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Ferne Berührung
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eBook424 Seiten6 Stunden

Ferne Berührung

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Über dieses E-Book

In seinem zweiten Roman Ferne Berührung gelingt es Volker Dittrich aus dem Kaleidoskop eigener Erfahrungen heraus, ein Porträt der erinnerungssüchtigen Nachkriegsgeneration zu zeichnen. Eindringlich schildert der Autor die Spurensuche von zwei Menschen, die sich einander als vertrauensvolle Zuhörer gewinnen wollen - aber vorerst wenig Mut zeigen. Was treibt Trautmar dazu von seinem Küchenfenster aus Dias auf die freie Hauswand des Hinterhofes zu projizieren? Und warum ist Marleen, seine Nachbarin, so gespannt auf die nächste Vorführung? Virtuos erzählt Volker Dittrich die Geschichte von Nähe und Distanz und einer späten Liebe, die sich ohne die Erinnerung an frühere nicht entfalten kann. In Rückblenden werden die Geheimnisse um Marleen und Trautmar erzählt und immer mehr bewegen sich ihre Vorstellungen aufeinander zu. Sie erzählen, was sie bewegt, spielen mit dem Gedanken, den Nachbarn anzusprechen, erwägen ein mögliches gemeinsames Leben, stellen Vergleiche mit Partnern an, von denen sie sich getrennt haben. Marleen, seit 20 Jahren im gleichen Frisörladen, unterhält die Kunden mit immer haarsträubenderen Geschichten, bis sie in die Krankheit flüchtet. Ihre Mutter erzählt ihr von ihrer einzigen großen Liebe und deren tragischem Ende. Trautmar reist mit seinem Vater in dessen Heimat, aus der er mit seiner Familie vertrieben wurde. Auch Trautmar wird mit einer ihm unbekannten Familiengeschichte konfrontiert. Die gemeinsame Spurensuche entwickelt sich zu einer zärtlichen Vater-Sohn-Geschichte. Trautmar erkrankt. Am Tag der ersten gemeinsamen Wahl nach der deutschen Teilung begegnen sich Marleen und Trautmar nach ihrer begonnenen Genesung in ihrem Wahllokal.
SpracheDeutsch
HerausgeberDittrich Verlag
Erscheinungsdatum16. Juni 2014
ISBN9783943941548
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    Buchvorschau

    Ferne Berührung - Volker Dittrich

    Inhalt

    Endlich belebte er wieder die Wand mit seinen Bildern. Er hatte es monatelang mit einer Regelmäßigkeit getan, auf die Verlass war. Doch seit einigen Wochen hatte Marleen vergeblich gewartet. Sie fürchtete, dass er den Tag gewechselt habe. Sie hörte nichts von ihm. Vielleicht war er verreist. Sie wurde immer unruhiger, traute sich nicht einmal, nach Feierabend kurz etwas einkaufen zu gehen. Sie lebte immer in der Angst, er würde ohne sie beginnen, oder dass sie es vielleicht ganz verpassen könnte. Saß sie abends vor dem Fernseher, wurde sie nach fünf Minuten unruhig und ging mindestens in einem Zehnminutenrhythmus in die Küche, um nachzusehen. Wochenlang vergeblich. Heute ist ein Festtag. Endlich können sie wieder zusammensitzen.

    Mit dem Ohr an der Wand lauschte sie den Geräuschen. Glück gehabt. Er sortierte noch. Sie stellte den Kassettenrekorder auf den Tisch. Die richtige Musikkassette war eingelegt. Sie spulte das Band vor. Nach Ende der letzten Töne drückte sie die Pause-Taste. Der Wasserkessel begann zu pfeifen. Zwei oder drei Nelken mit in den Tee geben, zur Verfeinerung und für das Aroma im Raum. Sie stieg über den Sessel, um das Gewürzregal, die kleinen Gläser und die Flasche Sherry zu erreichen.

    Gegenüber, an der Wand des Hinterhauses, die ihre Küche auch tagsüber nie ganz hell werden ließ, ein helles Viereck. Es wackelte und bewegte sich nach unten. Nebenan war das Vorspiel von Tristan und Isolde zu hören. Sie wartete bis es zu Ende war, löste dann die Pause-Taste, und die jetzt auch von ihr geliebte Musik füllte nun beide Räume.

    Das erste Dia. Wieder das gleiche. Die Aufnahme eines Gemäldes. Eine schwarze Figur auf einem kleinen Platz vor einer braunen Hauswand mit weißen und hellbraunen Kacheln. Die Figur steht wie vor einem Menetekel, um etwas über die Zukunft zu erfahren. Zur Einstimmung ließ er es immer lange an der Wand. Sie goss sich Sherry ein, schälte eine Apfelsine. Weniger, weil sie großen Appetit darauf hatte, mehr wegen des Geruchs. Der Raum sollte erfüllt sein von diesem Gemisch aus Tee, Nelken, Apfelsine, Sherry und brennender Kerze. Jetzt war sie zu Hause. Die braune Hauswand mit den Kacheln scheint eine magische Anziehungskraft auf den Mann zu haben. Ganz oben ein kleines Fenster mit weißem Kreuz. Links von dem Mann steht ein blühender Baum. Die Äste ein schwarzes Gerippe. Davor große, helle, sargähnliche Steinquader für den Neubau des fehlenden Hauses. Wenn sie lange auf diesen Platz sieht, fühlt sie sich eingeschlossen. Wohin geht dieser Mensch? Was sucht er in dem weißbraunen Mosaik?

