Das Gewicht des Lichts
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Über dieses E-Book
"Nach dem Tod der Mutter begleitete Fabian seinen Onkel auf eine Reise von Wien aus nach Rom. Dort lernte er Lucilla kennen und lieben, und Rom wurde zu seiner neuen Heimat. Doch erschüttert wieder ein Unglück sein Leben, und er zieht nach Ligurien, um Ferienwohnungen seines Onkels zu betreuen. Von Einheimischen und Einwanderern umgeben, versucht er noch einmal, ein neues Leben aufzubauen."
Mit seinen Erzählungen erweist sich Stanislav Struhar als Meister der leisen Töne und der präzisen Beobachtung, der auch in Liebesdingen genau um die Bedeutung des Wartens auf den richtigen Augenblick weiß.
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Buchvorschau
Das Gewicht des Lichts - Stanislav Struhar
7
1
Aus seinen Gedanken riss Fabian das Deutsch der Frau, die neben ihm Platz nahm. Verstohlen sah er sie an. Sein Blick glitt über ihr blondes Haar und verharrte auf dem jungen Gesicht des bei ihr stehenden Mannes, zu dem sie sprach. Langsam drehte er sich zurück zum Fenster, sah wieder hinaus. Er hörte oft die deutsche Sprache, mitunter sogar das vertraute Wienerisch, doch auf eine Unterhaltung ließ er sich selten ein.
Als der Zug in die nächste U-Bahn-Station einfuhr, machte er sich zum Aussteigen bereit. Die Frau sah ihn an und lächelte, nahm die Hand des Mannes und stand auf. Der sei kein Italiener, sagte sie mit gedämpfter Stimme, bevor sie dem Mann zur Tür folgte.
Das Abendlicht war sanft, manche Häuser lagen schon im Schatten, doch die Straßen im Zentrum pulsierten vom Leben, sie waren bunt und laut, eine Vielfalt von Sprachen und Stimmen. Auf der Piazza Navona traten Straßenkünstler auf, und auf dem Campo de’ Fiori waren alle Tische besetzt. Immer wieder übertönte Gelächter die Melodien der Musiker, durch die Gassen wehte der Geruch nach Essen. Von allen Seiten stachen die Lichter aus Fenstern und Laternen in den Abend, Kinder spielten vor ihren Haustüren. Es war der bislang wärmste Tag in diesem Jahr, und die Stimmung ließ erahnen, dass die Nacht lang werden würde.
Es dämmerte, als er über den Tiber schlenderte. Die Uferwege waren menschenleer, unter den dicht belaubten Bäumen kaum erkennbar. Seltsam bedrückend wirkte hier der Abend, so nahe schien der Himmel zu sein, verlassen und trüb die Stadt. Doch schon die erste Straße nach der Brücke, zwischen Häuserreihen gebettet, strahlte in Lichtern; als hätte der Tag gerade erst begonnen, herrschte ein reges Treiben in Trastevere.
Auch diesmal hockten die beiden Obdachlosen an der Ecke der Straße, und wieder lagen vor ihren Füßen zwei große Hunde mit zwei Welpen. Niemand beachtete sie; einander zugewandt lächelten die Männer und murmelten, eine Flasche Wein stand griffbereit zwischen ihren Schlafsäcken. Laut war die Straße, und wie immer hatten sich in dem Gastgarten auf dem nächsten Platz die Jugendlichen getroffen, ihre Stimmen klangen aufgeregt, auf dem Boden glänzten Tropfen von Getränken und Eis. Schon vor dem Platz verdoppelte Fabian seine Schritte, er bog in die Seitengasse ein, öffnete die Haustür und sah noch einmal zu dem Gastgarten. Silvio und Chiara lächelten einander in die Augen, im Gespräch vertieft, ihre Gläser standen leer.
Erst in der Küche machte er Licht, denn das Küchenfenster öffnete sich auf einen kleinen Hinterhof. Später ließ er nur die Tischlampe im Schlafzimmer an. Eine Weile lag er still, schließlich griff er nach dem Buch auf dem Nachtkästchen. Dann wanderte sein Blick zum Nachtkästchen auf der anderen Bettseite. Eine feine Staubschicht überzog das Buch, das darauf lag. Er drehte den Kopf zum Fenster, und in die Dunkelheit des Hofes starrend legte er das Buch auf seine Brust. Seine Hand glitt auf die leere Hälfte des Bettes, und er schloss die Augen.
Das Zimmer lag im klaren Tageslicht. Er öffnete das Fenster und ging auf den Balkon. Er hatte diese lauwarmen und lichtvollen Morgen von Anfang an geliebt, nun aber wusste er, er würde sie nicht mehr länger ertragen. Er kehrte zurück ins Wohnzimmer, setzte sich und nahm sein Handy.
