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Freeland
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eBook308 Seiten4 Stunden

Freeland

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Über dieses E-Book

Ein 30 Jahre alter Mordfall, und irgendwann kehrt jeder Täter an den Ort der Tat zurück. Das glaubt zumindest Marijke, die als kleines Mädchen den Mord an ihrer Schwester auf der Insel Vlieland mit anhören musste. – Drei Mitvierziger auf Revivaltour, und die Träume der Jugend sind schon lange verblasst. Das glauben zumindest Sven, Fred und Tom, aber war nicht auf Freeland schon immer alles etwas anders gewesen?
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum23. Jan. 2015
ISBN9783738037388
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    Buchvorschau

    Freeland - Markus Vieten

    Vlieland, Sommer 1983

    Wenn nur endlich die Schreie aufhören würden.

    Sie hatte die Augen fest zusammengekniffen. Mit beiden Händen hielt sie sich die Ohren zu, den Kopf drückte sie in einen Stapel Decken, der neben ihr auf dem Boden lag. Es nützte nichts. Noch immer hörte sie die Schreie ihrer Schwester. Es war reiner Zufall, dass sie hier in der Ecke zwischen ein paar alten Fahrrädern und Kisten hockte. Am morgen hatte Marijke eine kleine Maus gefunden. Ganz zutraulich war sie, aber auch schwach, vielleicht krank. Sie brauchte ihre Hilfe. Sie hasste es, wenn die Eltern Mausefallen aufstellten. Sie hasste auch die Katzen, die Mäusekörper stückchenweise im Haus verteilten. Sie konnte Katzen nicht ausstehen.

    Sie hatte sich mitten in der Nacht aus dem Bett geschlichen, um nach ihrer kleinen Freundin zu sehen. Sie musste ganz leise sein. Ihre Eltern durften nichts merken. Aber sie musste diese Maus, ihre Maus, einfach retten. Also ging sie mit einer kleinen Taschenlampe in die Scheune, um nachzusehen, ob die Maus den Käse angenommen hatte, den sie ihr gebracht hatte. Der Käse war weg, aber auch die Maus sah sie nicht, und plötzlich hörte sie Stimmen, die sich rasch näherten.

    Erschrocken schaltete sie die Taschenlampe aus. Sie erkannte die Stimme ihrer Schwester Els, die mit jemandem sprach. Sie keuchte. Die Schuppentür wurde aufgerissen. Ein Mann redete auf sie ein. Marijke verstand kein Wort. Es hörte sich an, als würden sie kämpfen. Marijke traute sich nicht hinzusehen. Dann waren da das Keuchen und dann die Schreie. Marijke hatte Angst. Sie fasste all ihren Mut zusammen und lugte vorsichtig um die Ecke des Regals. Els lag vornüber gebeugt auf dem großen Tisch in der Mitte des Schuppens zwischen leeren Marmeladengläsern, Töpfen mit vertrockneter Farbe, alten Lappen und Kartons mit Sachen, die irgendwann irgendwo eingeräumt werden sollten. Marijke verkroch sich wieder hinter dem Regal. Sie hielt sich die Ohren zu und betete, dass es endlich vorbei sein möge. Wie aus weiter Ferne vernahm sie manchmal ein Rumpeln und immer die erstickten Schreie ihrer Schwester. Dann quietschte die Schuppentür und es war total still. Langsam nahm sie wieder die Hände herunter. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Vorsichtig schob sie den Kopf vor. Sie konnte die Beine ihrer Schwester sehen, die regungslos über der Werkbank lagen, wie tot.

    Sie wollte sich aufrichten, um nach Els zu sehen, als sie erneut Schritte hörte. Vielleicht hatte der Mann sie doch bemerkt und kam jetzt zurück, um auch sie zu töten. Panisch flüchtete sie durch die alte Schweineklappe in der Rückwand der Scheune ins Haus zurück. Wenn sie im Bett einfach die Augen zumachte, wäre morgen früh vielleicht alles wieder gut. So war es bisher immer gewesen. Ihre Maus musste jetzt allein klar kommen.