    Das zweite Dia zeigte die Frau von gegenüber aus dem ersten Stock. Alt ist sie geworden. Er muss sie fotografiert haben, als sie gerade die Haustür verließ. Es ist, als würde sie in ihre Küche sehen. Ein suchender Blick. So hat er sie noch nie aufgenommen. Nur Kopf, Hals und Schultern. Fast aufdringlich der Blick in ihre Wohnung. Schön das verschwommene helle Braun im Hintergrund. Stand er direkt vor ihr? Aber das ist nicht möglich. Es muss ein neuer Fotoapparat sein, mit einem riesigen Objektiv. Bestimmt hat er gegenüber in der Toreinfahrt gestanden. Sie sieht schlecht aus. Ihr suchender Blick ist fast stechend. Jede Falte ist zu sehen. Um die Mundwinkel zwei scharfe, verhärmte Züge. Jetzt war sie gespannt auf die nächsten Bilder. Bisher hat er die Nachbarn von weitem aufgenommen. So hatte sie ihren Tagesablauf kennenlernen können. Beim Einkaufen, Fensterputzen oder wie sie Wäsche im Hof aufhängten. Manche auch bei der Arbeit oder mal, wenn sie spazieren gingen, irgendwo draußen saßen, ein Bier oder Kaffee tranken und Eis aßen. Ab und zu war auch mal ein Dia dabeigewesen, das den einen oder anderen schon sehr nah gezeigt hatte. Dann vermutete sie, dass er ihnen, den Fotoapparat vor der Brust, entgegengegangen war und heimlich auf den Auslöser gedrückt hatte. Oft war das Gesicht nicht scharf getroffen, das Bild verwackelt.

    Ich kann diesen Blick von der Wand nicht mehr ertragen. Fast schon anzüglich. Warum quält er mich damit? Dieser leidende, vorwurfsvolle Blick, der in Marleen eine große Müdigkeit hervorrief. Der Laden ist voll und du liegst hier auf dem Bett und liest. Sie sortierte die leeren Flaschen in die Kästen, schrieb den Pfandbetrag auf einen Zettel, nahm leere Milchkannen entgegen und füllte sie, verrieb die weißen Spritzer auf ihrem Pullover. Abends stand die ganze Familie vor dem Marienbildchen und hielt die Maiandacht. Sonst hat er die Fotos nie so lange an der Wand gelassen. Der große Nagel in der Mauer zeichnet der Alten ein Muttermal auf den Hals. Im dunklen Glas neben dem Dia spiegelt sich seine Küche. Er hat Licht gemacht und steht am Fenster. Lange war sie ihm nicht mehr begegnet. Welchen Schreck hatte sie bekommen, als er plötzlich vor ihr stand. Ihr zitterten die Knie. Wie angewurzelt blieb sie stehen, anstatt einen Schritt zur Seite zu gehen. Wassertropfen wechselten die Haut. Mit kräftigem Schwung schoss sein Körper über den Beckenrand, mit einem Satz stand er nass und halbnackt vor ihr. Für Sekunden blickte sie ihm in die geröteten Augen und verschränkte schnell die Arme vor der Brust, um die kalten Tropfen abzuwehren. Als er seitlich ausgewichen war, verrieb sie die nassen Perlen auf ihrer Haut. Hatte er sie erkannt? War es ein Lächeln, bevor er sich mit der flachen Hand das Wasser aus dem Gesicht wischte und die Haare nach hinten strich? Sie blickte ihm nach. Er war groß, hatte breite rotbraune Schultern. Den Bauchansatz über der Badehose hatte sie nicht erwartet. Ein paar Meter weiter war er stehengeblieben und sprach mit einer älteren Frau. Der kleine Kopf passte nicht zu seinem großen Körper. Kurz vor ihm stieg sie die Treppe hinunter. Seine unbehaarte Haut hätte eher zu einer Frau gepasst. Die Füße glichen Schwimmflossen. Über diesen Vergleich musste sie schmunzeln und ließ sich ins Wasser gleiten, um wie an jedem der vergangenen Abende, ihre Bahnen zu schwimmen. In der letzten Zeit hatte sie ihn oft vom Fenster aus beobachtet. Nur dafür hatte sie sich im An- und Verkauf um die Ecke ein Fernglas gekauft, in einem braunen Futteral, genau wie das von ihrem Vater. Sonntags nach dem Kaffeetrinken gingen sie ihre Runde. Der Vater ein paar Meter vorweg. Im März beobachteten sie die Hasen auf den noch unbestellten Feldern. Die Langohren rasten wie von Sinnen hin und her. Warum, das erfuhr sie, wie vieles, erst sehr viel später.

