alle Ewigkeit würde er dem Übeltäter die Attacke gegen seinen Hals nicht verzeihen.

    Einen Moment lang hielt Ellen inne und fuhr ihm nachdenklich, als würde sie malen, mit einem Finger zwischen Hals und Ohren entlang. Er wünschte, er hätte den Nachmittag hinter sich und sehnte sich doch nach ihren Händen auf seiner Haut. Sie schmiegte sich an ihn. Er saß wie erstarrt und erinnerte sich, dass sie ihm erzählt hatte, seit ihrer Scheidung im Frühjahr vergangenen Jahres hätte sie sich keinem Mann genähert. Nicht einmal tanzen wäre sie gegangen und in Cafés oder Restaurants nur mit einer Freundin. Sie hätte sich wehrlos gefühlt, ihre Solorolle erst wieder lernen müssen, die Rolle, Initiative zu ergreifen. Er legte seine Arme um sie und versuchte sie zu küssen. O, sagte sie überrascht und hielt sanft seinen Kopf. Sie war sehr schlank. Seine Hände begegneten sich ungewohnt früh. Die Wärme ihres Körpers schreckte ihn plötzlich auf. Er löste sich von ihr, ging in den Flur, stand vor den Garderobenhaken und blickte unentschlossen auf seine Jacke. Ellen folgte ihm langsam auf Strümpfen, lehnte sich an ihn.

    Bleib, flüsterte sie ihm ins Ohr und streichelte seinen Rücken. Er schloss die Augen. Es roch nach Flieder und Terpentin. Auf dem Hof schlug jemand die Klappe eines Müllcontainers zu. Sie klammerte sich an seine Schultern. Behutsam, wie aus Höflichkeit, hielt er sie mit den Fingerspitzen. Durch ihr dünnes Kleid spürte er ihre Rippen. Sie knöpfte ihm das Hemd auf, streichelte seine Brust, zupfte an den Haaren und begann, es ihm auszuziehen. Er stand reglos und starrte auf eine bläuliche Grafik neben dem Spiegel. Dann streifte er sich schnell die restlichen Kleidungsstücke vom Körper und stand nackt und etwas unbeholfen vor ihr. Das bisschen Lust, das ihn dazu getrieben hatte, den Nachmittag bei ihr zu bleiben, begann sich in einer weiten Leere zu verlieren. Er fühlte sich nackt bis auf den Grund der Seele. Wie, um sich gegen dieses unangenehme Gefühl zu schützen, nahm er ihre Hände, legte sie auf seine Brust und küsste ihren Hals. Sie knurrte wohlig.

    Du kennst mich nicht, sagte er, starrte wieder auf die Grafik und sah, dass sie einen kahlen Baum darstellte, du kennst mich nicht wirklich.

    O, doch, sagte sie, du hast dich seit damals nicht verändert.

    Den ganzen Vormittag im Unterricht, bei dieser Wärme, sagte er ablenkend. Ich bin verschwitzt. Er rückte von ihr weg, ging ins Bad, setzte sich auf den kalten Wannenrand. Als er duschte, fühlte er die Situation so aufdringlich vertraulich, dass ihm flau wurde. So deutlich hatte er noch nie erlebt, wohin es ihn treiben konnte, wich er in entscheidenden Momenten von der Wahrheit ab. Umständlich lange trocknete er sich ab, stieg auf Zehenspitzen über den Kokosläufer, das Badetuch um den Körper geschlungen. Ellen stand noch angezogen und mit verschränkten Armen ans Fensterbrett gelehnt und betrachtete ihn nachdenklich lächelnd. Aus dem Rekorder auf einem Eckschränkchen klang leise Panflötenmusik.

    Das Duschen hat mir gut getan, sagte er und versuchte dabei locker und kraftvoll zu erscheinen. Er dehnte seinen Brustkorb und reckte sich. Betont unbeschwert warf er das Badetuch auf einen Stuhl, kroch rasch unter das dicke Federbett und drehte sich zur Wand. Der kühle Dederonbezug auf seiner Haut ernüchterte ihn. Er schämte sich seiner Nacktheit wie eines geheuchelten Versprechens. Trotz einer neugierigen Lust auf ihren Körper, fühlte er sich müde, entsetzlich fremd, und wollte nur schlafen. Noch gab es die Chance, unbeschadet diesen Nachmittag zu überstehen. Nach kurzem Schlummer würde er aufstehen, verträumt, gähnend, sie würden Kaffee trinken, wirklich miteinander reden, denn keiner hatte heucheln oder betteln müssen, und er würde seine Kindheitsillusion mit in die Jahre nehmen.