    Marijke riss die Augen auf. Wieder ein Schrei. Schrecklich laut, durch Mark und Bein. Die Angst aus der Nacht war sofort wieder da, es hatte nicht geholfen.

    Zuerst glaubte sie, wieder ihre Schwester zu hören, doch dann erkannte sie die Stimme ihrer Mutter. Sie zog sich die Decke über den Kopf. Wie durch Watte hörte sie jemanden über den Platz laufen. Solche festen Schritte machte ihr Vater. Die Neugier war jetzt stärker. Sie stieg aus dem Bett und schaute mit klopfendem Herzen herunter auf den Hof. Alles war in Aufruhr. Der Vater lief hin und her, die Mutter hielt sich den Kopf, als drohe er auseinanderzufallen. Dann sprach ihr Vater mit jemandem, wahrscheinlich am Telefon. Sie hörte die Worte Notarzt und Polizei. Langsam öffnete sie die Zimmertüre. Ihr Vater klang verzweifelt. Els Name fiel.

    Als sie zögerlich ein paar Stufen die Treppe heruntergegangen war, erblickte ihr Vater sie und kam ihr entgegen. Er hob sie auf seine starken Arme.

    „Es ist etwas Schreckliches passiert, mein Schatz. Die Els…", doch weiter kam er nicht. Er schluchzte, vergrub sein großes, kratziges Gesicht an ihrem Bauch. Ihr Vater weinte. Er drückte sie so fest, dass sie einen Moment befürchtete, keine Luft mehr zu bekommen. Dann setzte er sie vorsichtig wieder auf den Fußboden. Sein Gesicht war nass von Tränen.

    „Ich muss mich jetzt um einiges kümmern, auch um Mama, Schatz, sei so gut, nimm Dir selbst etwas zum Frühstück." Er hatte sich zu ihr heruntergebeugt, strich ihr sanft über das blonde Haar. Liebevoll lächelte er sie durch sein tränennasses Gesicht an.

    „Papa!"

    So hatte sie ihren Vater noch nie erlebt, so stark, so schwach, so traurig. Etwas Schlimmes war passiert, mit Els. War sie wirklich tot?

    Er kehrte ihr den Rücken zu und verließ das Haus, ohne sich noch einmal umzusehen.

    1

    Sein Herzschlag langweilte ihn. Er klopfte ewig gleich in seiner Brust, mal im Hals oder in den Ohren. Frau Seipold saß ihm gegenüber, redete und redete, aber er hörte sie nicht. Er setzte einen mitfühlenden Blick auf und versuchte, im richtigen Moment zu nicken und gelegentlich den Kopf zu schütteln. Meistens passte beides, irgendwie. Besonders bei jemandem wie Frau Seipold. Sie wirkte mit ihrer Handtasche, dem grauen Rock und der Einkaufstasche neben sich so alt. Ihr Geburtsdatum auf der Karteikarte verriet jedoch, dass sie nur wenige Lenze mehr auf ihrem beginnenden Buckel hatte, als er selbst, wofür er sie am meisten verachtete. Sie schüttete ihm ihr Herz darüber aus, dass sie den Kontakt zu ihrer Tochter und dem Enkelkind verlor. Diese Frau mit ihrer Osteoporose und ihrer Verstopfung stand für Alter, Leid und Klagen. Damit hatte Fred nichts zu tun, das war ein anderes Leben. Seines hatte doch gerade erst angefangen, dachte er, bis er am nächsten Spiegel vorbeikam.

    „Wenn ich mit ihr telefoniere, ist es, als redete ich mit einer Wand." Sie schaute auf ihre Hände, die ein unruhiges Eigenleben am Saum ihrer Strickjacke führten.