    Endlich, er machte weiter. Sie musste lachen. Der Kopf der Nachbarin verschwand ganz langsam, und währenddessen wuchs ihr ein Schnurrbart auf der Oberlippe. Das ist auch neu. Aus dem Hintergrund tritt ein Mann hervor. Der Türke vom Gemüseladen an der Ecke. Sie mag keine Schnurrbärte. Aber das ist wirklich ein besonders schönes Exemplar, verdeckt nur ein bisschen zu sehr die Oberlippe und muss beim Essen und Trinken störend sein. Voll und pechschwarz ist er mit einigen grauen Strähnen. So musste sie einer Kundin in letzter Zeit immer die Haare färben. Und wie die redet. Ein Stichwort genügt. Dann braucht sie selber nichts mehr zu sagen, hat Ruhe, ihren eigenen Gedanken nachzuhängen. Nur ab und zu ein Kopfnicken und ein zustimmendes Hmm Hmm brummen. Sie kennt die Frau seit fast zwanzig Jahren. Damals kam sie jeden Donnerstag zur Dauerwelle, brachte ihr ein Mon Cherie mit und sagte mit ihrem breiten Dialekt und mit hoher Stimme, für meinen kleinen Schatz. Jetzt kommt sie immer freitags. Sie lässt sich seit Jahren nur von ihr bedienen und gestern erzählte sie, sobald sie saß, stöhnend und stolz von ihren beiden Enkelkindern, die sie donnerstags zu versorgen hat. Oft ließ Marleen sie reden und dachte an etwas anderes. Sie stellte den Kassettenrecorder etwas lauter.

    Treibt aus dem Schlaf / dies träumende

    Meer, / weckt aus dem Grund / seine

    grollende Gier! / zeigt ihm die Beute, /

    die ich ihm biete!

    Komische Leute waren bei der Exkursion in die Lüneburger Heide mitgefahren. Der eine war sehr nett, sah ihrem ersten Freund ähnlich. Sie ging mit ihm spazieren und genoss seine Nähe. Den Duft der Heide, vermischt mit dem Geruch seiner Haut, atmete sie tief ein, als er am Fuße des Wilseder Berges seinen Arm um ihre Schultern legte. Ein unvergesslicher Augenblick hätte es werden können. Später bei Kerzenschein und einem Glas Sekt. Eine gute Voraussetzung, wenn Steine aus dem Weg zu räumen wären. Aber so weit kam es nicht. Schon am letzten Tag der Exkursion steckten sie ihre Ziele ab. Sprachen über eine mögliche Zukunft. Sie hatte ihm zugehört, enttäuscht und mitleidig gelächelt, als er seine Wünsche äußerte, ihm dabei fest in die Augen gesehen. Er konnte ihrem Blick nicht standhalten. Sie küsste ihn auf die Wange und sagte:

    Da wirst du wohl bei deiner Mutter bleiben müssen.

    Am nächsten Morgen, als sie ihn im Bus sitzen sah, wunderte sie sich über ihre Gefühle vom Tag zuvor. Wurde ihre schnelle Zuneigung zu ihm wirklich nur durch die Ähnlichkeit mit Stefan ausgelöst, ihrem Freund, mit dem sie damals in die Stadt gezogen war, nachdem sie die Hauswirtschaftsschule beendet hatte. Sie bewohnte ein kleines möbliertes Zimmer im Haus ihrer Tante, er wohnte in der Dachkammer der Druckerei, für die er arbeitete.

    Über dem Schnurrbart wuchsen plötzlich lange, blonde, lockige Haare. Der Kopf eines kleinen Jungen oder Mädchens. Es musste das Kind von ganz oben sein. So genau hatte sie es noch nie gesehen. Was für ein Blick, rein und unschuldig. Wie das Gesicht der Mutter Maria auf dem Weg zum Frauenstift. Dort hatte sie abends mit dem Fahrrad Milch und andere Bestellungen hingebracht. Das erste Mal allein kurz nach ihrer Kommunion, ohne ihre große Schwester. Sie stieg vom Fahrrad und kniete vor dem Marienbild. Die Mutter Gottes hielt das Jesuskind auf dem Arm, blickte zärtlich zu ihm herab.

    Gegrüßet seist du, Maria, voll der

    Gnade; der Herr ist mit dir. Du bist

    gebenedeit unter den Weibern, und gebenedeit

    ist die Frucht deines Leibes, Jesus.

    Heilige Maria, Mutter Gottes,

    bitte für uns Sünder jetzt und in

    der Stunde unseres Todes. Amen.

    Sie sprach es voller Stolz, gegen den Frühlingswind, leise und betont und bat im Anschluss die Jungfrau Maria darum, dass ihre Mutter sie am Samstagnachmittag zu ihrer Freundin gehen lassen solle.

    Zwei Wochen zuvor hatte sie die erste heilige Kommunion gefeiert, zusammen mit ihrer jüngeren Schwester. Die Sonne ließ ihr weißes Kleid erstrahlen. Ihre Tanten hatten Tränen in den Augen und lächelten.

    Wie eine kleine Braut!

    Ach, wie ein Engel mit diesen blonden Locken!

    Sie kamen aus der Kirche. Der Weg vom Gartentor bis zur Hauswand war von einer Nachbarin mit Blumen geschmückt worden. Ein Meer von Blumen nur für sie. Marleen blieb stehen. Ihre Unterlippe bebte, heiße Tränen rannen ihr über die Wangen. Ein warmes Kreisen, schöner als im Karussell, durchströmte ihren Körper. Die Blumen verschwammen zu einem farbigen Teppich, über den sie langsam, tief einatmend, mit weichen Knien dahinschritt. Eine Prinzessin auf dem Weg ins Schloss, durch ein Spalier winkender Menschen. Die Nachbarin hatte es nur für sie getan. Sterne funkelten in Marleens feuchten Augen, als sie die Frau ansah. Die lächelte und senkte schnell den Blick. Marleen war ein Kind Gottes. Vom Pfarrer wurde sie gelobt, wenn sie die Gebete laut und deutlich las. Die Tischgebete zu Hause an den Festtagen durfte sie sprechen.. Und die jüngere Schwester, die nichts ohne die Zustimmung der Mutter machte und immer versuchte, in deren Nähe zu sein, bestimmt hatte sie den Blumenschmuck überhaupt nicht bemerkt. Marleen war fest davon überzeugt, dass sie nur an die Geschenke dachte, die im Wohnzimmer auf dem Tisch lägen.