    Er hörte es rascheln. Ellen stolperte und hielt sich am Stuhl, der über den Boden scharrte. Achtlos warf sie ihre Kleidungsstücke auf einen Wäschekorb unter dem Fenster, ließ das Rollo herunter und huschte hinaus. Minuten später kroch sie zu ihm unters Deckbett und schmiegte sich fröstelnd an seinen Rücken. Behutsam, wie erkundigend, ließ sie ihre Finger über seinen Körper gleiten. Einige Wassertropfen von ihren Schultern fielen auf seinen Rücken und rannen an ihm herunter. Obwohl ihre Berührung ihm guttat, fühlte er sich steif, drehte sich jedoch zu ihr und streichelte sie mit einer Hand. Ihre Haut erschien seinen Fingerspitzen etwas rau. Sie roch betäubend nach einem Fliederparfüm und ein wenig nach Schweiß. Es machte ihn verlegen, sie nicht liebevoller berühren und nicht küssen zu können. Er umarmte sie. Ihre eckigen, etwas hastigen Bewegungen und ihr leises Stöhnen, mit dem sie immer wieder seinen Namen flüsterte, stachelten seine Lust an oder etwas in ihm, das gern Gewalt ausübte. Er presste seine Lippen aufeinander, als wollte er nichts von der Situation in sich hineinlassen. Dann küsste er sie, weil er sie für Augenblicke dafür liebte, wie leicht ihr Körper unter seinen verhaltenen Bewegungen bebte.

    Bitte, sag' etwas Liebes!, flüsterte sie mit geschlossenen Augen. Ihm lag auf der Zunge, ihr einige nette Worte zu sagen, sie nicht betteln zu lassen. Doch brachte er kein Wort heraus und strich mit seiner Nase über ihre Augen. Seine Heuchelei sollte diesen Nachmittag nicht überdauern. Er spürte seinen Verrat gegen das kleine Mädchen Lina, gegen das Vertrauen, das die vielen Jahre bedeuteten, die sie mit ihm lebte. Das Erleben, dachte er mit plötzlicher Klarheit, sind persönliche Beschädigungen, man erfasst sie in den Details. Er setzte sich aufrecht und wollte aus dem Bett, sich anziehen. Doch sie hielt ihn umarmt und sagte brummelnd: Bitte, streichle mich. Du darfst danach nicht sofort aufstehen. Er erschrak. Glaubte sie, er wüsste nicht, wie liebevoll er mit einer Frau umzugehen hätte; er wäre plump, grob und gefühllos? Doch auch jetzt konnte er nicht sprechen, und streichelte sie mit leisem Trotz. Bei dir fühle ich mich geborgen, sagte sie. Worte, die ihm wohl taten.

    Ja, sagte er und bemühte sich, nicht ironisch zu wirken. Er küsste Ellen auf die Wange, erhob sich rasch, nahm das Handtuch und ging ins Bad. In der Wanne hockte er sich unter den Wasserstrahl und weinte. Als er aus dem Bad kam, saß Ellen in Unterwäsche auf dem Bett und sah ihn fragend an. Er hoffte, sie würde nicht merken, dass er geweint hatte, ging in den Flur, sammelte seine Kleidungsstücke ein, zog sich an, sagte Belangloses über die Reisstrohmatten, zum Terpentingeruch. Sie trat aus dem Zimmer.

    Entschuldige, ich wollte dich vorhin nicht kränken.

    Ach, das ist es nicht, sagte er.

    Sehen wir uns wieder?, fragte sie und lehnte sich an ihn.

    So der Zufall es will, antwortete er leise. Brauchte sie Worte? Hatte sie seine Leblosigkeit nicht gespürt?

    Du machst es dir leicht.

    Ich weiß nicht, ob 'leicht' das passende Wort ist. Er küsste sie auf die Wange, schob sie sanft zur Seite und ging zur Tür.

    Lina war eingeschlafen. Er hörte sie leise schnarchen. Die Lampe hatte sie brennen lassen, obwohl Licht sie beim Einschlafen störte. Er war wieder angelangt in Linas und seiner Einsamkeit, in der sie beide einander suchten, sich so schwer fanden und doch einander hielten.