    Fred nickte ernst. In Gedanken war er beim Abendessen. Früher hatte er gerne gekocht, mit Caro in der ersten Zeit auch gerne zusammen, abends, wenn die Kleine im Bett war. Aber jetzt, wo Danni pubertierte, aß sie einem die Haare vom Kopf – Mädchen hin oder her. Und manchmal war am Abend für ihn nur noch der Rest in den ungespülten Töpfen vom Mittag übrig oder es gab ein Fertiggericht. Fred tat dann so, als reichte es ihm. Einer dieser vielen Kompromisse, die ihm allmählich das Leben vermiesten. Vielleicht würde er sich einen dieser großen italienischen Salate kommen lassen. Es war warm draußen, schon fast ein Sommertag, dann schmeckte das Grünzeug besonders gut. Von diesem Gedanken war es auch nicht mehr weit zu seinem Therapievorschlag – intuitive Medizin.

    „Ich werde Ihnen ein pflanzliches Präparat verschreiben, damit Sie besser einschlafen können. Und – versuchen Sie daran zu arbeiten", sagte Fred, wobei er Frau Seipel tief in die Augen blickte.

    „Ja, Herr Doktor, vielen Dank. Soll ich dann in zwei Wochen wiederkommen?"

    „Ja, unbedingt! Lassen Sie sich vorne von Evelyn einen Termin geben."

    „Ist gut, Herr Doktor, und nochmals vielen Dank." Sie ergriff mit beiden Händen seine rechte.

    In diesem Augenblick öffnete die Arzthelferin die Türe.

    „Ich wollte doch heute etwas früher Schluss machen, Chef…."

    „Ja, ja, gehen Sie nur. Ich schließ´ dann alles ab."

    Evelyn führte die Frau zur Anmeldung.

    Fred tippte noch ein paar Notizen in den Computer. Wenig später hörte er, wie beide die Praxis verließen.

    Dann war es totenstill.

    Wieder ein Tag vorbei.

    Sein Leben hatte erstaunlich an Fahrt gewonnen. Nicht dass er vom Auf und Ab des Schicksals geschüttelt wäre, im Gegenteil: Seine gleichförmigen Tage schossen pfeilschnell durch die Zeit. Es kam ihm manchmal so vor, als bewegte er sich in der Zeit beliebig vor und zurück – Traum aller Science-Fiction-Fans. Denn obwohl seine Helferin gerade erst fort war, hatte er eigentlich schon wieder die Zahnbürste zwischen den Zähnen, die den Tag beendete. Dazwischen würde auch nichts Überraschendes passieren. Es konnte geradeso gut der Tag davor gewesen sein oder der danach. Seine Wochen bestanden eigentlich nur aus zwei Tagen – einem Arbeitstag und einem freien Tag. „Frei" bedeutet dann Danni zu ihren Volleyballspielen begleiten, zum x-ten Mal im Jahr die Heck schneiden (laut Caro angeblich nur zweimal im Jahr, er hatte das Gefühl, es mindestens einmal im Monat zu tun; auch diese verdammte Zeitbeschleunigung) und auf irgendeiner Praxiseröffnung mit uninteressanten Leute uninteressante Dinge reden, doch fernzubleiben hieß, einen potenziellen neuen Partner auszuschlagen, dem er Patienten überwies, die dann wieder einen neuen Termin bei ihm brauchten, um die Ergebnisse von dort zu besprechen. Geldmacherei, aber es gab auch eine Reihe Verpflichtungen. Zumindest die Praxis war dank der vielen Kranken gesund. Medizin war ein Geschäft, besondere Talente waren nicht nötig. Es gab keine Fragen, für deren Beantwortung man geboren sein musste (Wie erlangt man Erkenntnisse über höherdimensionale Welten, wenn man selbst in einer niederdimensionalen Welt lebt?) und man benötigte auch keinerlei Kreativität, nur Selbstdisziplin und ein gutes Gedächtnis. Gut, früher hatte er mal viel Gefühl für seine Patienten aufgebracht, aber das war lange her. Jetzt spulte er sein Programm ab. Er konnte sich zu Tränen rühren lassen und gleichzeitig darüber nachdenken, dass er sich die Fußnägel schneiden musste.