    Marleen wollte bei der ersten Kommunion alles richtig machen, bei ihrer ersten Beichte wirklich alles sagen, damit ihr der liebe Gott alle Sünden vergebe. Sie hatten die zehn Gebote gelernt und ihre praktische Bedeutung im täglichen Leben. Aus vollem Herzen sang Marleen das Lied:

    Strenger Richter aller Sünder, der Du

    uns so schrecklich drohst, gib uns

    Gnade,

    recht zu büßen, dass wir nicht einst

    hören müssen: »Geht von mir, ich kenn

    euch nicht!«

    Herr, wend ab dies Strafgericht!

    Sie fieberte der ersten Kommunion entgegen. Je näher sie rückte, desto größer wurde ihre Angst, vorher zu sterben, ohne dass Gott ihr alle Sünden vergeben hätte.

    Beichte so aufrichtig, wie du beichten würdest, wenn du wüsstest, dass du sofort nach der Beichte sterben müsstest. Der Beichtvater ist zu ewigem Stillschweigen verpflichtet.

    So stand es im Gebetbuch. Und sie wollte alles beichten, nichts vor Gott verschweigen. Nur, was war Keuschheit? Wann war sie unkeusch? Eines morgens saß sie an einem Grashang in der Sonne. Die Nachbarskatze mit ihrem dicken Bauch schlich um sie herum, legte sich auf den von der Sonne gewärmten Wollrock zwischen ihre gespreizten Beine. Sie drückte sich gegen ihre Schenkel, wand sich in ihrem Schoß. Marleen versuchte aufzustehn, schaffte es aber nicht und blieb still sitzen. Sie spürte ihren Rock am Schenkel feucht werden. Tränen schossen ihr in die Augen. War sie unkeusch? Sie konnte sich nicht dagegen wehren. Unter dem Schwanz der Katze sah sie etwas schwarzes feuchtes. Die Katze stand vor ihr, versuchte es mit der Schnauze zu erreichen und drehte sich hin und her. Das dunkle Stück Fell wurde größer, die Katze legte sich wieder in ihren Rock. Wie erstarrt sah Marleen zu, als die Katze an einem rohen Stück Fleisch biss, es nach und nach verschlang. Plötzlich bewegte sich das schwarze Stück Fell. Jetzt begriff Marleen, dass es ein kleines Kätzchen war, das auf ihrem Rock lag. Das blieb ihr Geheimnis. Niemand durfte es erfahren. Als alle schliefen, schlich sie sich ins Wohnzimmer, bekreuzigte sich vor der Jungfrau Maria auf dem kleinen Eckschränkchen und erzählte ihr, dass sie gesehen habe, wie die Nachbarskatze ein Junges gekackt habe. Später musste sie noch fünf weitere herausgedrückt haben, aber das hatte Marleen nicht mehr miterlebt. Für den großen Fleck auf ihrem Rock entging sie nur knapp einer Ohrfeige. Das hatte sie wohl mehr der Neugier der Mutter zu verdanken, die sich so erhoffte, eher zu einer ehrlichen Antwort der Tochter zu kommen. Marleen aber schwieg beharrlich mit Achselzucken und angsterfüllten Augen und die Mutter durchbohrte sie mit ihren Fragen und Blicken, in denen sich die furchtbarsten Sünden spiegelten.

    Der Pfarrer saß im Beichtstuhl. Sie sah seine kurzen, weißen Finger. Um wirklich nichts ungesagt zu lassen, gestand sie nach kurzem Schweigen:

    Und dann habe ich noch im Freien gepinkelt.

    Sein Grinsen bohrte sich durch ihre Brust, ihr Kleid wurde grau, die Gänseblümchen in ihrer Hand verblühten im Beichtstuhl. Er hatte sich mit seinem Grinsen zwischen sie und Gott gedrängt. Nie wieder würde sie ihm ihre Geheimnisse anvertrauen.

    Die Kundin mit dem breiten Dialekt grinste ebenso, wenn sie Marleen irgendeine ihrer Sauereien erzählen wollte. Damals, als sie jeden Donnerstag zur Dauerwelle kam, stipste sie ihr zusätzlich noch den Zeigefinger neckend in den Bauch und sagte fast jedes Mal:

    Ja, ja, stille Wasser sind tief. Welchen Mann hat sie denn am Wochenende wieder um den Finger gewickelt? Und mit einem Schmollmund rutschte sie auf dem Stuhl hin und her, flehte mit unterwürfigem Augenaufschlag: Bitte, bitte, erzähl mir doch, wie ihrs heute treibt, damit ich mich nicht blamiere, wenn mir mal wieder so ein junger Hahn die Leiter hochsteigt.

    So oder ähnlich leitete sie die Berichte über ihre kleinen Seitensprünge, wie sie es nannte, immer ein. Sie schmunzelte verwegen in den Spiegel, und wenn sie sah, dass Marleen ihre Einzelheiten unangenehm wurden, kicherte sie.