    Lange saß er regungslos. Nie hatte er Stille und Alleinsein als so wohltuend empfunden. Dann, während er sich auszog, hörte er die Stadtnacht: die S-Bahn, den dreisten Lärm später Autos, eines bummelnden Ikarus-Busses und den Wind in den Pappeln am Haus.

    (Veröffentlicht in „Die Wüsten Leben, Erotische Geschichten, Neue Gesellschaft für Literatur, Berlin, 1996; in „Flaschenpost aus Nordost, Maurine- Radegast, 2004; in „East Side Stories", Holzheimer Verlag, Hamburg, 2006)

    Das letzte Zimmer

    Der Vater saß auf dem Bett und blickte erschrocken vor sich hin in eine unbestimmte Leere, als erlebte er gerade einen bösen Traum. Mit dem rechten Arm stützte er seinen kräftigen aufgeschwemmten Körper und atmete hörbar. Sein Unterhemd hing lappig feucht, und sein dünnes graues Haar klebte ihm wirr am Kopf.

    Der Notarzt hatte einen Infarkt festgestellt und war hinausgegangen zum Wagen. Der Krankenfahrer stand unschlüssig im Zimmer, die Hände in den Taschen seines blaugrauen Kittels.

    Der Vater erhob sich, stand gebeugt abwartend, hielt den seit Jahren gelähmten Arm an sich gedrückt wie ein unnützes Spielzeug, von dem er sich nicht trennen möchte. Die Mutter und der Sohn halfen ihm, die Arme ins Hemd und in die Jacke zu bekommen und Schuhe anzuziehen. Dann stand die Mutter am Kleiderschrank und drehte die Hände ineinander. Sie hatte diese Minuten seit Langem vorhergesehen, jetzt aber fiel es ihr schwer, zu verstehen, dass ihre Geschäftigkeit hier nicht mehr gefragt war.

    Der Sohn hielt den Einweisungsschein für das Krankenhaus in den Händen. Seit Wochen kam er wieder einmal zu Besuch, zufällig. Aber wie viel von den Zufällen waren tatsächlich zufällig? Er besuchte die Eltern häufiger als früher, hatte sich für einen Tag in der Redaktion freistellen lassen. Nun stand der Vater da wie ein Kind, und er empfand das Bedürfnis, ihn zu umarmen, zu trösten. Doch sie hatten sich nie umarmt, und so blieb er, wo er war, steckte ihm verlegen einen Hemdzipfel in die Hose.

    Das konnte ja nicht gut gehen, dachte der Sohn, das hält ja kein Herz aus, dieser schwere Körper und die kaputt gerauchten Bronchien. Und er musste daran denken, dass sie beide zu selten offen miteinander gesprochen hatten, als dass sie jetzt miteinander schweigen konnten. Deshalb wollte er reden. Er wollte dem Vater sagen, dass er an ihm seine Festigkeit und seine Klugheit gemocht hatte, dass er wohl sah, wie verändert er war, wie viel weicher und mitfühlender er geworden war ...

    Kommen Sie, Herr Beyerle, sagte der Krankenfahrer laut und freundschaftlich, als kannte er den Vater seit Langem. Der Sohn betrachtete ihn verwundert. Der Fahrer sprach so wohltuend, dass er sich fragte, ob das die ständige Übung machte oder eine nie versiegende Güte. Kommen Sie. Wir fahren ein Stück in die Umgebung. Der Fahrer besaß einen vorspringenden Bauch und wirkte nur wenig jünger als der Vater.

    Wären alle fort, dachte der Sohn, wäre ich mit Vater allein, könnte auch ich ihm solche freundlichen Worte sagen.

    Sie fassten den alten Mann von beiden Seiten unter die Arme, und der Krankenfahrer sagte: Das schaffen wir schon, Herr Beyerle. Jetzt spazieren wir erst mal nach draußen. Immer schön langsam. Immer mit der Ruhe.

    Bedächtig gingen sie zur Tür. Des Vaters schlurfender, gehorsamer Schritt hatte etwas Endgültiges, Unumkehrbares. Jede Minute dieses Abends hatte etwas Abschließendes: die Wortlosigkeit der Mutter, die Fürsorge des Sohnes, die Freundlichkeit des Pflegers.

    Auf der Schwelle riss der Vater an den Armen, hielt inne und wandte sich um. Nein! Ich gehe nicht! Lasst mich hier! Er sah erschrocken zu seinem Bett, zum dunklen Fenster mit dem Kakteenregal, hinter dem der Hof lag mit den kleinen Gärten

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1