    Aber es gab noch Hoffnung. Denn er wollte noch mal raus. Nur ein, zwei Wochen, ohne Frauen, ohne Kinder und er hatte eine Idee, seit Wochen schon: Vor 30 Jahren war er mit Sven und Tom losgezogen. Gerade 16, zum ersten Mal allein unterwegs und das Ziel war Vlieland. Das klang damals wie ein verheißener Ort: Sommer, Sonne, Strand, viele Leute aus vielen Ländern, die Musik von holländischen Radiostationen, bei denen die abgefahrenen Platten aus Übersee immer irgendwie zuerst landeten (und dann nicht weitergereicht wurden), entspanntes Grasrauchen und Mädchen, Mädchen, Mädchen. Und weil das alles mehr Freiheit war, als Fred, Tom und Sven kannten, tauften sie die Insel gleich „Freeland („Vlieland war wahrscheinlich ohnehin einem Aussprachefehler ehemals chinesischer Kolonialherren geschuldet).

    Heute ließ sich das schnell „ausgoogeln: westfriesische Insel, 1100 Einwohner, 4000 Hektar, keine Autos – bis auf einige von Einheimischen. Klickt man auf „Bilder, hat man schon beinahe alles gesehen und reist nur noch zur Bestätigung dahin, wenn überhaupt. Ein weiterer Link zeigt die Wettervorhersage, ein Satellitenbild und mit der nächsten Fingerbewegung wird eine Webcam aktiviert, die ohne Unterbrechung den Hafen filmt.

    Fred blendete das alles aus. Er erinnerte sich genau, welche Platten er damals rauf und runter gehört hatte. So nuschelte er irgendetwas zu Caro und verzog sich dann in sein Arbeitszimmer, wo er die Musik auflegte. Er breitete eine Landkarte aus und fuhr mit dem Finger die geplante Route nach, so wie er es damals gemacht hatte, als die Zukunft nur aus saurem Regen und Atomkrieg bestand, aber die Gegenwart der Hammer war.

    2 Vlieland Sommer 1983

    Marijke hatte Angst. Els war tot und sie wusste nicht, was das jetzt bedeutete. Keiner schien für sie da zu sein. Alles drehte sich nur noch um Els, obwohl sie nicht mehr da war und nie wiederkommen würde. Und wer kümmerte sich um sie!? Ihre Eltern waren mit Weinen und Schreien beschäftigt, sprachen ständig mit irgendwelchen Leuten, die kamen und gingen, Fragen stellten, fotografierten. Ab und zu sah mal jemand nach ihr, aber wenn sie hinaus wollte, führte ihr Vater sie sanft aber bestimmt zurück. Also schlich sie sich durch die Küche hinten heraus und ging ums Haus herum. Sie hielt sich versteckt, blickte nur kurz um die Hausecke und sah die gleiche Szene, die sie kurz zuvor noch von oben aus ihrem Fenster betrachtet hatte. Dann war es nicht mehr weit bis zum Hintereingang der alten Scheune, wo das Schreckliche passiert war.

    Wie ging es wohl ihrer Maus? Wer kümmerte sich um sie? Im Nu war sie am Hintereingang und kroch in die Scheune. Sie hörte die Stimmen durch den alten, vollgestellten Holzverschlag. Sie klangen etwas weiter weg. Das Käsestückchen, das sie ihrer Maus hingelegt hatte, war verschwunden, doch die Maus selbst ließ sich nicht blicken. Bestimmt hatte sie auch Angst bekommen.

    Sie schaute sich um. Alles sah so aus wie zuvor, aber es fühlte sich anders an. Sie riskierte einen Blick, sah das Eingangstor. Niemand da. Sie wagte sich aus ihrem Versteck und ging quer durch die Scheune zu der Stelle, wo ihre Schwester gestorben war. Auf dem mit Spänen und Staub übersäten Holztisch waren mit weißer Kreide die Umrisse ihrer Schwester aufgezeichnet worden. Sie erstarrte. Sie konnte den Blick nicht mehr abwenden. Ihr Kopf war leer gefegt, es gab keine Gedanken. Jetzt war doch eigentlich genug Platz da, um das Geschehene aufzunehmen, aber es war zu groß für ihren kleinen Kopf.