    Aber was erzähl ich denn dir heimlicher Genießerin, du erlebst doch viel aufregendere Sachen als ich, ließ sie zwischendurch einfließen.

    Manchmal ekelte es Marleen so sehr, dass sie nicht alle Lockenwickler eindrehte, sondern ihr die Haube so schnell wie möglich überstülpte und das Gerät besonders heiß stellte, damit sie endlich ihr Maul halten würde. Das Gesicht schwoll dann vor Hitze an, sie bekam rote Flecken und schrie um Hilfe. Kam eine andere Kundin mit dem gleichen Dialekt, bemühte sie sich, sie nicht bedienen zu müssen.

    Die Locken an der Wand verschwinden hinter einer braunkarierten Schirmmütze, die blauen Augen hinter einer getönten, goldgerandeten Brille. So ähnlich sah ihr Vater aus, als sie ihn vor Jahren von weitem in den Supermarkt hat gehen sehen. Angesprochen hatte sie ihn nicht, obwohl er allein war, ohne die andere. Ihretwegen hatte er seine Frau mit den vier Kindern verlassen. Die Einnahmen aus dem Geschäft reichten nicht mehr für die ganze Familie, nachdem eine große Lebensmittelkette auch eine Filiale in der Nähe eröffnet hatte. Schon die letzten fünf Jahre hatte ihr Vater nebenbei für eine Versicherung gearbeitet und war abends oft unterwegs, kassierte persönlich die Beiträge und versuchte im Gespräch, weitere Versicherungen abzuschließen. Beschwerte sich die Mutter über sein langes Fortbleiben, begründete er es meist damit, dass er kurz vor Abschluss einer Lebensversicherung stünde. Und je höher die Versicherungssumme war, desto größer war seine Provision, die er oft noch mit dem Kunden teilte, um ihn zur Unterschrift zu bewegen. Am Monatsende saß der Vater mit hochrotem Kopf über der Abrechnung, die er bis zum zehnten eines neuen Monats bei der Versicherung abgeben musste. Fast jedes Mal ging die Rechnung nicht auf.

    Ich kann das einfach nicht verstehen. Das gibt es doch nicht, murmelte er erschöpft vor sich hin.

    Niemand wagte dann etwas zu sagen. Die Mutter bekam rote Flecken am Hals, stöhnte leise vor sich hin. Einige Monate zuvor hatten sie aus der eigenen Kasse draufzahlen müssen. Dieser Vorfall prägte sich bei Marleen ebenso als großes Unglück ein wie der Schrei der Mutter und ihr lautes Schluchzen, als die große Fensterscheibe bei einem Sturm zersplitterte. Nach langen Gesprächen mit dem Gruppenleiter der Versicherung, den die Mutter wegen seiner Begabung zu reden und ihr Komplimente zu machen bewunderte, stimmte sie widerwillig den Plänen der Männer zu. Der Vater sollte ganztägig als Vertreter der Versicherung arbeiten. Allein hätte er sie nie überzeugen können, denn ein geringer monatlicher Festbetrag und der Rest auf Provisionsbasis war für sie nicht die Grundlage einer soliden Tätigkeit.

    Gut, ich vertraue Ihnen, dass Sie sich um ihn kümmern und ihm bei der Abrechnung helfen, sagte sie zu dem Gruppenleiter, denn ich kenne meinen Mann.

    Zweimal in der Woche fuhr der Vater jetzt zur Fahrschule in die Stadt, und drei Monate später stand er aufgeregt mit dem weißen VW-Käfer, ein Wagen der Versicherung, vor der Tür. Am Sonntag zuvor stritten sich die Eltern. Die Mutter sagte, dass der Vater das Auto einmal in der Woche waschen und polieren müsse. Mit so einem Drecksding könne er nicht bei den Kunden vorfahren. Der Vater meinte, sie könnten sich abwechseln, schließlich würden sie an Wochenenden ihre Geschwister mit dem Auto besuchen.

    Ich habe mit dem Laden wohl Arbeit genug, fuhr sie ihn an.

    Er verwies mit hochrotem Kopf auf die Nachbarn von gegenüber, die jeden Samstagnachmittag ihre Isetta wuschen. Er mit Schlauch und Bürste, und sie polierte die Chromteile mit einem Lappen bis sie glänzten. Morgens brauchten die Nachbarn rundherum keinen Wecker. Pünktlich um halb sechs röchelte der Motor, jaulte auf, erstarb wieder. Der Anlasser schnarrte in höchsten Tönen, bis die Zündung ansprang und der Motor aufheulte. Zuvor spuckte und knallte der Auspuff und ließ den Schäferhund wütend bellen. Im Winter schoben zwei Nachbarn das Auto an, damit alle zusammen pünktlich zur Arbeit kamen. Diese laute morgendliche Zeremonie ersetzte Marleen die Kirchenglocken. Später, als sie nicht mehr zur Morgenmesse ging, verfluchte sie die Scheißkiste und zog sich die Bettdecke über den Kopf.

    Als der Vater mit dem neuen Auto vor dem Haus stand, stiegen die Kinder nach einem kurzen, heftigen Streit zwischen den Eltern ein und fuhren in die Kleinstadt zum Eis essen. Die Mutter setzte sich erst Wochen später neben den Vater ins neue Auto, nachdem er auf ihren Vorschlag eingegangen war, ihre Verwandten zu besuchen. Die Familie müsse jetzt zusammenhalten, sagte die Mutter.