»Endlich!«, sagte sein Onkel. »Ich kann dich nicht erreichen.«
»Ich weiß«, murmelte er, den Blick auf den großen Schrank gerichtet, der im Vorzimmer, gegenüber der Wohnzimmertür, stand.
»Warst du schon bei den Rinaldis?«
»Ich war gestern bei ihnen.«
»Möchten sie das Internetcafé wirklich nicht verkaufen?«
»Nein, Mattia hat es übernommen«, antwortete er, und die Erinnerung daran kam ihm, wie er zum ersten Mal dieses Zimmer betreten hatte; wie Lucilla seine Hand losgelassen hatte und zurück in das Vorzimmer gelaufen war, um das neue Kleid aus dem Schrank zu nehmen.
»Sie sollten es lieber verkaufen«, sagte der Onkel.
»Wie ist denn das Wetter in Wien?«
»Es regnet.«
»Geht es dir besser?«
»Nein.«
»Hast du schon mit deiner Bekannten gesprochen?«
»Deswegen habe ich versucht, dich zu erreichen. Kerstin wird bald alle Wohnungen fertig haben, du kannst dann schon einziehen.«
Während sein Onkel über Ligurien erzählte, starrte Fabian auf die geöffnete Balkontür. Er fühlte sich daran erinnert, wie Lucilla in dem neuen Kleid auf seinen Schoß gefallen war, ihre Arme um seinen Hals gelegt und Fragen über Wien gestellt hatte; wie ihre Stimme schwach geworden war, als sie gefragt hatte, ob er wirklich bei ihr in Rom bleiben wolle.
»Ich komme dich noch besuchen, bevor ich nach Ligurien ziehe«, sagte er, und es läutete an der Haustür. Schnell verabschiedete er sich, legte das Handy auf den Tisch und lief zur Tür. Nicht der Briefträger, wie er geglaubt hatte, sondern Silvio antwortete in die Sprechanlage. An der Wohnungstür grüßte dann Silvio noch einmal, ehe er loslegte:
»Dein Handy ist entweder ausgeschaltet oder besetzt. Ich möchte dich zu einem Picknick einladen.«
»Zu einem Picknick?«
»Ich habe alles mit«, sagte Silvio und deutete auf seinen Rucksack.
Unterwegs fragte Silvio behutsam, ob es bei den Rinaldis lange gedauert habe. Nein, antwortete Fabian, und sogleich entschuldigte er sich, dass er nicht angerufen hatte. Silvio meinte, er verstehe das, und dann erzählte er, dass er seinem Bruder beim Kauf eines Gebrauchtwagens hatte helfen müssen. Als er einen grotesken Zwischenfall schilderte, zu dem es während der Probefahrt gekommen war, lachte Fabian und sagte, er habe Ähnliches mit seinem Onkel erlebt.
Im Park der Villa Borghese wurde Fabian still. Als er zuletzt hier gewesen war, hatten die Bäume geschwiegen, ihre Kronen waren gelichtet und starr. Nun aber war der baldige Einzug des Sommers allgegenwärtig, die grünen Blätter bewegten sich in sanfter Brise, und das Gras war lauwarm, Vögel sangen. Silvio wählte einen Platz, wo es zugleich Schatten und Sonne gab, dann wurde auch er still. Doch wirkte sein Schweigen seltsam unruhig. Als er zwei Plastikbehälter und kleine Flaschen Mineralwasser aus dem Rucksack nahm, fragte Fabian:
»Was würdest du damit machen, wenn ich nicht zuhause gewesen wäre oder keine Lust gehabt hätte mitzukommen?«
»Ich hätte mir bestimmt etwas einfallen lassen«, gab Silvio zur Antwort und öffnete die Behälter.
»Das ist aber lieb von Chiara.«
Silvio lächelte, reichte ihm einen Behälter und sagte, er werde morgen seiner Oma in ihrem Garten helfen müssen. Eine Weile erzählte er über seine Großmutter und die alljährlichen Probleme mit dem Garten, und als sein Behälter leer war und er sich auf den Rücken legte, wurde er wieder still. Dann aber sagte er in die Baumkrone über sich:
»Wir werden dich vermissen.«
»Ich euch auch.«
»Du brauchst Zeit. Du würdest auch hier darüber hinwegkommen.«
»In Rom nicht. Ich schaffe es nicht einmal, auf den Friedhof zu schauen. Am schlimmsten ist es zuhause.«
»Wie viele Wohnungen wirst du eigentlich betreuen?«, fragte Silvio rasch und fuhr sich mit der Hand durchs Haar, das schwarz war und so dicht, dass seine Finger darin verschwanden.