    Ein Schatten erschien in der Tür, der sie wieder in die Welt zurückholte.

    „Was machst Du denn hier?", sagte die Stimme und der Mann kam auf sie zu, wie ein Schemen im Licht der inzwischen hoch stehenden Sonne. Sie wollte wegrennen, doch ihr Blick fiel auf etwas Buntes am Rand eines Tischbeins im Schmutz zwischen Heuresten, Sägespänen und dem nur nachlässig weggefegten Staub.

    Ohne nachzudenken ergriff sie es und rannte wieder nach hinten, um durch die kleine Tür aus der Scheune zu schlüpfen. Die Stimme rief wieder nach ihr, streng und scharf, doch dann sagte jemand, sie sei die Schwester und würde das alles noch nicht verstehen. Der Mann sah sie und lief auf sie zu. Auch ihr Vater stand dort, im Hintergrund, unbewegt, also rannte sie wieder durch die Küche ins Haus und hoch in ihr Zimmer. Sie setzte sich in ihre Höhle aus ein paar Kissen und einer Decke. Da fühlte sie sich sicher. Niemand konnte sie sehen. Sie zog das bunte Bändchen hervor, das sie gefunden hatte, und untersuchte es eingehend: sechs nebeneinander liegende Reihen kleiner bunter Perlen und an beiden Enden zwei Fäden. Damit konnte man es sich wohl umbinden, und zwar um das Handgelenk.

    Und jetzt wusste sie auch, wo sie so ein Band schon einmal gesehen hatte. Es war am Tag zuvor gewesen, als sie am Eingangstor gespielt hatte. Da kamen die drei Großen auf den Fahrrädern und waren nett zu ihr gewesen. Einer von ihnen hatte auf jeden Fall so ein Band getragen, vielleicht sogar zwei der Jungs.

    Sie mochte nicht mehr an ihre tote Schwester denken. Also rannte sie wieder aus dem Haus, warf noch einen Blick auf ihre weinende Mutter, und dann über den Platz durch das offene Tor, das den Campingplatz von ihrem Privatgrundstück abtrennte. Schon bald gelangte sie zu den ersten Zelten. Ganz nah am Haus campierte fast nie jemand. Die Leute wollten nicht so weit zum Geschäft laufen müssen, das hatte sie schon oft gehört. Aber dann war sie auch schon umgeben von vielen jungen Menschen. Die meisten beachteten sie gar nicht, einige lächelten ihr zu, meistens große Mädchen und manchmal strich auch eine über ihr Haar, fragte nach ihrer Mama oder ihrem Papa. So auch diesmal und Marijke sagte, meine Schwester ist tot. Das Mädchen schaute erschrocken, und sagte dann etwas wie: „Damit macht man aber keine Scherze, hörst du?" oder so ähnlich, nur um dann gleich wieder zu lächeln. Die drei Jungs sah sie nicht, auch wenn es viele gab, die zuerst so aussahen, aber dann waren sie es doch nicht. Der eine hatte viele dunkle Locken gehabt, das wusste sie noch. Als sie den ganzen Platz überquert hatte, stand sie wieder am Ausgangstor, wo sie die drei getroffen hatte.

    An ihre Schwester dachte sie jetzt nicht mehr, sondern nur daran, was sie mit dem Band machen sollte. Dann fiel ihr wieder ein, was sie beobachtet hatte, den vergrabenen Schatz. Ob sie den Platz wohl wiederfinden konnte?

    Sie verließ den Campingplatz über den asphaltierten Weg und bog dann rechts in den Waldweg ein, auf den auch die drei mit dem Rad gefahren waren, dann weiter zu der Abzweigung über Sand und Nadeln. Manchmal rutschten einige der Nadeln zwischen Fußsohle und Sandalen. Sie hielt das Bändchen fest in der Hand und betrachtete es immer wieder. Sie verbannte jeden Gedanken daran, wo sie es gefunden hatte und warum ebenso aus ihrem Gehirn, wie die Gedanken an ihre Schwester.