    Ihr seht ja, dass euer Vater ständig unterwegs ist.

    Abends musste der Laden gefegt und gewischt werden. Sie mussten Waren auspacken und einsortieren, die leeren Flaschen ins Lager bringen. Was sie nach Ladenschluss nicht schafften, erledigten sie morgens vor der Schule. Trotzdem ging Marleen noch ein weiteres Jahr fast jeden Morgen in die Frühmesse. Schaffte sie es einmal nicht, fühlte sie eine Leere in sich und erwartete sehnsüchtig den nächsten Morgen. Der Vater kam meist in der Mittagspause von zwölf bis drei zum Essen nach Hause, dann fuhr er wieder und blieb bis spät abends. Als er eine Woche mittags nicht kam, sagte die Mutter spitz, der bekomme sein Mittagessen wohl woanders mit Nachtisch. Die Mutter hatte nun noch weniger Zeit, sich um die Kinder zu kümmern. Was Unkeuschheit ist, wagte Marleen die Mutter nicht zu fragen. Die wenigen Abende, an denen der Vater jetzt zu Hause war und sie zusammen aßen, herrschte gedrückte Stimmung bei Tisch. Marleen konnte kaum etwas essen. Und die lähmende Stille nach den immer häufigeren Streitereien der Eltern fraß sich in ihren Eingeweiden fest.

    Du zerstörst noch die ganze Familie, zischte die Mutter dem Vater zu, als Marleen kreideweiß aus dem Zimmer ging, um sich zu erbrechen.

    Vor acht Jahren hatte sie ihn zuletzt gesehen. Was hatte sie ihm noch alles sagen wollen. Sie stand vor seinem offenen Sarg. Da spürte sie, dass sie nie einen Vater gehabt hatte, jedenfalls nicht einen, wie sie ihn sich immer vorgestellt hatte, nachdem er einige Jahre aus dem Haus gewesen war. Und das leidende Gesicht der Mutter. Marleen hatte es einfach nicht mehr ertragen.

    Er hatte eine leicht rötliche Hautfarbe. Die zwei kleinen Grübchen über den Mundwinkeln lassen ihn mit geschlossenen Lippen schmunzeln. Er scheint jemandem interessiert zuzuhören. Was war das neben seinem Kopf? Ein großer, dunkler Rahmen, in sich noch einmal in viele kleinere aufgeteilt, darin bunte, verschwommene Farben. Interessant die Aufnahmen mit diesem neuen Gerät, besonders der Hintergrund gibt den Gesichtern eine heilige Ruhe. Jetzt wusste sie, wo er stand. Vor dem Schaufenster mit den vielen Fernsehgeräten, jeweils fünf über- und fünf nebeneinander. Die fünfundzwanzig einzelnen Bilder verschmolzen zu einem einzigen Bild. Wie eine Leinwand im Kino. Dann wieder alles unterschiedliche einzelne Bilder. Graue Bartstoppeln sprossen aus dem Kinn unter der Schirmmütze. In den letzten Jahren hatte sie sich auf Männerhaarschnitte spezialisiert. Auf die Frage eines älteren Kunden, ob sie ihn auch rasieren könne, sah sie ihre Chefin fragend an. Aber mit dem ständig gleichen Lächeln, ihren neuen, weißen Zähnen und der singend sanften Stimme antwortete die:

    Das wollen wir nicht auch noch machen, Marleen, wir sind doch in erster Linie ein Damensalon.

    Mit der Zeit kamen immer mehr Männer, die sich von ihr die Haare schneiden lassen wollten.

    Sie wollen zu Marleen, ja aber gerne, sang die Chefin, nehmen Sie doch noch einen Moment Platz.

    Viel mehr sollten es jetzt aber nicht werden, sagte sie, als an einem Tag drei Kunden in den Salon kamen.

    Die Männer waren eine wohltuende Abwechslung. Die Frauen kannte sie fast alle. Sie wurden zusammen alt. Mit den männlichen Kunden kamen auch neue Themen, wenn sie überhaupt sprachen. Die meisten kamen nur zum Haareschneiden.

    Die Nachbarin auf dem nächsten Foto erinnerte sie mit ihrem roten Hut an die Schauspielerin, die in dem Fassbinder Film Die Ehe der Maria Braun mit einem schwarzen amerikanischen Soldaten zusammen war. Marleen hatte ihn abends im Kino gesehen, am nächsten Tag kam die Kundin mit dem breiten Dialekt.