»Fünf.«
»Du kennst wirklich niemanden dort?«
»Nein. Es wird alles neu für mich sein. Aber das ist gut so.«
»Wie ist denn dein Onkel dazu gekommen, in Ligurien Ferienwohnungen zu vermieten?«
»Er wollte schon immer nach Italien.«
»Wie geht es ihm? Kann er schon aufstehen?«
»Nein. Es geht ihm schlecht.«
»Diese verdammten Schlaganfälle«, knurrte Silvio und setzte sich auf. Er trank den Rest Mineralwasser und steckte die leere Flasche samt dem Behälter in den Rucksack. Auch Fabian stopfte Behälter und Flasche in den Rucksack, dann fragte er lächelnd, ob Chiara zuhause lerne. Silvio sah ihn an, auch er musste lächeln. Er schloss den Rucksack und antwortete, dass Chiara sich diesmal vorgenommen habe, das Studium fertig zu machen.
»Lass uns noch ein bisschen spazieren«, sagte er und stand auf.
»Gut.«
»Ich bin wieder arbeitslos«, bemerkte er, nachdem Fabian sich aufgerichtet hatte. »Angeblich kann sich die Firma kein Lagerpersonal mehr leisten.«
Er sparte nicht mit Spot und Ironie, als er über die Firma sprach, und seine Augen funkelten ununterbrochen. Als er dann in einem Gastgarten Cappuccino bestellte, fragte er plötzlich die junge Kellnerin, ob sie vielleicht hier einen Job für ihn habe. Und er hätte weiter gescherzt und gelacht, wenn nicht sein Handy geläutet und seine Großmutter ihn gebeten hätte, ihr Medikamente aus der Apotheke zu besorgen.
Sie verabschiedeten sich schon am Rande des Parks voneinander. Fabian lächelte, winkte noch einmal, dann drehte er sich weg. Er wusste, er werde ihn nicht mehr treffen. Und als er nachhause kam, war er schon fest entschlossen, nicht nach Wien zu fahren, um den Onkel zu besuchen. Er setzte das Handy ans Ohr, fiel auf das Sofa und lehnte den Kopf zurück. Seltsam gedämpft kam die Stimme Frau Rinaldis, leichtes Beben drang in ihre Worte. Mattia brauche die Wohnung doch nicht so dringend, der Vater habe sich missverständlich ausgedrückt, er habe nur wissen wollen, wann ungefähr Mattia sie haben könnte.
»Ich weiß. Aber ich will halt früher nach Ligurien.«
»Du kommst uns nicht mehr besuchen, habe ich recht?«
Er wollte sie nicht anlügen. Denn sie hatte immer Verständnis und ein offenes Ohr für ihn gehabt. Er hörte, wie sie mit den Tränen kämpfte. Er brach das Gespräch ab, legte das Handy auf den Tisch. Lucilla sah ihr ähnlich, auch sie hatte ein hübsches schmales Gesicht und große dunkle Augen, hatte kurzes schwarzes Haar getragen. Beide waren sie sanft und sensibel, doch Lucilla besaß ein kämpferisches Naturell. Das wiederum ähnelte ihrem Vater, und das hatte ihr Vater von ihr zu spüren bekommen.
Langsam legte Fabian sich hin, und sein Blick verharrte auf dem Bücherregal. Er erinnerte sich daran, wie Lucilla ihm zum letzten Mal vorgelesen hatte. Sie hatten es geliebt, einander vorzulesen, ein Buch dem Fernseher vorzuziehen. Ihm war es anfangs unangenehm, wenn er vorlesen musste, seines Akzents und seiner schlechten Aussprache wegen, schon bald aber hatte er daran Gefallen gefunden. In warmen Nächten hatten sie die Balkontür samt Fenster geöffnet, und im Winter hatten in der Wohnung oft Kerzen gebrannt. Manchmal hatten sie sich über die Geschichten unterhalten, hatten versucht, sie zu verändern, hatten überlegt, wie sie wohl weitererzählt werden könnten. Lucilla hatte sich gewünscht, mit ihm gemeinsam ein Buch zu schreiben, über ihr Leben zu erzählen, doch er hatte gefunden, dazu seien sie noch zu kurz zusammen und zu jung. Es gebe doch so viele schmale Bücher, hatte sie widersprochen.