    Viel interessanter war jetzt der Schatz. Einen Schatz vergrub man, um etwas sicher zu verstecken und es später einmal wiederzuholen. Also musste sie das Bändchen nur zu dem Schatz legen, und derjenige, der es verloren hatte, würde es dort irgendwann vorfinden. Sie folgte dem Weg, den die drei genommen hatten, und im Gegensatz zu ihnen, musste sie sich nicht die Zahl der Pflöcke rechts und links und der Bäume am Wegesrand merken, um die Stelle zu finden. Jeder Meter war ihr vertraut. Ein heimlicher Blick zwischen den Bäumen hindurch hatte genügt, um sich die Stelle einzuprägen. Eigentlich hatte sie sowieso sofort nachsehen wollen, was sie dort vergraben hatten, aber das durfte sie bestimmt nicht. Wenn sie allerdings etwas dazu legen wollte und zwar mit den allerbesten Absichten, dann wäre es unvermeidlich nachzuschauen, was eigentlich dort versteckt war.

    Als sie an der Stelle angelangt war, schaute sie sich nach etwas zum Graben um und fand einen kleinen Ast, der geeignet schien. Sie wusste nicht genau, welche Stelle die Jungs zwischen den Bäumen gewählt hatte und entschied sich einfach für die Mitte.

    Also fing sie an, mit ihrem Stück Rinde den weichen und sandigen Boden aufzugraben. Schon bald wurde er etwas feuchter und schwerer, gerade so, als buddele man am Strand. Dann stieß sie auf das Päckchen und holte es heraus. Es war in ein Plastiktütchen eingewickelt und darin in silbriges Schokoladenpapier. Sie drückte darauf. Es fühlte sich ein wenig wie Knetgummi an. Vielleicht etwas zu Essen? Oder etwas Giftiges? Warum sollte man hier so etwas vergraben? Aber die Vorstellung nach etwas zu Essen gefiel ihr gar nicht. Sie hatte sowieso genug Ärger zuhause, weil sie nie das mochte, was Mama kochte. Eigentlich mochte sie nur Fritten.

    Sie würde das Band einfach dazulegen und das Ganze wieder zuschütten. Sie konnte das Bändchen auch wie ein zusätzliches Band darum wickeln. Knoten konnte sie schon sehr gut, hatte auch Els immer gesagt. Dann fiel ihr alles wieder ein.

    3 Sommer 1983

    Nur noch wenige Tage bis zur Abfahrt. Fred hockte wieder über der Landkarte gebeugt auf dem Boden. Er, Tom und Sven planten einen gemeinsamen Urlaub: eine Radtour durch Holland, über Amsterdam nach Vlieland. Kein Jugendlager, keine Betreuer, keine Eltern. Nach langen Diskussionen zwischen Bier, Gyros und Billardtisch hatten sie sich dazu entschieden, kein Dope mit über die Grenze zu nehmen. Zu Gefährlich. Die Grenzen waren noch richtige Grenzen, und beim Thema Haschisch verstanden nur die Kiffer Spaß. „Eigenbedarf" war allenfalls ein Thema beim Mieterschutzbund.

    Aber jetzt war für drei Wochen Schluss mit Grenzen. Schließlich ging es ins Land der unbegrenzten Coffeeshops, wo Tag und Nacht lustige, blondgezopfte Käseverkäuferinnen in Holzschuhen an Grachten saßen und aus kleinen Tonpfeifen Haschisch rauchten.

    Bis es so weit war, mussten aber noch einige Kilometer bis Amsterdam zurückgelegt werden. Und bis dahin ohne Dope? Oder schmuggeln? Die Drei hatten das Thema ausgiebig diskutiert. Im Fahrrad verstecken? Da gab es diese Hunde, die Haschischreste noch an Fingernägeln rochen, die schon zweimal abgeknabbert waren. In kleine Glasröhrchen einschweißen? Könnte funktionieren, die wären wohl geruchsdicht. Nur wusste niemand, wie das gehen sollte. Wurde denn überhaupt bei der Einreise nach Holland aus Deutschland kontrolliert? Eulen nach Athen? Man konnte nie wissen.