    Nach der Begegnung im Schwimmbad hatte Marleen nachts einen Traum. Lange lag sie danach wach im Bett, träumte mit offenen Augen weiter. Morgens erbrach sie sich, würgte alles heraus bis sie nur noch Bitterkeit spürte. Als sie wieder im Bett lag, lockerte sich der große, feste Knoten langsam, und sie wusste, dass sie es jetzt in der Hand hatte, das Knäuel endgültig zu entwirren, wenn sie das Fadenende nicht aus den Augen verlöre. Im Traum hatte sie sich in einem Spiegel als alte Frau gesehen. Ihre Mutter und ihre Chefin rissen abwechselnd an der breiten, grauen Strähne ihres Haares. Was hast du uns angetan, schrien sie. Sie hatte mit ihrem früheren Freund hinter dem Altar gesessen, den Leib Christi noch auf der Zunge. Da öffnete sich eine Tür. Sie stiegen eine Treppe hinunter in einen mit rotem Samt ausgeschlagenen Raum, an Wänden und Decke Spiegel. Plötzlich waren sie nackt und bedeckten sich mit ihren Körpern. War das die große Versuchung, die jeden Rückweg versperrte, oder war es ein Raum vor der Schuld? Sie zogen die Vorhänge zu und saßen auf einem Himmelbett, schmiegten sich aneinander. Sie schlang von hinten ihre Arme um seinen Körper. Oben aus dem Loch schrie jemand so laut, dass sie erwachte und am ganzen Körper zitterte. Mit welchem Recht wurde sie bis in ihre Träume verfolgt. Dieser grausame Gott, dem sie seit Jahren versuchte zu entkommen, mischte sich wieder in ihr Leben, wollte ihr zeigen, dass sie ohne ihn wertlos sei, sie nur durch seine Güte und Barmherzigkeit als Mensch existieren könne. Aber weniger als Nichts konnte sie nicht werden. Entweder würde sie sich auflösen oder nach und nach mehr werden. Ihr Leben war immer noch, obwohl sie seine Macht ignorierte, an Gott gebunden. Jeden Millimeter Leben, den sie sich erkämpfen würde, müsste er um das gleiche Maß sterben. Deshalb wehrte er sich so, drückte sie mit den Schultern auf den harten, steinigen Boden. Sie wusste, Gott war ein Vampir, der von ihrem Blut lebte. Keine Gelegenheit ließ er aus, um seine langen Zähne an ihren Hals zu setzen, sie mit seinen spitzen Fingernägeln zu streicheln bis ihr Lebenssaft, an dem er sich laben wollte, langsam aus ihrem Rücken floss. Jede Gänsehaut auf ihrem Körper und die Angst, er könne ihr die Sünden, die sie im Laufe einer Woche begangen hatte, nicht vergeben, verursachte seine raue Zunge, mit der er ihr das frischgewonnene Leben ableckte. Und die Hand, mit der sie sich gerade etwas aufgestützt hatte, schlug er ihr weg, damit sie die andere nicht nachziehen könne. Jetzt würde Schluss damit sein. Sie würde damit beginnen, ihn Stück für Stück zu töten, seine Machtlosigkeit und Schwäche zu entlarven, ihm langsam den Boden unter den Füßen entziehen. Jeden Tag würde sie das Terrain erweitern. Pflock für Pflock ihre Möglichkeiten neu abstecken, bis er sich geschlagen gibt oder vor Schwäche zusammenbricht.

    Sie beschloss beim Zähneputzen, sich keine Geschichten mehr anzuhören. Jetzt war sie an der Reihe. Und ein paar Stunden später im Friseursalon unterbrach sie die Kundin mit dem breiten Dialekt, als diese anhob, sie wieder zuzuschütten, und erzählte ihr, dass sie am Wochenende einen Schwarzen kennengelernt habe. Ein Hüne von Mann mit breiten, wulstigen Lippen und dunklen, wilden Augen, die sie sanft aber eindeutig ansahen, und Hände so groß, dass in nur einer Hand ihr ganzer Po verschwand. Sie war hingerissen von ihm. Er forderte sie nicht auf. Er nahm wie selbstverständlich ihre Hand und führte sie auf die Tanzfläche, bewegte sich, wie nur Schwarze sich bewegen können.

    Sein Körper war Musik und zog mich in seinen Bann. Der Glanz seiner Augen war mein Spiegel. Wir tanzten die halbe Nacht, verließen, ohne auch nur ein Wort gewechselt zu haben, das Lokal und fuhren zu meiner Wohnung. Sein großer, massiger, schwarzer Körper und meine blasse Haut unter der Dusche, wären ein Kalenderfoto wert gewesen. Wir legten uns nass aufs Bett. Die Wassertropfen perlten auf seiner Haut wie die angestrahlten Traumblasen des Zauberers Pic im Dunkel der Zirkusmanege, vermischten sich schnell mit den Perlen unseres Schweißes, die die Anstrengungen der Liebe aus unseren Körpern trieb. Plötzlich lagen wir im grellen Licht. Die Tür wurde aufgerissen.

    Nein! rief die Kundin entsetzt. Ihr Ehemann?

    Ich bin nicht verheiratet, sagte Marleen, aber mein Freund kam unerwartet früh von einer längeren Geschäftsreise aus Russland zurück. Er nahm die leere Flasche Champagner und zerschlug sie auf dem Kopf des Schwarzen. Oh, my God! stieß er hervor, das einzige, was ich aus seinem Mund gehört habe, außer seinem tiefen, nicht enden wollenden Stöhnen kurz zuvor.

    Stellen Sie keine Fragen, zischte Marleen der Kundin leise zu. Schweigen Sie wie ein Grab. Ich lief davon. Als ich den nächsten Tag von der Arbeit kam und wieder in die Wohnung zurückkehrte, war sie leer. Beide Männer waren verschwunden.