Er überquerte den Fluss und ging zu Piazza Navona, der Tag war sonnig und warm. Er wechselte ein paar Worte mit Alfonso, dem jungen Kellner, bestellte das Essen und sah auf den Platz. Umgeben von Stimmen beobachtete er Menschen, dann aß er langsam. Nach dem Essen nahm er das Handy. Der Hinweis auf einen versäumten Anruf erschien. Mattia wollte ihn sprechen. Ein älterer, elegant gekleideter Mann mit einem großen Hund blieb mitten auf dem Platz stehen, und einige der Gäste in den Gastgärten sahen zu, wie der Hund ein Häufchen legte. Als der Mann sich zu dem Häufchen neigte und es in ein Säckchen entsorgte, kam Gelächter von den Tischen.
»Hat’s geschmeckt?«, fragte Alfonso, und Fabian drehte sich zu ihm. Sehr, antwortete er, lobte seine Küche und bestellte einen Espresso. Lächelnd sah er, wie Alfonso sich entfernte, dann setzte er das Handy ans Ohr. Schon in Mattias Gruß, der in seiner rauen Stimme kaum zu verstehen war, steckte Nervosität. Einer der Computer habe sich nicht einschalten lassen, aber sein Freund habe ihn schon repariert.
»Das passiert eigentlich selten«, sagte Fabian. »Sonst ist alles in Ordnung?«
»An der Tankstelle war schon mehr los.«
Mattia sah seinem Vater ähnlich, er war klein und stämmig, pflegte seinen Kopf kahl zu rasieren. Und wenngleich er eine Enttäuschung für seinen Vater war, da er stets zu den Versagern gezählt hatte, verstand er sich in der Familie am besten mit ihm. Das Internetcafé war für Mattia angeschafft worden, doch hatte es nicht seinen Erwartungen entsprochen, war schlecht besucht, brachte allzu wenig ein. So hatte Mattia die Gelegenheit ergriffen und es an Lucilla übergeben, als diese das Interesse daran geäußert hatte. Die würden hier nie einen Job finden, hatte er damals zu seinem Vater gesagt, der es ungerecht fand, dass Lucilla außer der Wohnung auch das Internetcafé bekommen hatte. Das Internetcafé werde aber später an Mattia zurückgegeben, war das letzte Wort des Vaters, nachdem Lucilla versprochen hatte, ihr Studium nicht abzubrechen. Seitdem war Lucilla regelmäßig auf die Universität gegangen. Oft war sie nach Vorlesungen ins Internetcafé gekommen und bis zum Schluss geblieben, hatte gelernt oder Fabian geholfen, und manchmal hatte sie eine ihrer Freundinnen mitgebracht. Sie hatte sich gefreut, wenn er mit seinen Gästen plauderte, war glücklich, wenn er neue Freunde fand. Es war ihr großer Wunsch gewesen, dass ihre Heimat auch zu seiner Heimat werde.
Im Gastgarten wurden die meisten Tische frei, und Alfonso hätte sich auf eine Unterhaltung eingelassen, doch Fabian wünschte ihm einen schönen Tag und ging. Das kurze Gespräch mit Mattia beschäftigte ihn. Er fürchtete, dass Mattia bald wieder anrufen werde.
Ein Fußball rollte ihm entgegen. Kleine Buben schauten ihn an, ihre erhitzten Gesichter ließen merken, dass sie einem Spiel entrissen wurden. Er kickte den Ball zurück und sah zwei Polizisten, die auf der anderen Seite des Platzes standen. Nachdem die Buben ihr Spiel wieder aufgenommen hatten, lächelten die Polizisten. Dann wurde einer der Buben von einem Mann, vermutlich seinem Vater, der sich aus einem Fenster beugte, nachhause gerufen, und als es zwischen den beiden zu einem Streit kam, fingen die Polizisten an zu lachen. Auch Fabian hatte gern Fußball gespielt, als er noch ein Kind war, doch gestritten hatte er dabei nur mit seiner Mutter. Schon als Kind hatte er gewusst, dass er ihr keine Fragen über seinen Vater stellen durfte.
Um die Piazza Navona wurde es ruhig. Er kannte jedes Fenster und jede Ecke, seit Langem waren die Gassen hier sein Heimweg. Diesmal aber durchquerte er sie ohne Eile, verlangsamte sogar noch seine Schritte. Auf der Brücke über den Fluss blieb er schließlich stehen, um den Menschen, die am Ufer der Tiberinsel saßen, zuzusehen. Durch das Rauschen des Flusses waren ihre Stimmen nicht zu hören, selbst ihr Lachen blieb lautlos. Die Insel hatte Lucilla ihm gezeigt, es war am Tag nach jenem Fest, auf dem sie einander kennengelernt hatten. Es hatte genieselt, der Himmel war bedeckt, die Insel menschenleer. Lucilla war das erste Mädchen, das er geküsst hatte, und er würde nie vergessen können, wie sie dabei gelächelt hatte, weil sie es gespürt hatte. Er war damals zum ersten Mal in Rom, es war im Frühling, nach