    Tom machte einen Vorschlag, der zunächst wie eine Lösung aussah.

    „Wir nehmen ein Stück Seife. Da stecken wir es hinein. Das riechen auch die Hunde nicht!"

    „Geil", sagte Sven.

    „Geil", sagte Fred.

    „Aber wie kriegen wir es hinein?"

    „Mit so einem Gerät, mit dem man Äpfel entkernt. Haben wir zu Hause."

    „Und dann?"

    „Dann holt man einen Seifenstab von etwa sechs oder sieben Zentimetern Länge und einem Zentimeter Durchmesser heraus...."

    „... schneidet ihn ab...."

    „... und füllt die Seife mit Dope!"

    „Genial!"

    „Super!"

    „Aber, Moment, Tom. Wenn man diesen Seifenzylinder wieder in die Öffnung steckt und alles ausgiebig verreibt, die Seife meinetwegen noch ein paar Mal benutzt, bleibt da nicht immer dieser Ring an der Seite des Seifenstücks, ganz gleich, wie viel Seife man herunterschrubbelt?"

    „Und wenn ein Bulle gut sucht und das sieht, haben sie uns."

    „Dann ist der Urlaub vorbei."

    „Das gibt Ärger."

    „Vielleicht fliegen wir von der Schule."

    „Oder Jugendstrafe! Studium ade."

    „Führerschein auch."

    „Dann müssen wir uns wohl von dem Gedanken verabschieden, etwas mit herüber zu nehmen", fasste Sven die Planungen zusammen, auch wenn Tom noch nicht davon ablassen wollte.

    „Ich halte es auch für besser, wenn wir bis Amsterdam warten", sagte Fred. Damit hatte sich ihre Dreierkonstellation zum ersten Mal bewährt. Wenn sich alle an die Spielregeln hielten, würde es keine Probleme geben. Mehrheitsentscheide waren immer möglich. Biegt man rechts oder links ab? Geht man in die Kneipe oder erst was essen? Kauft man Gras oder Dope? Rein demokratisch gesehen kein Thema.

    Fred war das alles im Grunde egal. Mit der Freiheit auf dem Fahrrad würde das kleine, flache Land zu einer einzigen Sehenswürdigkeit werden. Arnheim, sicher eine aufregende Stadt, „De Hoge Veluwe"-Nationalpark, einer der ältesten und größten Nationalparks in den Niederlanden. Wald, Heide, Moorland, mit Sicherheit traumhafte Landschaften, Utrecht, die alte Universitätsstadt, voller Studenten und cooler Typen, und dann – Amsterdam!

    Sie hatten eine ganze Wohnung für sich allein, mitten in der Stadt. Keine Jugendherberge, kein billiges Hotel, wo sich im Gang jemand das Zeug in die Venen drückt, während im Nebenzimmer laut angeschafft wurde. Nicht wie bei Christiane F. Nein, eigene vier Wände mit eigenem Schlüssel, Küche, Bad. Das war der Hit! Freds Onkel Lothar war in Amsterdam reich geworden und oft unterwegs. Und wenn jemand seine Wohnung hütete und sich in Amsterdam vergnügte, hatten alle etwas davon. Sie würden Amsterdam unsicher machen, tolle Mädels kennen lernen, viel Gras rauchen und ein paar Tage später hoch nach Freeland!

    4

    Am liebsten wäre er schreiend wieder aus dem Haus gelaufen, als Caro ihm ihr „Wie war dein Tag?" entgegenzwitscherte. Dann fühlte er sich wie der Hauptdarsteller eines Werbespots. Sie würde ihm ein unnachahmliches Fertiggericht vorsetzen und er würde zehnmal die Packung in die Kamera halten, weil er einfach nicht glauben konnte, dass dieser fantastische Geschmack einem Fertiggericht entstammte.

    Manchmal würgte es ihn regelrecht, sich bei der Erfüllung

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