    Marleen hatte sich während des Erzählens selbst nicht wiedererkannt. Sie hörte sich sprechen, sah die gierigen Blicke der Kundin im Spiegel, ihren entsetzten Blick während der plötzlichen Katastrophe, steigerte sich so in die Erzählung hinein, dass sie darin aufging. Nun, nachdem sie einmal gekostet hatte, schmeckte ihr das neue Leben, das sie hervorbrachte, und die treue Kundin ließ nur noch sie erzählen. Sie hörte schweigend zu, aber immer so mitgerissen, dass sie ihrem Schrecken, ihrer Empörung oder Freude freien Lauf lassen musste. Bald wollten auch die anderen Kundinnen nicht mehr über ihre kleinen Alltagsprobleme sprechen und mit ihren Wehwehchen getröstet werden, sondern Geschichten aus dem Leben hören. Sie sollten sie bekommen.

    Der Kundin mit dem breiten Dialekt erzählte sie fast immer nur Liebesgeschichten. Eine hatte sie aus einem Roman. Ein junges Paar verbrachte die erste Nacht miteinander. Beide waren verlegen und scheu. Sie saßen auf der Bettkante und wagten nicht, sich auszuziehen oder einen Anstoß dazu zu geben. Das Mädchen erzählte eine Geschichte.

    Hinter einem Busch hatte sie im Gras gelegen. Die beiden Jungen hatten ihr den Pullover bis zum Hals hochgeschoben. Mit Schlüpfer und Strumpfhose kamen sie nicht weiter als bis zu den Knien. Sie standen links und rechts über ihr, warfen eine Münze, wer beginnen solle. Sie lag da und rührte sich nicht und sah in die ziehenden Wolken. Die Jungen lachten unsicher, legten ihr je ein Geldstück auf die Brustwarzen und sagten, dass sie es nicht umsonst zu machen brauche. Der Kleine legte sich auf sie, zog sich im Liegen die Hose runter, rieb hastig mit dem Unterkörper auf ihrem Schenkel. Sie spürte sein steifes Glied. Er versuchte, zwischen ihre Beine zu kommen, wollte sie auseinanderdrücken.

    Sie sah den Großen über sich grinsen, die Hand in der Hosentasche. Der Kleine grunzte leise, und sie spürte eine warme Flüssigkeit auf ihrem Bauch. Scheiße, flüsterte er, zog sich die Hose noch im Liegen hoch und lief fluchend davon. Der Große rufend hinterher. Sie rupfte Gras, wischte sich das Sperma vom Bauch und wurde diesen Geruch nicht mehr los.

    Der Junge legte jetzt schüchtern seinen Arm um das Mädchen. Marleen erzählte immer weiter. Es war das erste Mal, dass sie in eine Geschichte auch etwas von sich mit eingebaut hatte.

    Nachdem Trautmar vor einigen Monaten gehört hatte, dass nebenan die gleiche Musik gespielt wurde und sogar im Gleichklang mit der seinen, war er sicher: sie sieht meine Bilder. Seine Hände begannen vor Aufregung zu zittern, als er den Schalter in die Hand nahm, um das nächste Dia folgen zu lassen. Auf Zehenspitzen ging er zur Wand, legte seine feuchtgewordenen Handflächen auf die Tapete und lauschte den Geräuschen von nebenan.

    Na mach schon weiter, hörte er leise, schlich zum Projektor zurück und kam ihrer Aufforderung nach. Jetzt bekamen seine Dias einen Sinn.

    Er hörte sie morgens aus dem Haus gehen und abends um sieben Uhr heimkehren. Montags hatte sie frei. Von jetzt an hielt er sich an feste Zeiten. Er wollte ihr zeigen, was sie tagsüber nicht sehen konnte. Fotografierte Nachbarn, begleitete sie mit dem Fotoapparat in Geschäfte, zum Markt, auf Ämter und in den Park, sogar zu manchem Arbeitsplatz. Die wöchentlichen Lebensläufe schickte er samstags zum Fotolabor, um sie ihr in der nächsten Woche zeigen zu können. Eröffnet wurde jeder Abend mit der Aufnahme eines Gemäldes, das ihn auf die Idee gebracht hatte, die Dias auf die gegenüberliegende Hauswand zu projizieren. Ein Mann steht vor einer weißen gekachelten Fläche, vielleicht Überbleibsel einer Küche an der hohen, braunen Wand des Nachbarhauses. Wenn er lange auf die helle Fläche sah, wurde aus ihr ein weißes, tiefes Loch.

    Drei Wochen war er fort gewesen, hatte bei seiner Schwester gewohnt, um am Totenbett seiner Mutter wachen zu können. Bevor er fuhr, war er der Nachbarin eine Woche lang morgens heimlich gefolgt. Ein paar Tage, nachdem sie sich im Schwimmbad unerwartet gegenübergestanden hatten. Er wollte ihren Arbeitsplatz kennenlernen. Er lieh sich Geld, kaufte ein neues Objektiv für den Fotoapparat, mit dem er näher herankam. Fotografierte durchs Schaufenster, folgte ihrer Chefin und ihren Kolleginnen. Auch die Gesichter der Nachbarn konnte er jetzt ungestörter fotografieren und die Linse in Ruhe einstellen. Er kannte ihre Gewohnheiten, ihre Wege, musste nur ein wenig Geduld aufbringen, um ihnen immer näher zu kommen. Heute Morgen hatte er sich einen neuen Projektor gekauft.

    Noch zwei Dias, dann kam das erste Foto von dem Haus und der Straße, wo er aufgewachsen war. Er stand auf und drehte die Musik lauter.

    Luft! Luft! / Mir erstickt das Herz! /

    Öffne! Öffne dort weit!

    Frisch

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